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      »Das ist Lárus. Das ist Simon.« Ich drückte eine Hand und sah in zwei nah beieinander stehende Augen, weit über mir. »Du glaubst es nicht«, sagte Matilda zu mir: »Er ist U-Bahnfahrer. Aus Manchester. Das ist so aufregend!«

      Sie drückte Simon einen Kuss auf sein säuerliches Lächeln.

      »Das glaubst du dem doch nicht!«

      »Warum nicht?«

      »Man trifft keine U-Bahnfahrer beim Tanzen.«

      »Die fahren doch auch mal in Urlaub.«

      »Der will doch nur Eindruck schinden, weil er weiß, dass es hier auf Island keine U-Bahn gibt.«

      »Sieht er nicht gut aus?«

      »Er sieht überhaupt nicht wie ein U-Bahnfahrer aus.«

      »Wie sehen denn U-Bahnfahrer aus?«

      »Der ist noch nicht mal blass«, sagte ich und wandte mich an Dagur. «Oder was meinst du?«

      »Hör nicht auf ihn«, sagte Matilda zu Dagur. »Der ist eh tot.« Sie lachte.

      »Was?«

      »Lárus ist durch irgendeinen blöden Computerfehler im Einwohnerverzeichnis als tot eingetragen.«

      Dagurs Miene verfinsterte sich.

      »Aber … hast du …«

      »Was?«

      »Nichts.«

      »Habe ich was?«

      »Nichts!«, sagte Dagur.

      »Jungs, bis später«, sagte Matilda und zog den angeblichen U-Bahn-Fahrer hinter sich her auf die Tanzfläche.

      »Solche Computerfehler gibt es nicht«, sagte Dagur.

      »Offensichtlich schon. Ich bin der Beweis. Der lebende Beweis.«

      »Das hat jemand absichtlich gemacht.«

      »Wer sollte das denn können?«

      »Meine Familie zum Beispiel«, sagte Dagur, und ich war mir nicht sicher, ob das Hass war in seinem Blick, Angst oder nur ein Widerschein des Gins.

      »Ich kenne deine Familie noch nicht mal.«

      »Aber die kennen dich vielleicht.«

      Ich hatte keine Lust mehr. Ich kannte solche Leute. Es bereitete ihnen Vergnügen, sich mit der dämonischen Aura eines Geheimnisträgers zu umgeben. Oft waren es die verschrobensten Leute, die so etwas taten, vielleicht in der Hoffnung, man würde dann ihre Kommunikationsunfähigkeit für tiefen Einblick halten, in Sphären, die normalen Menschen verborgen blieben. Ich dachte an seine schubsende Schwester, seinen reichen Vater und die Ausgabe der Saga von Egill Skallagrímsson im Schneematsch.

      Weil mein Bierglas leer und es an der Bar inzwischen voll geworden war, nahm ich das halb volle Glas eines Jungen, der gerade seine Freundin küsste. Dann entdeckte ich Maggi Frímannsson. Maggi war einer der besten Kreisläufer Europas und spielte beim THW Kiel in der Handballbundesliga. Früher bin ich manchmal von Hamburg aus hingefahren und habe mir angesehen, wie er mit dem in seiner Wurfhand klein wirkenden Ball durch die Gegend flog. Danach haben wir uns oft zusammen ins Böll gesetzt. Wie üblich hatte Maggi Frímannsson eine neue Freundin. Maggi Frímannsson hatte immer eine neue Freundin. Diesmal war sie nicht viel größer als einssechzig, saß auf dem Schoß des fast zwei Meter großen Maggi und sah so unbeteiligt in die Gegend wie die Puppe eines Bauchredners. Dazu rauchte sie, während Maggi sie verliebt ansah. Ich wollte wegsehen, konnte es aber nicht. Maggi war wieder einmal dabei, es sehr ernst zu meinen. Dann würde es so laufen wie immer: In ein paar Wochen würde sie von Trennung sprechen, er würde versuchen, ihr alles recht zu machen und dabei nichts richtig machen. Er würde Mengenrabatt beim Blumenhändler bekommen und seine ganze Liebe ausschütten auf den Grabbeltisch der Gefühle, bis sie alles so billig bekam, dass sie es ohne schlechtes Gewissen wegwerfen konnte. Jedes Wochenende, an dem er nicht in Kiel oder sonstwo in Deutschland versuchte, die Verteidigungskette der gegnerischen Mannschaft zu durchbrechen, flog er nach Island, warf sich ins Reykjavíker Nachtleben und verliebte sich so sehr, dass er aufhörte zu schlafen, nachts mit 180 über die Landstraßen donnerte, morgens zwei Stunden joggte und Tabletten gegen die Muskelschmerzen nahm. Für eine Frau nach der anderen gab er alles und ging dabei regelmäßig zu Boden. Doch Maggi Frímannsson, Spitzensportler, der er war, stand wieder auf. Bei den meisten Frauen auf Island war sein Ruf ruiniert, und wenn man seinen Ruf hier einmal ruiniert hatte, war es eigentlich zu spät. Doch es gab auch viele, die Respekt vor Maggi hatten, weil er nicht zynisch wurde, viele, die sich fragten, wo er diese ganze Liebe überhaupt hernahm.

