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diese Bilder!«

      Du hast sie seit Jahren nicht mehr angesehen. Die Fotos wirken wie eine Reportage aus dem Life-Magazine, dabei hat sie ein Teenager, Murtaza Sabari, aufgenommen. Murtazas Teleobjektiv ist ganz nah an die angestrengten Gesichter der Chapandaz herangekommen, die Mähnen der Pferde wie stürmische Pinselstriche, das Gebirge samtig in der Ferne. Dein Vater hat das Wunderkind der Sabari Studios oft beschäftigt, nachdem dessen Clan bei einem sowjetischen Luftangriff ausgelöscht wurde. Murtaza überlebte, verlor allerdings ein Bein. Du fragst dich, was wohl unter den Taliban aus dem Studio geworden ist.

      »Das bist du, oder?« Inès zeigt auf das Bild eines Jungen, der aus einem roten Skianorak hervorgrinst. Deine kleine Schwester Uzma verzieht keine Miene. Dein Vater wollte sie zuerst nicht mitnehmen, es sei ein Männersport, aber Uzma konnte sich schon als Kind immer durchsetzen. Seine Hand liegt auf ihrer Schulter. Er trägt den Siegelring mit dem eingravierten Halbmond, den du nach seinem Tod in einer Schachtel gefunden und dir an den Finger gesteckt hast. Inès blickt auf deine Hand, die an dem Ring herumspielt.

      »Buzkashi klingt eher japanisch.«

      Buzkashi sei ein primitiver Sport, das Gegenteil japanischen Feinsinns. Japaner würden sogar Sterben zur Kunstform stilisieren. Melancholie, Verfall und Vergänglichkeit würden dort als wesent licher Bestandteil des kreativen Schaffens und der Wahrnehmung von Kunst verstanden. Afghanistan hingegen serviere einem Leben und Tod mit der rohen Axt eines Schlachters, alles sei der Brutalität der Natur und den endlosen Kriegen unterworfen. Afghanistans Erde ist mit Blut getränkt. Sogar die Äpfel schmecken nach Fleisch.

      Du spürst ein Pulsieren an der Stelle, wo sich eure Schultern berühren. Ihre Augen so nah, ihr Atem auf deiner Haut. Unerreichbar. Du wünschtest, sie würde aufhören, in deiner Vergangenheit her umzuwühlen, und fürchtest zugleich, sie würde sich mit dem Hasir der Gegenwart langweilen.

      Wo sie herkäme?

      »Herkunft ist nicht alles.«

      Sie hat keine Ahnung von der Last eines Vaterlandes, beneidenswert.

      »Warum hast du Afghanistan verlassen?«

      Du hättest eine andere Kultur gesucht, um dich zu entfalten. Du hast dich mit den französischen Modegöttern befasst, mit den Künsten, der Politik, der Philosophie und dich vor allem im Dunkel der Kinos verzaubern lassen. Du genießt die Küche und bist sogar ihrer Akzent-, Zirkumflex-, und Cédille-befallenen Sprache Herr ge worden.

      »Du bist lustig, Hasir.«

      Zum ersten Mal in deinem Leben gibst du zu, dass du fast geweint hast, als du endlich den Pass der Grande Nation in deinen Händen gehalten hast. Die Arabesken des Stils, der Klasse und Verführung hättest du trotzdem nie ganz gemeistert. Obwohl du es lange versucht hast. Du wolltest französischer werden als die Franzosen.

      Bei Gott, und wie du es versucht hast!

      »Sssccchhhh! Hasir mit Hhhaasssccchhh!«

      Inès’ Hände schlängeln sich durch die Oud-Schwaden, bis ein Finger auf deinen Lippen landet.

      Eine einzige Geste, ein Sssccchhhh, und der Fluch des Unvermögens ist gebrochen.

      SAMEER

      KABUL

      MEIN AUGE IST SCHLIMMER GEWORDEN, immerhin pocht es nicht mehr so, vielleicht bin ich nur zu schwach, um noch etwas zu spüren. Ameisen klettern über mein Fladenbrot. Irfahn schnappt es sich. Es ist mir egal, ich bekomme ohnehin keinen Bissen herunter. Nachts schwitze ich fiebrig, als sei ich schon in der Hölle. Einmal kam AliAli mich besuchen, er schwebte, durchsichtig wie die abgestoßene Haut der Schlange, lächelte, dann drehte er sich weg und verschwand wieder im Dunkel.

      Tagsüber fröstelt mich, obwohl dies ein besonders heißer Sommer sein soll. Ich schließe auch mein heiles Auge, die gleißende Sonne scheint mir auf die Lider und bringt die Adern, die sich darin fein wie die Triebe der Zedern verästeln, zum Glühen.

      Draußen im Hof poltert plötzlich die Stimme Hasir-saybs. Ich wusste gar nicht, dass er kommt. »Wo ist der Junge? Ich will ihn sofort sehen!« Der Onkel aus Paris klingt verärgert.

