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von Minuten in Flammen stand, blieb das Feuer absolut still.

      Das inzwischen knöchelhoch auf dem Laugavegur stehende Löschwasser trug Hotdog-Tütchen, Colabecher und Zigarettenkippen davon. Eine Gruppe junger Männer in Jeans und beigebraunen Wolljacken stand neben uns auf dem Parkplatz herum, auch sie tranken Bier. Einer trat gegen einen der prallen Schläuche und sagte: »Wow.« Ich sah mich um. Hinter mir standen inzwischen mindestens hundert Schaulustige: hauptsächlich Ausgänger, aber auch einige der Pfandflaschen sammelnden Rentner und Asiaten, die sich sonst durch nichts von ihrer Mülleimerrunde abhalten ließen. Neben uns stand ein grauhaariger Mann in einem Fleecepullover, der starr in das Feuer blickte. Wenn ich ein Brandstifter wäre, dachte ich, hätte ich mich auch genau hierhin gestellt, denn aus dieser Perspektive sah man alles: die Flammen, die Feuerwehrmänner und die Polizisten, die von einem Leuchtstreifenbein auf das andere sprangen, um sich zu wärmen. Matilda sprach laut in ihr Telefon:

      »Daggi, endlich! Dein Haus brennt, Mann. Ich weiß auch nicht. Okay, bye!«

      »Was hat er gesagt?«, fragte ich.

      »Was soll er schon gesagt haben«, sagte Matilda. »Scheiße, hat er gesagt. Zum Teufel. Und fokk.«

      Dagur.

      Ich erinnerte mich nur dunkel an Dagur. Wahrscheinlich hätte ich ihn wie die meisten meiner Grundschulkameraden vollkommen vergessen, wäre er nicht der Sohn von Kjartan Benediktsson, Kjartan dem Reichen, gewesen. Kjartans Familie gehörte die Mýrar hf, die das isländische Wirtschaftsleben dominierte und aufgrund ihres weit verzweigten Firmennetzwerks von vielen ›der Krake‹ genannt wurde. Die Mýrar hf war der größte Lebensmittelproduzent des Landes, der größte Importeur von Autos, Benzin und Elektrogeräten, ein bedeutender Exporteur von Fisch, besaß Baufirmen, Reisebüros, mehrere Verlage und einen Fernsehsender. Schon in der Grundschule wusste jeder von Dagurs besonderer Herkunft, und er litt sehr darunter: Im Unterschied zu seiner jüngeren Schwester, die den Ruhm ihrer Familie täglich mit Herrinnenschritt zur Schule trug, schlich sich Dagur, meist ein paar Minuten zu spät, mit hängendem Kopf ins Klassenzimmer. Er erweckte immerfort den Eindruck, dass er sich für die Stellung seiner Familie schämte, was dazu führte, dass die gesamte Schülerschaft auf ihm herumhackte, während niemand gegen seine Schwester auch nur ein Wort sagte.

      Seit unserer Grundschulzeit hatte ich Dagur nicht mehr gesehen. Trotzdem erkannte ich ihn sofort, als ich ihn nun zu seinem brennenden Haus rennen sah. Dagur war nicht besonders groß geworden; seine langen Haare waren zu blonden Dreadlocks verfilzt, die wild auf- und absprangen. Er hielt mit beiden Händen seine weite Jeans fest und trug einen Pullover mit der Aufschrift Vöfluvagninn. Das erklärte, warum er so schnell hier war, denn der Waffelwagen, an dem tagsüber Kinder und nachts betrunkene Kinder Waffeln mit Eis kauften, stand keine zwei Minuten entfernt auf dem Lækjatorg. Matilda wollte ihm etwas zurufen, doch er würdigte uns keines Blickes, zerriss wie ein Langstreckenläufer beim Zieleinlauf das gelbe Absperrband, schubste einen Feuerwehrmann aus dem Weg und griff sich ein Atemschutzgerät. Ein Polizist kam angerannt, doch da war Dagur schon in dem Haus verschwunden.

      Kurze Zeit später erschien er in einem Fenster im ersten Stock. Ein dicker Aktenordner flog heraus und verfehlte nur knapp den Kopf eines Feuerwehrmanns. Bald standen die Einsatzkräfte in einem Regen von Videokassetten und Kleidungsstücken. Sogar CDs warf Dagur aus dem Fenster, deren Hüllen beim Aufprall aufplatzten und ihren glänzenden Inhalt freigaben. Es war ein kurzer, heftiger Regen, dann war Dagur, ebenso plötzlich wie er in dem Fenster aufgetaucht war, wieder verschwunden. Unter den Schaulustigen um uns herum waren die Gespräche verstummt.

