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Wagen durch die Esel, Karren und Motorräder. Auf dem Dach eines überfüllten Busses vor uns sitzt ein Junge in meinem Alter. Er sieht so aus, als wäre er schon lange unterwegs. Da würde ich jetzt auch gerne sitzen.

      Als wir von der Hauptstraße abbiegen, deutet Behrooz auf den Rück sitz. »Meine Tochter Elham kommt heute ausnahmsweise mit uns.«

      Ein kleines Mädchen, höchstens zehn, taucht unter einer Wolldecke auf. Sie lehnt sich zwischen die Vordersitze, wirft sich ihren gelben Blümchenschal über die Schulter und verschränkt die Arme. Die Augenbrauen sind vor Wut zusammengezogen, ihr Blick fegt an mir vorbei durch die Windschutzscheibe, selbst ihr Haar scheint erzürnt. »Ich hasse es, hinten zu sitzen! Wenn mir schlecht wird, ist es deine Schuld, Sameer«, schimpft sie.

      Ich überlege, was ich darauf sagen soll, aber Behrooz kommt mir zuvor. »Elham-joon, sei nett zu Sameer. Ich habe eine Überraschung für dich, mein Schatz. Du wirst es nicht bereuen, deinen Thron aufgegeben zu haben.« Behrooz hält vor einem Markt und steigt aus. »Ich komme gleich wieder.«

      »Warum trägst du diese schwarze Klappe über dem Auge?«, fragt Elham.

      »Ich bin hingefallen und habe mir wehgetan.«

      »Damit siehst du irgendwie gefährlich aus«, sagt sie. »Aber die vielen Punkte in deinem Gesicht, die sind lustig. Hast du schon mal versucht, sie zu zählen?«

      »Was soll ich zählen?«

      »Die Punkte, Sameer-jan! Es sind so viele. Es gibt gar nicht genug Zahlen auf der Welt, um sie alle zu zählen. Leben sie unter der Augenklappe und kommen nur raus, wenn die Sonne scheint? Wie Ameisen?« Sie rückt näher und kneift die Augen zusammen.

      »Sie waren schon immer da und bewegen sich nicht. Das sind Sommersprossen.«

      Elham zuckt mit den Schultern. »Vielleicht verschwinden sie nachts, wenn du schläfst, ohne dass du es merkst. Kann ich sie anfassen?«

      Ich weiche ihren Fingern aus.

      »Bei Sternen ist es umgekehrt, die sieht man nur, wenn es dunkel wird. Sterne sind die Sommersprossen der Nacht.«

      So habe ich es noch nie betrachtet.

      »Siehst du, es stimmt! Mein Papa sagt, du wirst Englisch lernen.«

      »Ja.«

      »Warum?«

      »Es ist Hasir-saybs Wille. Englisch ist die Sprache der Zukunft.«

      »Warum lernst du nicht die Sprache der Franzosen?«

      »Weiß nicht. Das hat der Onkel entschieden.«

      »Warum wohnst du nicht bei deinem Onkel?«

      »Weiß ich auch nicht.«

      »Du weißt ja gar nichts, Sameer-jan. Lernt ihr nichts in der Schule?«

      Elham scheinen die Fragen nie auszugehen.

      Behrooz kommt zurück mit zwei kleinen Päckchen.

      »Babba!« Elham strahlt.

      Er gibt uns je ein Päckchen, das Papier ist überraschend kalt. Elham stupst mich an. »Das ist kulfi, das Leckerste, was es auf der ganzen Welt zu essen gibt.«

      Sie faltet das Papier auseinander und bringt eine mit Pistazien verzierte Süßigkeit zum Vorschein. Sie hebt das Papier zum Mund und schleckt die Masse in die Form eines Berges.

      Ich koste vorsichtig. Eiskaltes Süß zerfließt auf meiner Zunge, der Geschmack von würzigem Kardamom zieht sich durch eine milchige Creme und knusprige Pistazien knacken zwischen den Zähnen. Ich esse langsam, ich will, dass der kostbare Geschmack anhält. Vielleicht werde ich doch Englisch lernen. Vielleicht wird Allah mich doch eines Tages in der Luft halten wie ein Vogel.

      »Wie ist das, wenn man keine Eltern hat, Sameer-jan?«, fragt Elham mit vollem Mund, kleine Milchblasen explodieren in ihren Mundwinkeln.

      »Lass den Jungen in Ruhe sein Kulfi essen, Elham«, sagt Behrooz und wendet sich an mich. »Sie ist ein gutes Mädchen, aber sie weiß nicht, was sie redet. Keine Manieren.«

      Ich habe keine Ahnung, warum sich Behrooz bei mir entschuldigt.