      Maggi hatte mich entdeckt, und ich prostete ihm zu. Er hatte einmal gehofft, ich könnte ihn mit Matilda zusammenbringen, aber ich habe es gar nicht erst versucht. Weder er noch ich brachten mehr als ein halbes Lächeln zustande. Er wusste, was ich dachte, ich hatte es ihm oft genug gesagt, im Böll in Kiel. Maggi ließ sein kleinwüchsiges Stimmungstief allein und steuerte mit verzweifelter Entschlossenheit und gezücktem Portemonnaie in Richtung Bar. Er holte sich einen neuen Campari – nicht einmal sein Lieblingsgetränk passte zu ihm. Ich nahm ein weiteres verwaistes Bier von einem Tisch und ging hinüber zu seiner Freundin.

      »Ich bin ein Freund von Maggi. Lárus«, sagte ich.

      »Hallo«, sagte sie.

      »Und du?«

      »Birna«, sagte sie, nahm eine neue Zigarette und starrte so lange in den Deckel der Schachtel, als sei dort ein Schminkspiegel. Ich wollte sie bitten, ihm eine faire Chance zu geben, es nicht so zu machen wie alle. Maggi war zwar ein Frauenheld, aber ein Frauenheld wider Willen. Er wollte eigentlich nur eine, die bei ihm blieb. »Du wirst schon sehen, Birna, dass auch du nett sein kannst, Maggi kann es dir zeigen«, wollte ich sagen und dass es falsch sei, sich von jemandem zu trennen, nur weil er zu sehr liebte, man durfte das nicht tun, man musste auch chronisch hingebungsvollen Menschen eine Chance geben, gerade ihnen, denn sie hatten es schwer genug – aber sie sah mich nicht an.

      Ich tanzte und bemerkte, dass mir schwindelig war. Den holzigen Geschmack des Gins hatte ich auch nach dem dritten Bier noch im Mund. Dann bemerkte ich, dass ein Mädchen in einem Kleid vor mir stand, ihre dünnen Arme auf und ab bewegte und offensichtlich schon seit einigen Sekunden mit mir redete.

      »Was?« fragte ich.

      »English«, sagte sie.

      »Yes«, sagte ich.

      »Do you have a secret for me?«

      »What?«

      »A secret!«

      Sie machte mit der einen Hand eine Geste. In der anderen Hand hielt sie ihr Telefon. Ich stellte mir vor, dass sie Kunst studierte, durch das Nachtleben der westlichen Welt zog und Leute nach ihren Geheimnissen fragte, um sie dann in einer Installation zu verwenden. Ich überlegte, ob sie die Geheimnisse der Nachtlebenmenschen in ihrem Telefon speicherte oder gleich verschickte; vielleicht war die Installation auch schon installiert, dann würde man das, was ich ihr jetzt sagte, in einigen Minuten irgendwo in England lesen können. Ich hätte ihr von der ›Lalli skaggi‹-Episode erzählen können, doch das war kein Geheimnis, sondern nur etwas, das ich erlebt und vergessen hatte, ohne es vergessen zu können; ich glaube, man sagt dazu ›verdrängt‹.

      Das Kleid der Künstlerin war schwarz und hochgeschlossen. Es hatte etwas von einer Beichtsituation, und doch wirkte sie irgendwie naiv. Plötzlich wollte ich nichts mehr als ihr die Wahrheit sagen. Die unausweichliche Wahrheit:

      »Morgen fahre ich zum Flughafen und hole meinen Freund ab, der aus Hamburg kommt, um mit mir Weihnachten zu feiern«, sagte ich. »Dabei hat er mit mir Schluss gemacht. Er wird nicht kommen.«

      Sie sah mich verwundert an und blickte dann auf ihr Telefon, das sie auf mich richtete, als sei es ein Trikorder aus Raumschiff Enterprise und ich eine merkwürdige, elektronisch abzutastende Lebensform. Dann sagte sie:

      »Oh.«

      »Wir haben einen Ausflug

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