Скачать книгу

aber es hat mein Leben verändert auf eine Weise, die ich mir nie hätte erträumen können. Sprachen lassen einen die Welt entdecken, noch tiefgreifender als Bilder. Das Beste an Sprache ist, dass sie nicht greifbar ist, sondern in den Gedanken ein abstraktes Eigenleben entwickelt.«

      Was meint er wohl damit? Ich frage lieber nicht, ich möchte, dass Murtaza Sabari gut über mich denkt.

      »Abstrakt ist alles, was du nicht mit den Händen anfassen kannst, das Gegenteil von greifbar oder konkret. Diese Tasse oder mein Bein zum Beispiel sind greifbar. Furcht oder unser Glaube dagegen sind abstrakt. Trotzdem kann Abstraktes in unseren Gedanken sehr real sein, manchmal sogar realer als diese Beinprothese hier.«

      Murtaza sieht mir meine abstrakten, unreinen Gedanken sicher an. Sie werden ihm preisgeben, dass ich gestohlenes Geld in den Taschen habe, dass ich weglaufen will und mehr Schande über den Onkel bringen werde.

      »Sameer-jan, was ist los? Du zitterst ja.«

      Meine Gedanken lassen sich nicht kontrollieren, sie galoppieren davon.

      »Sieh mich an, Sameer-jan!«

      »Vergeben Sie mir, Agha Murtaza. Meine Gedanken sind unrein.«

      »Sameer-jan! Ich kann sie doch nicht lesen und will es auch gar nicht. Ich bin mit meinen eigenen beschäftigt. Die sind übrigens auch meistens sehr unrein«, sagt er amüsiert. »Allah hilft uns, sie zu organisieren. Er vergibt uns. Auch Allah ist abstrakt. Meine Mutter sagte immer: Allah, vergib mir, wenn ich Dich im Glück vergesse und nur an Dich denke, wenn ich traurig bin.«

      Aus Murtazas Mund klingt Tugendhaftigkeit so einfach, wie ein Spiel.

      »Weißt du, was das Beste an abstrakten Gedanken ist?«

      Mir fällt nichts dazu ein. Ich kann ja nicht einmal die Fragen eines kleinen Mädchens beantworten.

      »Das Beste daran ist, dass sie dir niemand wegnehmen kann.«

      Wer würde schon die Gedanken eines Bastards wollen?

      »Ich werde dir die traurige Geschichte des Sabari Studios erzählen.« Murtaza deutet auf eine Schwarz-Weiß-Aufnahme des Gebäudes an der Wand. »So sah das hier vor der Besatzung aus, bevor eine sowjetische Bombe auf das Haus fiel und den meisten von uns das Leben kostete. Ich verdanke mein Leben der Großzügigkeit der Familie deines Onkels und diesem Kamerastativ da. Es widerstand dem Gewicht des zusammenbrechenden Gebäudes. Nur mein linkes Bein wurde zerquetscht.« Murtaza massiert sein metallenes Bein, als sei es aus Fleisch und Blut. »Die Sabaris waren nie die Frommsten. Meinem Vater waren die bunten Bilder des National Geographic wichtiger als der Koran. Mein Großvater aber war immerhin ein angesehener Muezzin. In jener Nacht, als die Sowjets angriffen, rief er auf dem Minarett zum Gebet. Er erzählte mir, dass die Flugzeuge so nah vorbeiflogen, dass er den Piloten in die grünen Augen sehen konnte, die leuchteten wie Jade.«

      Das ist das erste Mal, dass jemand von meiner Augenfarbe so spricht.

      »Mein Großvater floh aus der Moschee und fand unser Haus in Schutt und Asche. Mit bloßen Händen grub er durch das Geröll und zog nach und nach unsere leblosen Körper heraus. Ich kann mich kaum erinnern, ich war entrückt vom Fieber. Meine Schwester erzählte Geschichten von den fernen Orten, die wir in Vaters Magazinen gesehen hatten. Die Schweiz, der Kilimandscharo, Hollywood. Als sie verstummte, verließen auch mich die Kräfte.« Murtazas Augen wandern über das Foto an der Wand. »Ich wurde nach London geflogen. Mein Großvater baute das Studio wieder auf, allein. Es gelang ihm, einige Landschaftsaufnahmen und Studioporträts zu retten. Die Negative unserer Kunden blieben unversehrt im Lager.«

      Ich weiß nicht einmal, was Negative sind.

      »Jahre später, als die Taliban meinen Großvater zwangen, sein Geschäft zu schließen, zündete er einen ganzen Stapel Abzüge auf der Straße an. Er behauptete, das sei alles, was von den Fotografien noch übrig war. Die Bärtigen hatten keine Ahnung von unserem Archiv, das eine ganze Gesellschaftschronik Afghanistans umfasste.«

      Ich versuche, mir mein Unwissen nicht anmerken zu lassen.

