Скачать книгу

kritisch äußert sich auch der Psychoonkologe Pär Salander (2006, 2012). Die Wissenschaft benötige den Begriff Spiritualität nicht: Das Verhältnis zu Religion sei unklar, das Konzept selber unscharf und unnötig (vgl. Salander 2012, S. 20). Er vermutet z. B., dass die Antworten von Menschen auf Fragen nach dem Empfinden von „Sinn und Ziel“ (als Ausdruck von Spiritualität) meist ihr generelles Wohlbefinden (well-being) ausdrückten: „people experience life as meaningful / not meaningful and this is very close to saying ‚I’m feeling fine‘ / ‚I’m feeling bad‘.“ (ebd., S. 22)107 Spiritualität sei ein „Regenschirmbegriff“, mit dem Autoren verschiedene Themen unter ihren eigenen Schirm steckten (vgl. ebd., S. 26). Bisher als psychologische und psychosoziale bezeichnete Themen würden plötzlich als spirituell definiert (vgl. ebd., S. 24) f.), was durch diesen Begriff oft einen religiösen Touch bekomme (vgl. ebd., S. 23) und die Frage aufwerfe, ob das Konzept Spiritualität eine säkulare Weltsicht respektiere (vgl. ebd., S. 29). Dem Konzept fehle ein theoretisches Rationale, systematische Bedeutung und damit klare Abgrenzungen zu benachbarten Konzepten, Operationalisierungen seien außerdem oft vermischt mit Indikatoren von Gesundheit und Wohlbefinden (vgl. ebd., S. 27). Zu bevorzugen sei die Erforschung und Beachtung existentieller Herausforderungen, mit denen alle Mensch umgehen müssten – Freiheit, Einsamkeit, Sinnlosigkeit und Tod (Yalom 1980)108 –, was sie auf unterschiedliche Weise tun würden: Manche mit säkularer, manche mit religiöser/spiritueller Weltsicht (ebd., S. 28).

      Ralph W. Hood stimmt Salander zu, dass vieles in der Forschung zu Spiritualität im Gesundheitsbereich eine Falschmeldung (hoax) sei, weil neue Begriffe für wohlbekannte existentielle Realitäten geschaffen würden (vgl. Hood 2012, S. 109).

      Peter La Cour und Niels C. Hvidt plädieren dagegen dafür, die drei Bereiche existentieller Sinngebung (existential meaning-making) nicht künstlich zu trennen: In der realen Welt dächten viele Patienten über ihre Existenz in säkularen, spirituellen und religiösen Begriffen nach, und die Mehrheit tue dies vielschichtig simultan (vgl. La Cour u. Hvidt 2010, S. 1293). Diese drei Dimensionen/Ebenen würden sich im Geist und Herzen der meisten Menschen überlappen (vgl. ebd., S. 1298), keine davon sei von vornherein den anderen übergeordnet (vgl. ebd., S. 1294). Im Übrigen (unter Bezug auf Hall et al. 2008) existiere weder generische (allgemeine) Spiritualität noch generisches existenzielles Denken, diese seien immer in spezifischen kulturell-sprachlichen Kontexten verwurzelt (vgl. La Cour u. Hvidt 2010, S. 1293). Das Gegenteil von Glaube im Kontext von Sinnfindung sei Indifferenz: „In terms of meaning-making the opposite of a belief is not dis-belief, but existential indifference.“ (ebd., S. 1294) Auch das ist eine Möglichkeit, die man wählen kann …109

      Heinz Streib und Ralph W. Hood halten in der Religionspsychologie das Konzept Spiritualität für unnötig, verwirrend und für eine Energieverschwendung, das bewährte Konzept Religion sei wissenschaftlich ausreichend (vgl. Streib u. Hood 2011, S. 449). Zusammenfassend formulieren sie drei Thesen: „Our first thesis says: Self-identified ‚spirituality‘ is (nothing but) religion. Our second thesis says: This ‚spirituality‘ is part of religion. The third thesis says: ‚spirituality‘ is privatized, experience-oriented religion.“ (ebd., S. 448)110 Es sei jedoch sinnvoll, das Verständnis von Spiritualität (als emischen Begriff) bei denen zu erforschen, die sich damit selbst identifizierten bzw. als „eher spirituell als religiös“ oder „spirituell, aber nicht religiös“ bezeichneten (vgl. ebd., S. 448 f.).111

      Viele Autoren bemerken kritisch, dass sich bei Befragungen in der Bevölkerung kein gemeinsames Verständnis von Spiritualität zeige. Daniel E. Hall, Keith G. Meador und Harold G. Koenig unterstreichen, dass eine generische Religiosität bzw. kontext-freie Spiritualität nicht existiere, sie stünden immer in einem Kontext von Kultur, Tradition etc. Es sei deshalb auch unmöglich, Religiosität oder Spiritualität ohne diesen jeweiligen spezifischen Kontext zu erforschen (vgl. Hall et al. 2008, S. 155). Die Autoren schlagen einen Vergleich mit Sprachen und Linguistik vor:

      However, the recognition that people are all“spiritual” in their human search for meaning is like recognizing that all languages use similar patterns of grammar and syntax. There is much to learn from the study of linguistics, but the dry text of linguistic theory can never replace the living verse of Shakespeare. Language does not exist“in-general” because it is always encountered in particular forms (ebd.).

