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ist Gegenseitigkeit. Mein Du wirkt an mir, wie ich an ihm wirke.“

      Martin Buber Ermutigt durch die vertrauensvolle Atmosphäre in der Dialogrunde einer Gesamtschule berichtet eine Mutter über ihren eigenwilligen Umgang mit dem Fernsehkonsum ihrer acht- und elfjährigen Töchter. Immer dann, wenn sie zu Besorgungen die Wohnung verlässt, schließt sie das Zimmer ab, in dem sich der Fernseher befindet. Die beiden Töchter sollen nicht unkontrolliert fernsehen.

      Als Dialogbegleiter kommt es jetzt darauf an, den „Raum“ für ein offenes und ehrliches Gespräch über den Umgang anderer Eltern mit dem Fernsehkonsum ihrer Kinder und deren Erfahrungen zu schaffen. Wenn jede und jeder bei sich bleibt, wird vermieden, dass die Protagonistin in der Rolle der „schlechten“ Mutter ihr Verhalten rechtfertigen muss. Gleichzeitig ermöglicht ein solches Vorgehen, dass andere Mütter und Väter angstfrei und ohne Schönfärberei von ihren gelingenden oder scheiternden Auseinandersetzungen erzählen.

      In diesem Fall brauchte die Mutter den Erfahrungen der anderen Eltern nur zuzuhören. In ihrem persönlichen Abschlusswort bedankte sie sich später bei der Gruppe, dass sie sich von niemandem bloß gestellt gefühlt habe. Sie wolle zuhause einmal über alles nachdenken und das eine oder andere, was sie an diesem Tag von anderen gehört habe, ausprobieren.

      [24] Das Beispiel macht auch deutlich, dass sich Dialogbegleitung, so wie ich sie hier beschreibe, erheblich von Veranstaltungen im Vortragsstil oder von verhaltenstherapeutischen Trainingskursen unterscheidet. Der Schwerpunkt im Dialog liegt auf Gegenseitigkeit und Gleichwürdigkeit (Juul 2004) zwischen den Dialogpartnern, während sich die Kommunikation beim Vortrag in der Regel auf einer belehrenden „Einbahnstraße“ bewegt und wenn überhaupt, dann oft nur Diskussionen „um des Kaisers Bart“ entstehen. Das macht nicht nur müde, passiv und unmündig. Noch schwerer wiegt, dass Eltern sich noch unfähiger fühlen, wenn sie merken, dass es ihnen nicht gelingt, das Gehörte und scheinbar so Einfache und Vernünftige im Zusammenleben mit ihren Kindern erfolgreich umzusetzen.

      Frustrierende Erfahrungen dieser Art, die ich sowohl in der Rolle als Vater von zwei Kindern als auch als Fachreferent in der Prävention und der Elternbildung machte, waren für mich der Anlass, mich mit dem Dialog zu beschäftigen.

      Mein persönlicher Weg zum Dialog

      Der Entwicklungsprozess zum hier vorliegenden Konzept ELTERN STÄRKEN vollzog sich über mehrere Jahre. Geformt und gefestigt wurde mein Dialogisches Verstehen in zahlreichen selbsterfahrungsbezogenen Lernprozessen auf Fortbildungen und in therapeutischen Intensivphasen, in die auch philosophische Auseinandersetzungen einflossen. Die theoretische Reflexion der Praxis mit Hilfe der wissenschaftlichen Literatur, vor allem die Lektüre der Schriften von Martin Buber, halfen mir zu verstehen, wie meine neue Seminarpraxis auszusehen hatte. An einem Beispiel wird es vielleicht nachvollziehbarer.

      Im Frühjahr 2000 kehrte ich mit einer Seminargruppe in Heppenheim für ein paar Stunden in dem Haus ein, in dem Martin Buber bis zu seiner Emigration nach Israel im Jahr 1938 mit seiner Familie gelebt und 1923 sein bekanntestes Werk „Ich und Du“ verfasst hatte. Der Besuch in der heutigen Gedenkstätte berührte mich tief. Während der einwöchigen Seminararbeit lasen wir uns in einer Runde von knapp vierzig Frauen und Männern Stück für Stück aus eben diesem „Ich und Du“ vor, etwa sechs bis achtmal jeden Absatz. Jede und jeder las in der eigenen Tonlage, der eigenen Mundart oder in der Sprache des Herkunftslandes. Zunächst hatten wir Schwierigkeiten mit der Sprache Martin Bubers, da sie uns ungewohnt fremd vorkam. Doch mit der Zeit und fast unmerklich, wurde jedem von uns, ohne [25] die Worte zu analysieren, auf seine Art klar, was sie ihm bedeuteten. Jeder für sich nahm aus ihnen mit, was für ihn wichtig war. Ich spürte, es war mein Verständnis der Worte von Buber und nicht das Verständnis unserer deutsch-israelischen Seminarleitung, es war auch nicht die Interpretation der übrigen 38 Augen- und Ohrenpaare im Raum. Wir lasen nur gemeinsam, ohne uns gegenseitig von unserer Sicht in endlosen Diskussionen überzeugen zu wollen.

