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abgeschweift ist, und sie wieder zum Atem als dem Bezugspunkt zurückzubringen. Man nimmt eine Haltung reiner Aufmerksamkeit gegenüber den verschiedenen Phänomenen ein, die während der Übung in Körper und Geist aufsteigen, einschließlich aller Gedanken, Gefühle und Empfindungen. Man könnte Meditation einen Weg nennen, Freundschaft mit sich selbst zu schließen, weil sie ein aggressionsfreie Form des Erlebens darstellt. Tatsächlich lautet die traditionelle Bezeichnung für Meditation „friedliches Verweilen“. Somit ist die Praxis der Meditation ein Weg, das eigene Dasein von Grund auf zu erfahren, jenseits aller Verhaltensmuster.

      Shila ist die Grundlage für die Praxis, und Samadhi ist der konkrete Weg der Praxis. Das Ergebnis davon ist Prajna oder die Einsicht, die sich durch die Meditation bei einem zu entwickeln beginnt. Wenn man Prajna erlebt, beginnt man direkt und konkret zu sehen, wie der Geist tatsächlich funktioniert, seine Mechanik und seine Reflexe, von Moment zu Moment. Prajna wird traditionell „unterscheidende Bewusstheit“ genannt, wobei dieses „Unterscheiden“ kein Diskriminieren ist. Prajna ist vielmehr eine vorurteilslose Erkenntnis der eigenen Welt und des eigenen Geistes. Es unterscheidet in dem Sinne, dass es Verwirrung und Neurose klärt.

      In der buddhistischen Kultur Tibets, in der ich geboren und erzogen wurde, wurde immer auf ein Gleichgewicht zwischen praktischer Schulung und Theorie geachtet. Als ich ausgebildet wurde, sah unser Tagesablauf im Kloster regelmäßige Zeiten sowohl für das Studium wie auch für die Praxis der Meditation vor. Im Laufe eines Jahres waren auch immer spezielle Zeiten für intensive Studien und Meditations-Retreats reserviert. Es war für unsere buddhistische Tradition selbstverständlich, dass ein solches Gleichgewicht Voraussetzung war für echte Lernprozesse.

      Als ich in den Westen kam, 1963 nach England, bemerkte ich mit einiger Überraschung, dass in der westlichen Psychologie das Theoretische gegenüber der praktischen Erfahrung ein enormes Übergewicht besitzt. Natürlich wurde dadurch westliche Psychologie für jemanden aus einer anderen Kultur wie mich unmittelbar zugänglich. Ein Psychologe aus dem Westen fordert einen nicht zum Praktizieren auf, sondern sagt einem sofort, was er treibt. Ich fand das unkompliziert und auch angenehm. Aber gleichzeitig fragt man sich, wie tiefschürfend wohl eine Tradition ist, die sich so stark auf Begriffe verlässt und einem so bereitwillig alle Türen öffnet.

      Auf der anderen Seite scheint westlichen Psychologen intuitiv klar zu sein, dass es nötig ist, viel mehr Gewicht auf das direkte Erleben des Geistes zu legen. Vielleicht ist das der Grund, warum so viele von ihnen sich für den Buddhismus zu interessieren begonnen haben. Vor allem am Zen lockt sie das Rätselhafte. Und das Flair unmittelbarer Erfahrung, die Möglichkeit der Erleuchtung, der Eindruck des Tiefgründigen sind sehr verlockend. Es scheint, dass diese Leute im Buddhismus etwas suchen, was ihnen in ihren eigenen Traditionen fehlt. Dieses Interesse scheint mir durchaus berechtigt, und in dieser Hinsicht hat der Buddhismus etwas Wichtiges zu bieten.

      Manchmal ist es sehr schwer, Menschen im Westen die Bedeutung der Erfahrungsdimension zu vermitteln. Bald nachdem ich aus Indien nach England gekommen war, gründeten wir unser Meditationszentrum „Samye Ling“ in Schottland, und wir entdeckten, dass eine Menge Leute mit psychischen Problemen sich hilfesuchend an uns wandten. Sie hatten schon alle möglichen Therapien gemacht, und viele von ihnen waren ziemlich neurotisch. Sie betrachteten uns als Ärzte, die medizinische Arbeit leisteten, und wollten von uns kuriert werden. Ich stellte fest, dass es bei der Arbeit mit diesen Menschen häufig ein Hindernis gab: Sie wollten oft rein theoretisch an die Sache herangehen, statt ihre Neurose wirklich zu erleben und mit ihr zu arbeiten. Sie wollten ihre Neurosen intellektuell verstehen: wo mit ihnen etwas schiefgelaufen war, wie ihre Neurosen sich entwickelt hatten und so weiter. Oft waren sie nicht bereit, diese Haltung aufzugeben.

      Die Ausbildung zum Therapeuten

      Dazu kommt, dass das Studium einen anderen Charakter annimmt, wenn es mit der Meditationspraxis kombiniert wird. Wenn die direkte Erfahrung fehlt, verkommt das Studieren zu einem bloßen Auswendiglernen von Fachausdrücken und Definitionen, von deren Stichhaltigkeit man sich zu überzeugen versucht. Wenn es aber mit meditativer Disziplin kombiniert wird, wird das Studium viel lebendiger und realistischer. Es schafft Klarheit darüber, wie der Geist arbeitet und wie dieses Wissen ausgedrückt werden kann. Auf diese Weise befruchten sich Studium und Praxis gegenseitig enorm, und beide werden realer und befriedigender. Es ist wie bei einem Sandwich – erst das Brot macht, dass die Wurst einem schmeckt.

      Es stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die praktische und die theoretische Seite der Ausbildung zueinander stehen sollten. Wie viel Zeit sollte den beiden jeweils gewidmet werden? Generell würde ich sagen, ungefähr gleich viel. Aber gleichzeitig ist zum Beispiel die Zahl der Stunden, die man in die Praxis steckt, nicht so wichtig wie die Einstellung, mit der man sie betreibt. Wenn der Lernende voll bei der Sache ist und seine Praxis genügend ernst nimmt, dann hat seine Meditation den richtigen Stellenwert und durchdringt sein Studium und sein Alltagsleben.

      All das soll nicht heißen, dass es in der westlichen Psychologie keine praktische Schulung gibt. Sie ist nur, aus buddhistischer Sicht, stark unterentwickelt. Und wenn sie stattfindet, dann, so scheint es, fast ausschließlich in der interpersonellen Situation, in der man miteinander redet, etwa bei der klassischen psychoanalytischen Ausbildung. Westliche Psychologen haben mich gefragt, ob die direkte Erfahrung der Meditation wirklich notwendig ist. Sie wollten wissen, ob die interpersonelle Ausbildung‘ nicht genügt. Darauf würde ich antworten, dass die interpersonelle Ausbildung allein zu kurz greift. Zunächst ist es notwendig, den eigenen Geist zu studieren und zu erleben. Dann kann man den Geist in der interpersonellen Situation präzise studieren und erleben.

      Das kann man auch daran sehen, wie die buddhistischen Abhidharma-Lehren aufgebaut sind. Zunächst wird erforscht, wie der Geist an sich sich entwickelt und wie er funktioniert. Das findet seinen Niederschlag in der ersten Hälfte des Abhidharma. Die zweite Hälfte beschäftigt sich damit, wie dieser Geist auf Dinge außerhalb seiner selbst reagiert. Das ist eine Parallele zur Entwicklung eines Kindes. Am Anfang ist es vor allem mit sich selbst beschäftigt. Später dann, wenn es heranwächst, wird seine Welt immer größer.

      Um

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