      Insofern könne Spiritualität eine Art Linguistik für konkrete Formen von Glaube bzw. Praxis sein, aber keine universale Sprache des Glaubens (vgl. ebd., S. 156).

      Peter La Cour, Najda H. Ausker und Niels C. Hvidt befragten in Dänemark 514 Erwachsene (Studierende, sowie Teilnehmer versch. Kurse) nach ihrem Verständnis von Spiritualität, indem sie bei 115 von Experten genannten Items ankreuzen sollten, was zu Spiritualität gehöre(vgl. La Cour et al. 2012, S. 66). Eine Faktorenanalyse der Antworten ergab kein gemeinsames Verständnis, sondern sechs Faktoren, die sich nicht aufeinander reduzieren ließen. Daher stellten sich Probleme, den Begriff Spiritualität in der Forschung oder im klinischen Setting zu verwenden, wenn existentielle oder religiöse Fragen angesprochen werden sollen – auf jeden Fall sollten einige erklärende Schlüsselworte angegeben werden (vgl. ebd., S. 77). Als solche schlagen die Autoren für Forschungszwecke folgendes vor: „A coherent use of the term spirituality in future research might therefore comprise spirituality understood as a context-bound experience of relatedness to a vertical transcendent reality.“ (ebd., S. 80)112

      In den Niederlanden erfragten Joantine Berghuijs, Cok Bakker und Jos Pieper in einem repräsentativen Bevölkerungssample (N = 4402) ohne Vorgaben das persönliche Verständnis von Spiritualität und untersuchten die gegebenen Beschreibungen mit einer Hauptkomponentenanalyse (vgl. Berghuijs et al. 2013, S. 377). Es fand sich eine große Bandbreite, aus der keine einheitliche Definition möglich war. In der Analyse ergaben sich acht Komponenten,113 von denen „Spiritualität als der transzendente Gott“, „Spiritualität als Innerlichkeit“ und „Spiritualität als Streben nach seelischer Gesundheit und Wohlbefinden“ die höchsten Werte aufwiesen (vgl. ebd., S. 386). Dieses weite Spektrum von Antwortmustern zeigt eine Überschneidung des Verständnisses von Spiritualität mit Konzepten aus Psychologie, Religion und Philosophie, die sich mit keiner Definition auflösen ließe (vgl. ebd., S. 392). Außerdem habe sich in der holländischen Bevölkerung das Konzept Spiritualität weithin von Religion getrennt (vgl. Zinnbauer et al. 1997), auch Bezugnahme auf das „Heilige“ (sacred im Sinne von Hill et al. 2000) sei nicht stark (Berghuijs et al. 2013, S. 392). Auffällig war der Einfluss des Bildungsniveaus: Personen mit niedrigerer Bildung distanzierten sich weit häufiger von Spiritualität bzw. konnten weniger damit anfangen als Personen mit höherer Bildung – so dass der Begriff scheinbar eher Sache einer „Elite“-Welt sei (vgl. ebd., S. 389).

      Aus letzterem Grund hält Bernhard Grom den Begriff Spiritualität im deutschsprachigen Raum bei Befragungen oder in der Krankenbegleitung nur bedingt für geeignet: „Denn während Englischsprachige die Begriffe spiritual/spirituality nicht als Fremdwörter oder Fachbegriffe empfinden, dürften Deutschsprachige aus bildungsfernen Schichten die Vokabeln ‚spirituell/Spiritualität‘ kaum verstehen.“ (Grom 2009, S. 14)

      Heinz Streib und Barbara Keller (2015) untersuchten die Semantik und Psychologie von „Spiritualität“ in Deutschland,114 u. a. in einer Online-Befragung mit 773 Teilnehmern. 740 von ihnen gaben eine Definition von „Spiritualität“ als freie Eintragung: Eine Hauptkomponentenanalyse der Inhalte erbrachte zehn semantische Komponenten (ebd., S. 40) f.).115 Es sei große Zurückhaltung angebracht, „das, was die Menschen auf der Straße ‚Spiritualität‘ nennen, auf einen Begriff bringen zu wollen.“ (ebd., S. 52)

      Neil Scheurich, Assistenzprofessor für Psychiatrie, hält in der Medizin die Verwendung philosophischer Werttheorie für umfassender und weniger tendenziös als den Begriff Spiritualität. Nicht jeder

Скачать книгу