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ob der Mensch durch Erziehung überhaupt irgendwie geändert, verbessert werden könne.“

      Hermann Hesse Dies sind drei Rückmeldungen aus Elternseminaren. Womöglich merken jene Eltern, deren brennende Probleme in der Gesprächsrunde betrachtet wurden, im Verlauf des Abends aber auch, dass sie viel zu wenig von ihrem Kind wissen, und sie hören von anderen, wie sie den Kontakt mit ihren „Halbwüchsigen“ halten bzw. wiederherstellen können. Sie sehen durch den Dialog meist eher einen Ausweg, als wenn ich als Fachreferent eine „kluge“ fachliche Antwort gegeben hätte.

      Antonovsky propagiert übrigens auf keinen Fall die völlige Aufgabe der pathogenetischen Orientierung, sondern plädiert dafür, „die beiden Orientierungen als komplementär zu betrachten“ (Antonovsky 1997, S. 30). Er sieht Gesundheit und Krankheit nicht als Gegensätze, sondern als Endpunkte eines Kontinuums.

      [42] krank (-)------------------------------------(+) gesund

      Wir alle, sagt er, bewegen uns Zeit unseres Lebens immer zwischen diesen beiden Polen „gesund“ (+) und „krank“ (-) wie ein Seiltänzer, der immer wieder die Balance auf dem Hochseil findet, während er von der einen zur anderen Seite schwebt (Antonovsky 1997, S. 91). Der Mensch ist nicht entweder krank oder gesund, sondern er ist sowohl-als-auch krank und/oder gesund. Beides gehört also untrennbar zu unserem Leben.

      „Gemeinsam durchlebte Konflikte stärken die Beziehung, vermiedene Konflikte schwächen sie.“

      Mathias Wais „Antonovskys sozialpsychologisches Konzept der Stressoren und Widerstandsressourcen ist ein wichtiger Beitrag, das Leben als kohärent und in sich stimmig zu begreifen, das solange lebbar bleibt, bis der Tod eintritt“ (aus: Philosophische Überlegungen zu A. Antonovsky, Weinheim 2000/ Internet). Die Protagonisten des „fit-for-fun Lifestyles“ mit ihrem Körper-Gesundheits-Kult müssen sich damit genauso konfrontiert fühlen, wie Lehrer, die sich unkomplizierte und leicht führbare Schüler wünschen, und Eltern, die die Hoffnung auf ein störungsfreies Aufwachsen ihrer Kinder noch nicht aufgegeben haben.

      Theo Petzold (2010) übersetzt den Kohärenzbegriff mit „stimmige Verbundenheit“. Diese können wir durch stimmige Kommunikation erleben. Im Spannungsverhältnis zwischen dem Gesundheits- und Krankheitspol (Antonovsky) sieht er die Herausforderung, in allen Lebensdimensionen hinreichend Stimmigkeit herzustellen. Er unterscheidet fünf Dimensionen unterschiedlicher Kommunikation, in denen wir Kohärenz suchen:

      • die physische Kommunikation mit der Umgebung (Stoffwechsel),

      • die direkte zwischenmenschliche (soziale) Einbindung z. B. in der Familie,

      • die mit Hilfe von Zeichensystemen (z. B. Sprache) vermittelte Kommunikation in der Kultur,

      • eine ethisch geprägte Kommunikation mit „globalem Verantwortungsbewußtsein“,

      • und eine innere Beziehung zum großen Ganzen, dem Göttlichen – auch im „DU“

      [43] Die Evolution ist ein lebendiger Prozess. Alles in uns strebt nach stimmiger Verbundenheit. Jeder Schritt eines Weges, jede Verhaltensweise ist von diesem Streben bestimmt. Alles ist darauf ausgerichtet, diese Stimmigkeit herzustellen oder zu finden. Lernen und Wachsen heißt, sich diesen Herausforderungen zu stellen. Was aber bedeutet diese Annahme für die Entwicklung Einzelner, für das Zusammenwachsen eines Teams oder die Entwicklung einer Organisation? Zumindest lassen sich im dialogischen und salutogenen Sinne würdigende, kreative, lebendige und inspirierende Räume denken und gestalten. „Um einen Dialog aufbauend zu führen, ist es grundlegend, ein Anderssein des Partners und damit eine Unstimmigkeit wertschätzend anzunehmen“ (Petzold 2010, S. 48). Die Prozessorientierung des ergebnisoffenen Dialogs erlaubt es, komplexe Fragestellungen aus einer neuen Perspektive zu sehen und gemeinsam zu reflektieren. Vertrauen und heilsame Erfahrungen entstehen da, wo die Dialogbegleiterin eine Atmosphäre schafft, in der am Dialog Beteiligte die „Lebensleistung“ und das Ringen um den jeweils richtigen Weg aller Gesprächspartner spürbar anerkennen und würdigen.

