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studierst ja Kunst. Ich habe ihm gesagt, dass ich den Ausflug sehr schön fand, da fing er an, dass er den Ausflug ganz fürchterlich fand. Ich fragte ihn warum, und er konnte gar nicht aufhören zu sagen, was er alles fürchterlich fand. Nicht an dem Ausflug. An mir. Wir hatten ausgemacht, hier zusammen Weihnachten zu feiern. Deswegen bin ich hier. Und allen meinen Freunden habe ich auch erzählt, dass ich nur vorgefahren bin und er nachkommt.«

      Nicht nur allen meinen Freunden, auch mir selber hatte ich das erzählt. Eigentlich war ich niemand, der sich Dinge einbildete, und doch hatte ich es geschafft, mir nach der Trennung von Milan einzubilden, dass ich mir das alles nur eingebildet hatte. Die letzte Zeit in Hamburg verbrachte ich wie in Trance, und nachdem ich ins Flugzeug gestiegen war, dachte ich, alles wäre wieder gut. Milan war noch nie auf Island gewesen. Hier würde alles anders sein.

      »Matilda will morgen früh mit mir zum Flughafen fahren, ihn abholen.«

      Mir fiel ein, dass die Künstlerin vorhatte, mein Geheimnis im SMS-Format zu verarbeiten, und ich verzichtete auf weitere Ausführungen, zumal gerade sehr laut Me And The Major von Belle & Sebastian lief. I want to dance, I want a drink of whiskey, so I forget the major and go up the town, because the snow is falling … Außerdem musste sie ja auch noch von anderen Leuten secrets sammeln. Merkwürdigerweise schien sie sich gar nichts notiert zu haben. Schließlich sagte sie:

      »So are you going to give me a cigarette then?«

      Ich gab ihr eine Zigarette. Sie war wirklich Studentin, allerdings nicht Kunst. Während sie noch die Zigarette rauchte, bot ich ihr eine zweite an, die sie lächelnd ablehnte. Als sie sich schon umdrehen wollte, fragte ich:

      »Gibt es in Manchester eine U-Bahn?«

      »Keine Ahnung, ich komme aus der Schweiz.«

      Ich traf Dagur auf der Tanzfläche; im Licht des Stroboskops schienen die Sterne auf seinem Betty-Ford-Clinic-T-Shirt immer heller zu leuchten. Er grinste mich an und sagte: »Ich habe gerade ein bisschen gekotzt.« Ich suchte Matilda. Noch hatte ich sie nicht belogen, zumindest nicht mehr, als ich mich selbst belogen hatte. Ich musste ihr sofort sagen, dass Milan mich verlassen hatte, doch sie war nirgendwo zu sehen. Ich verfluchte den nordenglischen U-Bahnfahrer.

      Was war mit der Musik los? Es lief I Thought You Were My Boyfriend von den Magnetic Fields, wie ich es hier schon oft gehört hatte, doch in die vertraute elektronische Ordnung mischte sich ein merkwürdiges Klappern. Dem Klappern folgte ein dudelsackähnliches Pfeifen, das zu einem schrillen Klingeln anschwoll. Das hatte es an diesem Ort, an dem ich ganze Nächte verbringen konnte, ohne ein Lied nicht zu mögen, noch nie gegeben. Auf der Tanzfläche erstarb jegliche Bewegung. Alle sahen sich an und griffen verwirrt zu ihren Getränken, sofern diese ihnen nicht von anderen angetrunkenen Gästen geklaut worden waren. Sogar die Gäste an der Bar wagten kaum, sich zu bewegen. Ich sah zum DJ-Pult. Dort stand ein dünner Mann, dessen schmächtige Schultern sich in den Tiefen eines ausgebeulten Samtjackets verloren. Er sah aus wie ein schlecht gelaunter Soziologiestudent, der sich stundenlang vor dem Spiegel auf verwahrlost stylte. Auf der Tafel hinter der Bar las ich: Special Appearance 2 AM: dj différance (Paris). In diesem Moment bemerkte ich, dass die Tanzfläche doch nicht vollkommen leer war: Eine Person warf begeistert ihre Arme und Beine so weit von sich, dass sie allein den Raum füllte: Matilda.

      Ich hatte sie noch nie so tanzen gesehen und erst recht nicht zu so einer Musik. Das war keine Musik, wie wir sie hörten. Nun begann dj différance auch noch, mit hoher Stimme französisch klingende Worte ins Mikrofon zu näseln – irgendetwas von amour. Dann schon lieber Simon, der U-Bahnfahrer! Natürlich müssen auch Clubs sich verändern. Ich war einmal auf einer Achtziger-Party in Berlin, wo nur Leute waren, die sich seit Ende der Achtziger nicht mehr für Popmusik interessierten und in den Neunzigern, als die Kinder aus dem Gröbsten raus waren, auf CD noch mal all das gekauft hatten, was sie ohnehin schon auf Platte besaßen. Sie trugen Doc Marten’s, schwarze Levi’s 501 und diese nach unten enger werdenden Lederjacken mit diagonal verlaufenden Reißverschlüssen, in der irrigen Annahme, das seien Klassiker und nicht einfach Klamotten, die zufällig in ihrer Jugend modern gewesen waren. Aber so ein Club war das gógó nicht. Das gógó ging mit der Zeit, ohne dazu eine Tanzbremse aus Paris zu brauchen. Warum trat er nicht in irgendeiner Einrichtung in Berlin oder Hamburg auf, an einem dieser Orte, wo kein Platz zum Tanzen war und die Musik trotzdem zu laut, um sich zu unterhalten? Warum stand nicht die ganze Besucherschaft auf, um ihn vom Pult zu vertreiben? Ich beschloss, mit Matilda den Anfang zu machen. Dazu musste sie aufhören zu tanzen. Ich hielt sie fest und brüllte ihr ins Ohr:

      »Wo ist der U-Bahnfahrer?«

      »Der wollte gar nicht knutschen und trinken, der wollte nur mit mir in sein Hotel. Da hab ich gesagt: ›Meet them in the club, leave them in the club.‹ Der versucht’s jetzt im NASA

      Wieder einmal hatte Matilda einer Sache von vornherein keine Chance gegeben. Auf einmal tat er mir leid. Simon, aus Manchester, der sich als U-Bahnfahrer ausgegeben hatte, um Matilda zu gefallen – auf der Skala der sexuell motivierten Verzweiflungstaten stand das sicherlich ganz weit oben.

      »Vielleicht wäre er ja doch ganz nett gewesen.«

      »Spinnst du?«

      »Wirklich.«

      »Das sagst du jetzt nur, weil ich nichts mehr von ihm will.«

      »Ich möchte mich mit dir über diese grauenhafte Musik beschweren«, sagte ich.

      »Was?«

      »Grauenhafte Musik. Beschweren«, sagte ich erneut, doch der Franzose drehte immer lauter auf, sodass das schmerzhaft schrille Klingeln in meinem Ohr einem dumpfen Pulsieren wich. Ich schleuderte eine Bierflasche in Richtung DJ-Pult; er duckte sich. Die Flasche traf den Plattenarm, es gab ein kurzes, quietschendes Geräusch, dann war es still. Einige klatschten.

      »Wir sollten uns beschweren«, sagte ich.

      »Magst du die Musik nicht?«

      »Ich habe gerade eine Bierflasche auf den DJ geworfen.«

      »Oh, habe ich gar nicht bemerkt«, sagte Matilda und fing sofort wieder an zu tanzen, als die Musik von neuem einsetzte. Ich schob mich Richtung Ausgang und sah Milan. Milan, wie er lachte. Milan, wie er sagte, ›ich mach jetzt Schluss‹, was er am Ende von jedem Telefongespräch gesagt hatte. Dann stand ich vor der Tür in frisch gefallenem Schnee.

      Ich traf Matilda später vor der Die Besten der Stadt-Hotdog-Bude am Hafen wieder, wo sie Schnee von den Autos fegte, was sie gerne tat, wenn sie betrunken war. Sogar der Parkplatz hing voll von elektrischen Kerzen und rot erleuchteten Weihnachtssternen. Ich hatte mir fest vorgenommen, ihr auf dem Weg nach Hause von Milan zu erzählen. Immerhin wollten wir am nächsten Morgen zum Flughafen fahren, und es war eigentlich eine gute Nachricht, dass wir nun ausschlafen konnten – der perfekte Anlass für mein überfälliges Geständnis.

      DIE ANKUNFT, DIE WAHRHEIT, DER ABEND, DIE NACHT

      Wir fuhren erst durch die Trabantenstädte, dann weiter geradeaus auf der in das Lavagestein gesprengten Nationalstraße zweiter Ordnung. Die Laternen legten ein milchig orangefarbenes Licht auf die Straße und einen schmalen Streifen des Gesteins, jenseits davon lag unbewohnte Dunkelheit. Es war halb zehn Uhr morgens.

      ›Er kommt nicht, er kommt nicht, er kommt nicht‹, musste ich mir sagen, denn wieder und wieder kam ein Rest Vorfreude in mir hoch, ließ mich schneller fahren, und ich dachte oder hoffte zumindest, dass nicht nur Milans Flugzeug in einer Viertelstunde käme, sondern auch er.

      Natürlich hatte ich Matilda nichts gesagt. Ich hätte an diesem Morgen einfach weitergeschlafen, aber Matilda weckte mich pünktlich. Sie sagte, ich sei in der Nacht zuvor im Taxi eingeschlafen, ich wusste nicht einmal mehr, dass wir in einem Taxi gewesen waren. Aus irgendeinem Grunde hatten wir bei mir geschlafen und unternahmen diese zwecklose Fahrt in meinem Auto. Matilda hatte eine gelbe Rose gekauft. Gelb war Milans Lieblingsfarbe. Ich hatte eine Plastikflasche mit ebenfalls gelber Appelsín-Limonade an einer Tankstelle gekauft. Die Flasche war schon fast

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