      Es geschah etwas Merkwürdiges in jenen inspirierenden Tagen im April 2000. Bubers Idee vom „Dialog“, von „Begegnung“, von dem, was er das „Zwischen“ nennt, und von der „Anderheit des Anderen“ bekamen für mich durch das gemeinsame Lesen einen tieferen, ungeahnten Sinn. Aus den Worten Vertrauen, wachsen lassen, achtsam sein, Liebe, den anderen nicht verändern wollen, allein sein, anders sein und Respekt füreinander haben, wurden lebendige Begriffe.

      Im Laufe der Jahre flossen bei der Entstehung des vorliegenden Buches nicht nur die Philosophie des Dialogs von Martin Buber, David Bohm, William Isaaks, Peter Senge und Freeman Dhority, Johannes und Martina Hartkemeyer, sondern auch Ansätze der humanistischen Psychologie, der konstruktivistischen Erkenntnistheorie, des systemischen Denkens, der ressourcenorientierten Konzeption der Salutogenese nach Aaron Antonovsky, der Präventionsansatz der Förderung allgemeiner „Lebenskompetenzen“, der durch Botwin und andere als „Life Skills“-Ansatz bekannt wurde und das Therapiekonzept der „Lebensschule“ von Walther H. Lechler für mich sinngebend zusammen.

      Jeder Mensch, dem ich begegne, ist mein Lehrer

      Die Konzepte „Salutogenese“, „Life Skills“ und der „Lebensschule“ verbindet der Kerngedanke, dass das Leben selbst, mit all seinen Herausforderungen, die auch Krisen einschließen, die beste „Schule“ zum Erlernen konstruktiver Strategien der Lebensbewältigung ist. Von Walther H. Lechler habe ich gelernt zu sehen, dass letztlich alle Menschen, jeder auf seine Weise, um ihren „richtigen“ Weg durchs Leben ringen, auch und gerade die Menschen, die wir aus pädagogischer Sicht für emotional und sozial inkompetent, für „auffällig“, „süchtig“ oder „krank“ erachten. Erziehung verstanden als Beziehung unter dem Aspekt des Suchens und der Unterstützung der Eltern bei ihren Suchbewegungen zu betrachten, ebnet den Weg zum Dialog. In den Elternrunden geht es im Grunde immer wieder darum, [26] die eigenen Erfahrungen im Meistern des Lebens mit anderen zu teilen und die Erfahrungen anderer zu nutzen.

      Der Begriff „Elternschule“, der gerne im Umgang mit Elternkursen genannt wird, ist aus Sicht des Dialogs allerdings unpassend. Mit dem Begriff Schule wird zu häufig Belehren, Bewerten und Sanktionieren von Defiziten assoziiert und löst daher entweder Abwehr oder Langeweile aus. Zum einen kann dies erklären, warum so viele Menschen, die zwar den Austausch mit anderen Eltern bräuchten, dennoch den Elternseminaren fernbleiben und dafür mit dem Etikett „bildungsfern“ stigmatisiert werden. Andererseits befürchte ich, dass bei denen, die den Weg in Elternkurse finden, anstelle von Unsicherheit eine neue Abhängigkeit auf Seiten der Eltern entstehen kann, wenn sie versuchen, die gelernten „Ratschläge“ zu befolgen. Reinhart Wolff spricht in diesem Zusammenhang von „professionellem Autoritarismus“. Die Fachleute lehren, und die Eltern sollen lernen, es gibt ein klares „Subjekt-Objekt-Verhältnis“.

      Eltern reflektieren ihren Weg, und im Rahmen dialogischer Seminare tun sie dies gemeinsam mit der Dialogbegleitung. Es geht also weniger darum, dass Eltern und ihre Kinder „erzogen“ werden müssen sondern mehr darum, dass Eltern sich darüber klar werden, dass sie ein Teil dieser Entwicklungsgemeinschaft sind, dass ihr Verhalten auf Kinder wirkt und dass sie selbst auch mitwachsen und lernen müssen. Im Dialog reden wir nicht von Beschulung, sondern von gemeinsamem Lernen von Eltern, Kindern und Fachkräften, die ja oft auch selbst wieder Eltern sind. Insofern findet der Dialog in einer Atmosphäre statt, in der jede und jeder des anderen Lehrer ist und dabei gleichzeitig Lerner bleibt.

      Raum für echte Begegnung

      Der Dialog ist ein Weg zu einer anderen Form des Miteinanders. Der Prozess des Dialogführens macht deutlich, wie unser Denken durch unsere Emotionen, Wünsche, Absichten, Unterstellungen und Ängste beeinflusst wird. Im Dialog ist Raum für das Aufspüren von Annahmen und Wertvorstellungen, die unserem Handeln zugrunde liegen. Im Dialogkreis kommen wir mit anderen zu uns selbst und erleben unsere Zugehörigkeit zu unseren Mitmenschen. Es geht um das Führen und Geschehenlassen von echten Gesprächen, oder wie Martin Buber sagt um „wahre Begegnung“.

      [27] In Kapitel 1 gehe ich der Frage nach, wie es gelingen

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