      »Die Ignoranz der Taliban war unser großes Glück. Mein Großvater starb kurz nach meiner Rückkehr aus London. Es schien, als habe er nur auf mich gewartet. Das Minarett blieb eine Woche lang stumm, bis sie Ersatz für ihn fanden. Viele Kabulis beschwerten sich über den neuen Muezzin. Er klang wie eine sterbende Katze.« Murtaza grinst verschlagen.

      Dann holt er ein abgegriffenes Schulbuch mit fremden Buchstaben und bunten Bildern hervor. Das Englischbuch. Menschen aus der ganzen Welt sind darin abgebildet, sogar ein Mädchen mit Sommersprossen und rotem Haar. Viele Gebäude, aber keine einzige Moschee. Ich lerne ein paar fremd klingende Worte, bei manchen muss man die Zunge zwischen die Zähne stecken. Schon kann ich einen Satz sagen und dann noch einen: »Mein Name ist Sameer. Ich bin dreizehn Jahre alt und komme aus Kabul.«

      Die Sonne ist längst untergegangen, als Behrooz mich abholt. Diesmal ist er allein. Auf der Rückfahrt wird mir ganz schwindlig von den vielen Eindrücken, Bildern und Worten. Der Toyota schaukelt mich schläfrig, bis der grelle Schein einer Taschenlampe mich jäh weckt.

      »Wem gehört der?«, bellt der Mann an der Straßensperre und deutet mit dem Gewehrlauf durchs Fenster.

      »Er arbeitet im Haus«, sagt Behrooz beiläufig. »Eine Waise aus dem Norden.«

      In Behrooz’ Nähe fühle ich mich einigermaßen sicher. Er ist ein Gläubiger, der bereits gepilgert ist, das sieht der Talib auch und winkt den Wagen durch.

      »Primitivlinge!«, schimpft Behrooz.

      LEUTNANT RYDER

      NEW MEXICO

      DIE HERUNTERGEKOMMENE RANCH liegt verlassen in der Prärie New Mexicos. Nichts verrät, dass sich hier das Trainingslager einer Eliteeinheit verbirgt. Ein überwucherter Mähdrescher und eine wackelige Windturbine ragen in das Brachland. Insekten surren, die Luft riecht faulig.

      Als Ryder und Kellogg wortlos aus dem Wagen steigen, taucht ein schmächtiger Mann in eng anliegendem roten Samtanzug auf und begrüßt die beiden enthusiastisch. »Willkommen! Ich bin Sakchin, euer Coach, Manager, Ernährungsberater, Trainer, alles in einem.« Er spricht mit indischem Akzent, seine Augen leuchten neugierig über dem wilden Bart, das Hemd ist bis zum Bauchnabel aufgeknöpft, die Haare fallen bis auf die Schultern. Auf der knochigen Brust baumelt ein Amulett mit dem Schwarz-Weiß-Porträt eines bärtigen Weihnachtsmannes. »Seht euch um, bis die anderen kommen. Haviland baut in der Scheune die Schlafplätze auf, er kann ein paar helfende Hände brauchen.«

      Kellogg bedient den quietschenden Pumphebel eines altertümlichen Brunnens. »Wann ist Appell, Sir?«

      Sakchin schmunzelt. »Heute Abend gibt es ein großes Lagerfeuer, da werden wir uns alle kennenlernen.«

      Kellogg sieht Ryder fragend an.

      In der Scheune treffen sie auf ein Muskelpaket im Unterhemd, auf dessen Schulter ein Tattoo prangt: Alle haben etwas gegeben, manche haben alles gegeben. Er stellt sich mit überraschend sanfter Stimme als Haviland vor. »Ihr seid die Joker aus San Diego«, sagt er kryptisch und gibt ihnen Matten und Baumwolllaken.

      Nach und nach finden sich fast zwanzig Soldaten ein, die wie zufällig aus Army, Luftwaffe, Marines und Küstenwache zusammengewürfelt scheinen. Kellogg und Ryder sind die einzigen Marines.

      Jamie, ein schlaksiger Bastler, installiert bedächtig Moskitonetze im Raum. »Soll fiese Insekten hier geben, kenn ich aus der Karibik. Ich hab vorsichtshalber Netze für alle gekauft.«

      Der gut aussehende Anwar mit scharfen, dunklen Zügen strahlt Kellogg an. »Du musst Kellogg Shaikh sein«, sagt er. Selbst seine Zähne sind perfekt. »Ich bin der andere Mossie, meine Großeltern stammen aus Ägypten.«

      Santiago Morales, eher klein und bullig, entdeckt beim Auspacken einen Skorpion am Boden. Das Tier hebt seinen Stachel. Morales tritt genüsslich drauf, es knirscht unter seinem Stiefel.

      »War das nötig?« Haviland verzieht das Gesicht. »Das war ein Geißelskorpion,

Скачать книгу