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Menschen mehr gerecht werden. Franz Reiser
Читать онлайн.Название Menschen mehr gerecht werden
Год выпуска 0
isbn 9783429064037
Автор произведения Franz Reiser
Жанр Документальная литература
Серия Studien zur Theologie und Praxis der Caritas und Sozialen Pastoral
Издательство Bookwire
Der Heidelberger Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs erachtet die Psychiatrie als charakterisiert durch eine unaufhebbare „Spannung zwischen natur- und geisteswissenschaftlichen Ansätzen“ und sieht deshalb auf theoretischer wie praktischer Ebene den Bedarf philosophisch geschulter Wahrnehmung und Reflexion (vgl. Fuchs 2010, S. 240). Angesichts der Fortschritte, die das biologische Paradigma erzielt habe, warnt er vor „der Tendenz, psychische Krankheiten isoliert von den Beziehungen des Patienten zu seiner Umwelt zu betrachten und die Bedeutung des Subjekterlebens für die Krankheit zu vernachlässigen.“ (ebd., S. 235) Es sei deshalb wichtig, „auf konzeptueller Ebene Raum für andere Ursachenbegriffe zu schaffen, insbesondere für eine top-down-Kausalität, die nicht nur metaphorisch gemeint ist, also für eine reale Veränderung des biologischen Substrats im Zuge psychologischer und kultureller Prozesse. Solche (um-)strukturierenden Einflüsse auf das Gehirn sind etwa für psychotherapeutische Behandlungen inzwischen gut gesichert“ (ebd., S. 238). Wenn man „ursächliche bottom-up und top-down-Beziehungen“ zusammenfasse, gelange man „zum Begriff einer ‚zirkulären Kausalität‘, die basale und übergeordnete Systemebenen im Organismus kreisförmig miteinander verknüpft“, dies ermögliche ätiologische wie therapeutische integrative Konzepte, „ohne auf die Verlegenheitslösung einer ‚Multifaktorialität‘ auszuweichen“ (vgl. ebd.). Patienten brauchen auch auf der subjektiv erlebten Ebene Gesprächspartner für ihre Fragen:
Das Sich-Fremdwerden, die Selbstentfremdung rückt psychisches Kranksein schon von sich her in die Nähe der Philosophie. Beiden gemeinsam ist der „Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit“ […], die fragende und zweifelnde Haltung gegenüber der erfahrenen Wirklichkeit. Die existenziellen Fragen, die Patienten stellen, machen sie oft zu „Philosophen wider Willen“. (ebd., S. 239)92
Heinz Schott und Rainer Tölle äußern in ihrer Geschichte der Psychiatrie den Eindruck, dass in der gegenwärtigen Psychiatrie mit einer Anlehnung „an die Theoriebildung der Neurowissenschaften bzw. der Hirnforschung“ wie in anderen biomedizinischen Disziplinen Fragen „einer medizinischen Anthropologie weitgehend ausgeklammert werden.“ (vgl. Schott u. Tölle 2006, S. 508) Umso mehr fällt auf, dass R. Tölle und Klaus Windgassen in ihrem Lehrbuch Psychiatrie zumindest kurz eine „Anthropologische Grundlegung“ vorstellen, die eine Integration der verschiedenen psychiatrischen Aspekte (wie z. B. physiologische oder chemische Prozesse, Lernen, unbewusste Triebdynamik) und Arbeitsweisen versuche (vgl. Tölle u. Windgassen 2014, S. 11) f.). Zu den Grundzügen gehöre unter anderem: „Nicht die einzelne Störung, sondern die gesamte Erlebniswelt des Kranken steht im Mittelpunkt des Interesses, nicht das Abnorme und Kranke, sondern das Dasein des Patienten an sich. An Stelle der Subjekt-Objekt-Spaltung wird nach dem In-der-Welt-Sein des Patienten gefragt.“ (ebd., S. 11) Dazu gehöre dann auch die Religiosität:
Während die Psychiatrie von den philosophisch-anthropologischen Bemühungen profitierte, lässt sich Entsprechendes für die Beziehungen zwischen Psychiatrie und Theologie nicht feststellen. Von den Weltreligionen ist wenig Einfluss auf die Psychiatrie ausgegangen, und die Psychiatrie befasste sich wenig mit der Religiosität der Patienten. Die Gründe hierfür dürften sowohl in der medizinisch-positivistischen Einstellung der traditionellen Psychiatrie als auch in dem Unverständnis und der Abwehr liegen, mit denen Theologien und Kirchen auf die Triebthematik und die Religionskritik der Psychoanalyse reagierten. Die heutige klinische Psychiatrie versucht, die Religiosität des Patienten in ihrer existentiellen Bedeutung zu beachten. (ebd., S. 11) f.)93
