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Vielfalt von Spiritualitäts-Definitionen eher im Plural von Spiritualitäten zu denken: Je nach Kontext und Zweck würden Forscher und Praktiker als funktionale Konzepte entsprechende Definitionen konstruieren (vgl. Swinton 2014, S. 163). Für ein richtiges Verständnis von dem, was schwere Krankheit ist, hält er Beziehungs-, Identitäts- und/oder Spiritualitätsaspekte für wesentlich: Sie sei nicht nur eine biologische Fehlfunktion, sondern verändere die Welt und Identität von Patienten grundlegend, was nicht übergangen werden dürfe (vgl. ebd., S. 172).125

      Das WPA Position Statement on Spirituality and Religion in Psychiatry (Moreira-Almeida et al. 2016) der World Psychiatric Association mahnt, trotz aller Definitionsfragen das Thema als relevant zu berücksichtigen (vgl. unten Abschn. 3.3.4).

      Für Peter J. Verhagen sind Psychiatrie/Wissenschaft (science) und Religion keine Feinde, sie könnten Verbündete sein zum Wohl der Menschen im Einsatz gegen Unsinn und Aberglaube. Einsicht und Urteilsvermögen (discernment) gehörten nicht nur zu Wissenschaft, sondern auch zu den religiösen Traditionen, die Formen der Unterscheidung und Einordnung von Erfahrungen enthielten: „Discernment focuses on what is said to be true, valuable, and decisive in our lives and contributes to what meaning giving is. Spiritual discernment in that sense is a decisive intersubjective aid and a common strategy for knowing and judging developed in every spiritual tradition“ (Verhagen 2012, S. 357).126 Dass es in der Religion nicht irrational zugehen muss, besonders wenn eine bewährte Glaubensgemeinschaft dahinter steht, unterstreicht auch Walter Schaupp:

      Da große und schon lang existierende Religionssysteme über einen reichen Erfahrungs- und Reflexionsschatz verfügen, gelingt es ihnen meist, dem Glauben ein hohes Maß an innerer Konsistenz und Ausgewogenheit und somit rationale Nachvollziehbarkeit zu geben. Daher kann die beschriebene Abkoppelung im Rahmen einer hoch individualisierten Form von Religiosität immer wieder zu irrational anmutenden Formen von Religiosität führen. (Schaupp 2014, S. 18)

      Da darf und muss man genau hinschauen.

      Auf Kritik war auch der Begriff spirituelle Bedürfnisse gestoßen (s. o. Paley S. 69). In der Tat wird Bedürfnis hier eher als eine Art pragmatische Kurzformel für die gemeinte Dimension und das für sie Nötige verwendet, vielleicht nicht in psychologisch theoretisch ganz striktem Sinne.127 Zunächst kam der Begriff vor allem im Palliativbereich häufiger vor (vgl. z. B. Kellehear 2000, Murray et al. 2004), dann im Gesundheitsbereich allgemein (vgl. Hodge u. Horvath 2011).

      Eckhard Frick verwendet den Begriff zwar auch für die Beschreibung von Spiritual Care als „die gemeinsame Sorge aller Gesundheitsberufe für die spirituellen Bedürfnisse, Wünsche und Ressourcen kranker Menschen“ (Frick 2014b, S. 56), sagt aber auch einschränkend: „Spiritualität kann nicht auf ein Bedürfnis reduziert werden, das gestillt werden kann wie Hunger, Durst oder Müdigkeit.“ (ebd., S. 62)128

      Crystal L. Park et al. sprechen im genannten APA-Handbuch vom Bedürfnis nach einem Sinnsystem und unzähligen auf Sinn bezogenen Fragen: „humans possess a general need for a well-functioning meaning system that is motivated by myriad meaning-related demands“ (Park et al. 2013, S. 159). Religion schreiben sie dafür eine wichtige Rolle zu.129

      Hans-Joachim Höhn steht aus theologischen Gründen einer Orientierung an subjektivistischen Bedürfnissen kritisch gegenüber: „Luthers Frage ‚Wie finde ich einen gnädigen Gott?‘ heißt nicht mehr: ‚Wie werde ich den Anforderungen Gottes gerecht, dass er mir gnädig wird?‘ Im Zentrum steht jetzt das Problem: ‚Wie finde ich einen Gott, der mir und meinen Bedürfnissen gerecht wird?‘“ (Höhn 2006, S. 6) Auch Jürgen Werbick meint, wenn auch das „unbedingt Angehende“ entgegen religionskritischem Verdacht wahres Menschsein nicht sabotierte, dürfte es dennoch nicht verzweckt werden (vgl. Werbick 2005, S. 69):