      Dagur tauchte in demselben Fenster wieder auf. Er hatte eine Kiste auf das Fensterbrett gestellt, die nur wenig kleiner war als ein Mineralwasserkasten. Sie schwankte hin und her, Dagur sah unschlüssig herunter. Die Feuerwehrleute riefen etwas zu ihm hinauf, das ich nicht verstand. Da rannte ich an dem Polizisten vorbei, der einen Moment zu spät reagierte, um mich festhalten zu können, rannte bis unter das Fenster und streckte die Arme aus. Dagur ließ die Kiste los, die in der Luft eine halbe Drehung vollführte, bevor ich sie auffing. Ich knickte in den Knien ein und verlor fast das Gleichgewicht. Eine Sekunde lang dachte ich, ich hätte mir die Arme gebrochen, so stark war der Schmerz. Als ich wieder hinaufsah, war Dagur fort. Der Feuerwehrmann auf der Drehleiter über mir spritzte in ein Fenster, dann in ein anderes. Ein Polizist packte mich an einem der schmerzenden Arme. Ich sah ihn an, als er mich plötzlich losließ und herumfuhr. Die Menge der Schaulustigen klatschte, johlte, pfiff – Dagur stand vor dem Haus! Er schmiss die Atemschutzmontur von sich wie ein Rockstar seine Gitarre und begann, seine Sachen zusammenzusuchen. Die Menge jubelte weiter, der Polizist schrie etwas von Einsatzbehinderung und Nötigung, doch Dagur hörte nicht zu. Schon nicht mehr ganz so laut rief der Polizist, dass er ihn eigentlich verhaften müsse, doch da hatte Dagur seine CDs, Kleidungsstücke, Aktenordner und Videokassetten bereits aufgehoben und zog sich hinter die Absperrung zurück. Ich folgte ihm.

      »Ja, ja«, sagte er.

      »Wichtige Sachen, was?«, fragte ich. Dagur nickte und hustete. Ich stellte die Kiste vor ihm ab und wollte sie öffnen, da schob Dagur mich so unsanft zu Seite, dass ich ihn erstaunt ansah.

      »Kennst du Lárus noch?«, fragte Matilda.

      »Nein.«

      »Er war mit uns in der Grundschule und ist dann nach Deutschland.«

      »So was«, sagte er und sah mich an. »Lalli.« Er wischte seine rußverschmierten Hände an der Jeans ab.

      »Lárus«, sagte ich.

      »Lalli. Lalli skaggi!«

      »Lárus!«, sagte ich erneut.

      »Lalli skaggi«, wiederholte Dagur, und Matilda konnte das Grinsen, das ich ihr streng verboten hatte, nicht unterdrücken. Ich hatte gehofft, dass alle die ›Lalli skaggi‹-Episode meines Lebens vergessen hatten, ja, ich hatte sogar selber versucht, die ›Lalli skaggi‹-Episode meines Lebens zu vergessen. Fast hatte ich schon gedacht, es wäre mir gelungen, aber ich erinnerte mich natürlich ganz genau.

      Es war so, dass ich, nachdem ich eingeschult wurde, vorgab, gehbehindert zu sein. Morgens hüpfte ich noch gleichmäßigen Schritts die Betontreppe am Eingang unseres Hauses herunter, doch sobald das Fenster zur Küche außer Sicht war, in der meine Mutter stundenlang Sachen hin- und herräumte und in der es trotzdem immer unordentlich war, fing ich an zu humpeln. Irgendwie schien das zur Schule zu passen. Mich verwirrten die vielen anderen Kinder. Einige ärgerten mich, riefen ›Lalli skaggi‹, ›Lalli, der Schiefe‹, was wiederum Jónína, die Lehrerin, ärgerte, die mich in Schutz nahm, was wiederum Valdimar ›Valli‹ Hermansson und Böddi Jónsson dazu verführte, mich nach der Schule noch mehr zu ärgern. Bald kloppte ich mich fast regelmäßig mit den beiden. Ich hatte nie eine Chance, konnte aber auch nicht weglaufen, weil ich ja humpelte. Ich kam nicht auf die Idee, von meiner vorgespielten Behinderung zu lassen, denn da ich die anderen Kinder nicht mochte, erschien es mir nur logisch, dass sie mich ärgerten und ich mich mit ihnen schlug. Einige andere bemitleideten mich – das war auch gut. Hauptsache, jeder wusste, wer ich war.

      Natürlich konnte dieser emotionale Subventionsbetrug auf Dauer nicht gut gehen. Nach einem halben Jahr rannte der Dobermann einer Klassenkameradin quer über den Schulhof auf mich zu, bellte sein grabestiefes Bellen, und ich lief weg, so schnell ich konnte.

      Die Schmach war groß.

      Dass sich nun ausgerechnet Dagur daran erinnerte, der damals auch noch ein Kind gewesen war, erschreckte mich um so mehr. Was mussten dann erst die wissen, die damals schon erwachsen waren?

      Dagur zog nachdenklich die Nase hoch und strich sich mit beiden Zeigefingern den Schweiß aus den blonden Augenbrauen. Dann sah er mich an. Seine Augen waren blau und seine Zähne sehr weiß in dem rußgeschwärzten Gesicht.

      »Wer kauft mir was zu trinken? Ich bin total abgebrannt.«

      Bevor wir ins kaffi gógó gingen, brachte Dagur seine Sachen zu seinem Auto. Irgendwoher hatte er zwei Plastiktüten genommen, in die er die Kleidungsstücke und CDs gestopft hatte, die er aus dem brennenden Haus auf die Straße geschmissen hatte. Obwohl er kaum alles tragen konnte, gab er nichts aus der Hand. Als

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