Der Psychotherapeut Gerd Rudolf spricht in seinem Artikel Menschenbild und Psychotherapie vom Menschen als einem „Wesen, das sich seiner selbst und seiner jeweils aktuellen Situation bewusst wird; ein Lebewesen, das eine Sprache entwickelt, in der es sich mit seinesgleichen darüber verständigen kann.“ (Rudolf 2015a, S. 373) Daraus hätten sich die großen Fragen und Antwortversuche ergeben:
Seither stehen Menschen unvermeidbar auch vor der großen Aufgaben [sic] des Sichverstehens: Wie erkläre ich mir die Welt? Wer bin ich selbst? Woher kommen und wohin gehen wir? Als Ergebnis solcher Überlegungen entstanden philosophische und religiöse Systeme, kulturelle Formen des sozialen Zusammenlebens, aber auch wissenschaftliche und technologische Entwicklungen und künstlerische Gestaltungen. (ebd., S. 373 f.)
Darum kann er – auch im Blick auf Patienten – sagen:
Menschen sind sinnorientiert, d. h. ihre rationalen, emotionalen und selbstreflexiven Fähigkeiten erlauben es ihnen, weitreichende Sinnfragen aufzuwerfen und dafür philosophische, religiöse oder wissenschaftliche Antworten zu suchen. Freilich besteht das Risiko, die eigenen Sinnsysteme ideologisch absolut zu setzen und gegen fremde Überzeugungen zu Felde zu ziehen. (ebd., S. 375)
In seiner Monographie Wie Menschen sind. Eine Anthropologie aus psychotherapeutischer Sicht (Rudolf 2015b) findet sich auch ein Kapitel Der religiöse Mensch, darin u. a. die Themen Suche nach Sinn, religiöse Einstellungen, Religiosität und Spiritualität, das Angebot der Religionen (ebd., S. 120–146).
Religiosität gilt vielen als eine im Menschen natürlich verankerte Bereitschaft, sich auf eine Transzendenz auszurichten. Sie wird gewissermaßen als Bestandteil der menschlichen Natur, als Wesensmerkmal des Menschen gesehen. Das ist eine These, die wissenschaftlich weder bestätigt noch widerlegt werden kann. […] Wie man auch dazu stehen mag, es ist unübersehbar, dass religiöse Orientierung in der Geschichte der Menschen und ihrer kulturellen Entwicklung eine außerordentlich wichtige Rolle gespielt hat, sodass wir dieses Thema nicht übergehen dürfen. (ebd., S. 124)
Bei zeitgenössischer Spiritualität beobachtet er häufig Vorstellungen und Praktiken, „die historisch zum Aberglauben gerechnet wurden.“ (ebd., S. 144) Auf subjektiver, emotional-erlebbarer Ebene sieht er eine Gemeinsamkeit:
Das Gemeinsame von Religiosität und Spiritualität liegt wohl in der Tatsache, dass Menschen die gläubige Überzeugung entwickeln können, sich in der Beziehung zum Göttlichen zu erleben und dass diese Bezogenheit ihnen ein Gefühl der Sinnhaftigkeit und Geborgenheit vermittelt, auf das sie verzichten müssten, wenn sie ihre spirituelle oder religiöse Ausrichtung nicht mehr hätten. (ebd., S. 144) f.)
Peter D. Gilbert bietet für das Thema Spiritualität und psychische Gesundheit einen vorsichtigen Überblick und darin eine schöne Definition: „Spirituality relates to that dimension of ourselves as human beings which erects frameworks of meaning that provide a motivating force to our lives. Spirituality is associated with the pilgrimage of life; connection with other people and the natural world; a sense of the sacred; and a reaching out to something beyond ourselves.“ (Gilbert 2007, S. 595)
Der Psychiater und Theologe Christopher C. H. Cook (2004) schlägt in einem Überblicksartikel zu Suchterkrankungen eine Definition von Spiritualität vor, die das persönliche Innerste wie auch das ganz Andere anzielt:
Spirituality is a distinctive, potentially creative and universal