      »Hasir-sayb, welche Ehre! Wir sind auf Ihren Besuch nicht vorbereitet.« Mullah Usmeen versucht, den Onkel zu besänftigen. Vergeblich.

      »Wo steckt er denn?«

      Alle im Klassenzimmer halten den Atem an. Der Lehrer schaut mich besorgt an. So spricht man nicht mit Mullah Usmeen. Er wird dem Onkel alles erzählen. Er wird ihm sagen, dass ich den Streit mit Irfahn angefangen habe. Dass Irfahn mich als den Sohn eines sowjetischen Dreckschweins beschimpft hat, wird er verschweigen. Der Mullah wird ihm verraten, dass wir den Frauen im Nachbarhaus beim Baden zugesehen haben, durch den Spalt. Der mit dem verkrüppelten Arm und der Dicken, deren Bauch über ihren haarigen Schritt hing. Wahrscheinlich weiß der Mullah auch, dass ich mich nachts selbst anfasse, bis meine Schlange ihr weißes Gift speit.

      Er wird ihm sagen, dass ich behauptet habe, der Onkel aus Paris sei wirklich mein Onkel. Obwohl jeder weiß, dass er nur ein guter Muslim ist, der die fünf Säulen des Islam beachtet und uns Waisen Almosen gibt. Der Lehrer wischt mir mit dem Ärmel übers Gesicht, rückt die Takke zurecht und zerrt mich in den Hof. Jetzt werde ich auch noch dem Onkel aus Paris Schande bringen. Gnade!

      Hasir-sayb steht wie ein Kinoheld vor einem weißen Toyota. Er trägt westliche Kleidung und streicht sich selbstbewusst das Haar aus dem glatt rasierten Gesicht. Sein Begleiter Behrooz dagegen, ein Berg von einem Mann, trägt einen stolzen Bart, die Spitzen noch rot vom Henna der Hajj, und schnippt mit seiner Gebetskette.

      Als der Onkel mich sieht, spricht er plötzlich ganz leise. »Was ist denn mit dem Auge passiert? Ist er verprügelt worden? Ich zahle jedes Jahr Millionen von Rupien, um den Jungen zu ernähren, einzukleiden und ihn in die Schule zu schicken, genug, um das ganze Waisenhaus zu betreiben. Da komme ich einmal unerwartet und finde den Bengel abgemagert, schmutzig und krank.«

      Mullah Usmeen verbeugt sich nervös. »Wir haben Sameer zum Schlangenbeschwörer gebracht, aber das Tier war verstorben. Hier wird niemand geschlagen, das ist ein zivilisierter Ort.«

      Der Onkel schnalzt verächtlich mit der Zunge. »Ich halte Schlangenbeschwören nicht für ein Zeichen von Zivilisation.«

      »Hasir-sayb, die Buben sind ungestüm in diesem Alter«, sagt der Mullah. »Er muss ausgerutscht sein.«

      Ich sollte diese Lüge bestätigen, behaupten, ich sei hingefallen. Sonst bekommt der Mullah nur Probleme. Es ist zwar gelogen, doch auch in der Wahrheit lauert Sünde.

      Der Onkel beugt sich zu mir, ich erwarte eine Ohrfeige, aber er deutet nur auf mein Gesicht. »Das Auge ist total vereitert!« sagt er angewidert.

      Mir wird schwindlig, der staubige Boden verschwimmt, als der Onkel mich an sich reißt und ganz fest in die Arme nimmt. Sein feines Hemd riecht wie frisch gehacktes Holz und die Berge nach dem Regen. »Ihr solltet euch schämen. Er ist doch noch ein Kind.«

      »Hasir-sayb, ich bitte Sie. Wir tun, was wir können«, sagt der Mullah.

      Ich versuche, mich so still wie möglich zu halten. Dann werden die Stimmen auf einmal leiser, und der Boden gibt nach. Fühlt sich so Sterben an?

      Eine grelle Lampe blendet mich. »Da bist du ja wieder, Sameer-jan! Geht es dir besser?« Ein Doktor hilft mir beim Aufsetzen. Auf seiner Glatze sprießen nur wenige Haare. »Schau meinem Finger nach«, sagt er und bewegt diesen nach rechts. »Stillhalten.« Ein kurzes Stechen im linken Auge taucht alles in Rot. Erleichterung. Der Druck lässt nach, und es öffnet sich. Ich kann wieder mit beiden Augen sehen! Der Doktor tupft mit einem Wattebausch blutigen Eiter weg. Jemand streicht mir über den Rücken.

      »Du bist sehr tapfer, Sameer-jan!«, sagt der Arzt. Wahrscheinlich will er sich nur bei Hasir-sayb einschmeicheln. »Wir werden dich wieder gesund machen. Wie alt bist du? Zehn?«

      »Ich bin dreizehn«, sage ich wahrheitsgetreu.

      Der Doktor seufzt. »Der Junge

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