      Insoweit Religion als Beziehung zu einer göttlichen Wirklichkeit verstanden werden darf, steht auch sie unter der Spannung, daß der Beziehungspartner Mensch sie als gut für sich selbst schätzen, in ihr seine Erfüllung – Identität, Friede, Freude, Trost, Lebens- und Hoffnungsperspektiven, Kontingenzbewältigung – suchen und doch zugleich die Beziehung zu Gott nicht einfachhin als Mittel zu diesem Zweck ansehen darf. (ebd., S. 68).130

      Der Religionspsychologe Jacob A. v. Belzen meint ebenso, Religion habe ihr eigenes Recht, sie dürfe nicht instrumentalisiert oder gar pervertiert werden für geistige Gesundheit o. ä. (vgl. Belzen 2004, S. 299). Selbst Richard Sloan, der den Einbezug von Spiritualität in medizinischer Forschung und Behandlung vielfach kritisiert hat (vgl. unten S. 157), möchte Religion davor schützen, hier trivialisiert und untergeordnet zu werden (vgl. Sloan 2006, S. 264).

      Es wurde kritisiert, das Konzept Spiritualität würde atheistische oder säkulare Weltanschauungen vereinnahmen und hätte unvermeidlich übernatürliche Anklänge. Andere dagegen wollen sich nicht absprechen lassen, spirituell zu sein, auch wenn sie an nichts Religiöses oder „Jenseitiges“ glauben. Wie immer, es kommt auf den gemeinten Sinn der Worte an … Wir versuchen, verschiedene Aspekte zu beleuchten (vgl. auch oben S. 51)f).

      Oben wurde bereits die Umschreibung von Jacob v. Belzen für Spiritualität angeführt: Eine mehr oder weniger bewusste „Gestaltung der Bezogenheit auf Transzendenz“ (vgl. Belzen 1997, Sp. 210). Er vermutet deshalb, wahrscheinlich seien die meisten Menschen nicht spirituell, entgegen der Ansicht, jeder sei es, denn Massen von Menschen schienen überhaupt keine Form von Transzendenz anzuerkennen und keine Form von Hingabe daran zu praktizieren (vgl. Belzen 2004, S. 308).

      Welche Art von Transzendenz ist aber gemeint? Gibt es Spiritualität ohne Transzendenzbezug? In ihrem Überblicksbeitrag Atheisten, Agnostiker und Apostaten im APA Handbuch berufen sich Heinz Streib und Constantin Klein auf die Unterscheidung von vertikaler und horizontaler Transzendenz:

      To understand atheism and agnosticism, it is important to realize that the symbolization of experiences of transcendence can occur in terms of vertical or of horizontal transcendence (cf. Hood et al., 2009): Vertical transcendence involves the symbolization of a heaven above with person-like beings; in horizontal transcendence, experiences of transcendence are symbolized as experience of the holy or something of ultimate concern, but within this world, such as Mother Earth in green spirituality (Kalton, 2000). (Streib u. Klein 2013, S. 715)

      Unter Atheisten und Agnostikern fänden sich demnach Formen von Spiritualität, die vornehmlich mit horizontaler Transzendenz wie etwa der Bewahrung der Erde zu tun hätten (vgl. ebd.).131

      Eine seriöse britische Website (http://atheistspirituality.net/), die momentan von Geoff Crocker ediert wird, bietet ein Forum für eine atheistische Weltsicht, die Aspekte von Leben, Werten und Tugenden jenseits von bloßem Materialismus sucht:

      Why atheist spirituality? Some might feel that the concept of atheist spirituality is a contradiction in terms. But a lack of belief in God does not necessarily rule out a recognition of human spirituality. Atheism does not necessarily imply a reductionist view that everything in our experience is only physical. And even if it is, even if everything is ultimately shown to consist of physical elements, nevertheless, those physical elements are the building blocks of our metaphysical experience of ideas, of feelings, of truth, of goodness. We might not know, either now or even ever, how the physical generates the metaphysical, but we know for certain that it does. It is this metaphysical dimension which the site explores within an atheist position. (http://atheistspirituality.net/somedefinitions/) (Atheist Spirituality Website 2018)

      Für den therapeutischen Umgang schlagen Livia M. D’Andrea und Johann Sprenger in ihrem Artikel Atheism and Nonspirituality as Diversity Issues in Counseling vor, Atheisten als – zumindest im US-amerikanischen Kulturbereich – Minderheitengruppe zu betrachten, die besonderer Rücksichtnahme bedürfe.132 „Note that nonbelief in God, gods, or universal forces does not include

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