      Für einen Moment widmet Elham sich ganz dem Genuss der gefrorenen Süßspeise. Als sie fertig ist, beugt sie sich wieder zwischen den Sitzen vor.

      »Vielleicht ist Sameer froh, dass er keinen Papa hat, mit dem er die ganze Zeit streiten muss wie ich! Mama will auch wissen, wie das ist ohne Eltern. Hat sie gesagt!«

      Behrooz wird Elham schelten für ihre Respektlosigkeit.

      »Also, Babba, erklär mir das mal.« Elhams kulfiverschmiertes Gesicht kommt mir ganz nah.

      »Sameer-jan ist traurig, weil er keinen Vater hat, der mit ihm zum Stand fährt und ihm Kulfi kauft«, sagt Behrooz.

      Das leuchtet ein, aber ich kann mir nicht erlauben, Partei zu ergreifen.

      »Sameer braucht keinen Vater. Er hat einen reichen Onkel. Hat Mama gesagt! Und jedes Mal, wenn du ihn zum Englischlehrer fährst, wirst du ihm Kulfi kaufen. Das ist Logik, hast du mir beigebracht.«

      »Das ist eine Betrachtungsweise, aber bei Weitem nicht die einzige, mein Schatz.«

      Elham bemerkt, dass auf dem Papier in meiner Hand nur noch eine kleine Pfütze übrig ist. »Was ist denn los, Sameer? Magst du dein Kulfi nicht? Es ist ja schon geschmolzen.«

      »Ich mag es sogar sehr, aber du magst es, glaube ich, noch viel lieber, Elham-joon. Möchtest du den Rest haben?«

      Nach kurzem Zögern nimmt Elham das Angebot mit gespitz-ten Lippen an, saugt das zerflossene Eis auf und leckt das Papier sauber.

      Behrooz schüttelt den Kopf. »Ich glaube, du hast recht, Elham. Ich glaube, Sameer ist ganz froh, dass ich nicht sein Vater bin. Das würde nämlich heißen, dass er jemanden wie dich als Schwester hätte. Eine gierige Person, die nur an sich selbst denkt und ihrem Bruder alles wegnimmt«, sagt Behrooz und hebt den Finger. »Du hast mich schon verstanden, Elham, du bist ein freches, gieriges Mädchen!«

      Elham kichert erst, ihre Augen funkeln, und dann lacht sie von ganzem Herzen. Ich hoffe, dass sie über mich lacht, nicht über Behrooz, und dass er das weiß. Das Lachen kommt tief aus dem Inneren, sie schüttelt sich, und ihre Haare tanzen. Erst als sie keuchend Luft holt, merke ich, dass ich die ganze Zeit mitgelacht habe.

      Das Gerüst eines ehemaligen Firmenschildes steht wie ein Skelett auf dem Gebäude, die Schaufenster sind mit Brettern vernagelt. Das ist also das Sabari Studio. Es existiert wirklich.

      Als Murtaza Sabari an der vergitterten Tür erscheint, erkenne ich ihn sofort wieder. Er ist ein vornehmer Mann, er hinkt kaum merklich, seine Prothese klickt beim Gehen unter den feinen Kleidern. Einmal hat er uns in der Schule fotografiert. Alle waren ganz aufgeregt, aber am Ende bekamen wir das Foto nie zu sehen. Als Irfahn danach fragte, tat Mullah Usmeen so, als hätte er es sich eingebildet, für einen Moment war ich mir selbst nicht mehr sicher.

      »Salaam!« Murtaza lispelt. Seine Augen blitzen vor Neugierde, Falten schießen aus den Winkeln. Er bittet uns herein und tauscht mit Behrooz Höflichkeiten aus.

      Drinnen prangt die Panoramaaufnahme einer Wüstenlandschaft an der Wand. Elham reckt sich zu dem Kamel hinauf, dessen Kiefer zu einem schiefen Grinsen verzogen ist. Sie streicht über das Foto. »Ich will auf einem Kamel reiten! Dein Onkel ist so reich, Sameer, er soll dir eins kaufen. Aber warum wohnst du in einem Waisenhaus wie ein Bettler?«

      »Sprich nicht so, Elham-joon«, warnt Behrooz. »Wir fahren jetzt.«

      »Warum kann ich nicht mit Sameer Englisch lernen? Ich will auch Englisch lernen. Babba!«

      Behrooz zerrt sie nach draußen. Er verspricht, mich in ein paar Stunden abzuholen.

      »Beeindruckendes Mädchen«, sagt Murtaza, als er das Tor hinter ihnen schließt. »Bald wird auch sie die Welt nur noch durch ein Gitter aus blauem Nylon sehen dürfen.« Er lässt sich auf einem Polster

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