      Als ich den Titel „Gesund ist, wer noch krank werden kann“ in einer Aufsatzsammlung von Walther H. Lechler (1997), dem bekannten Suchttherapeuten aus Bad Herrenalb, zum ersten Mal las, fielen mir sofort die Sätze unserer Hebamme ein, die uns jungen Eltern erklärte, wie wichtig die sogenannten Kinderkrankheiten für die gesunde Entwicklung eines jeden Kindes seien. Sie würden helfen, Abwehrkräfte im Körper zu aktivieren.

      Eine ähnliche Einstellung finden wir bei Janusz Korczak, der schon 1929 das bedingungslose „Recht des Kindes auf Achtung“ forderte (Korczak 2002, S. 27ff.). Damit ist u.a. gemeint, „dass Erwachsene Kindern durch ihre Ängste und (Über-) Fürsorge wesentliche Erfahrungs- und Lebensmöglichkeiten nehmen. Dem Erwachsenen wird damit zugemutet, Ängste um das Leben des Kindes und eigene Vorstellungen von dem geraden, gefahrlosen Weg in eine glückliche Zukunft des Kindes genau zu überprüfen und – falls nötig – zugunsten neuer Einstellungen zu revidieren“ (Tschöpe-Scheffler 2003a, S. 62f.). Das Beispiel der kleinen Elisabeth aus meiner Nachbarschaft veranschaulicht diesen Gedanken:

      [44] Das knapp 13-monatige Mädchen macht ihre ersten Gehversuche, als sie im Garten über eine kleine Sockelkante – und offenbar vor Schreck schreiend – zu Boden fällt, ohne sich allerdings dabei zu verletzen. Der stolze Vater, ein Maurer, füllt diese kleine Stufe sofort fachmännisch mit Beton auf, im guten Glauben, sein kleines Töchterchen vor zukünftigen Gefahren schützen zu müssen. Beim ersten kleinen Sturz über eine Sockelkante im Garten wird dem Mädchen von ihrem Papa der „Stolperstein“ aus dem Weg geräumt. Ihr wird die Chance verwehrt, zukünftig an der gleichen Stelle selbst auf etwaige Unebenheiten zu achten.

      Manche Eltern erfüllen ihren Kindern aus Furcht vor einem „gesunden“ Konflikt (fast) jeden Wunsch, nehmen ihnen damit aber die Chance, an einer klaren Entscheidung, die auch ein „Nein“ bedeuten kann, zu wachsen. Im guten Glauben, das Richtige zu tun, ziehen wir unsere Kinder eher aus dem reißenden Fluss, als dass wir ihnen zeigen, wie man in den entsprechenden Situationen besser schwimmt.

      Walther H. Lechler sprach in diesem Zusammenhang auf einem seiner Vorträge davon, dass gerade ein solcher „Krisenklau“ dazu führe, dass die Menschen geschwächt würden. Er versuchte darzustellen, dass ihnen dadurch die Chance genommen werde, die Probleme eigenverantwortlich lösen zu können.

      Der Diplompsychologe Mathias Wais hat diesen „Krisenklau“ an einem Fallbeispiel in seinem Buch: „Suchtprävention beginnt im Kindesalter“ (Wais 2002) einmal recht konkret skizziert:

      „Beginnen wir [also] im Kindergarten. Der vierjährige Kevin weint jeden Morgen herzzerreißend, wenn die Mutter ihn im Kindergarten abgeben will. Er klammert sich an sie und brüllt, als ginge es auf die Schlachtbank. Die Mutter ist hin- und hergerissen, bleibt schließlich jeden Morgen noch etwas länger da, damit Kevin unter ihrem Schutz den Schritt in die neue Welt tun kann. Sie versucht, ihn in das Spiel der anderen Kinder hineinzulotsen. Sie lockt ihn zum Kaufladen, spielt selbst mit ihm. Er aber weicht nicht von ihrer Seite. Nach ein paar Wochen kommt Kevins Mutter zu dem Schluss, dass es für den Jungen zu früh sei, in den Kindergarten einzutreten. Sie meldet ihn wieder ab und will es in einem halben Jahr noch einmal versuchen. – Was hat Kevin jetzt wohl gelernt? Auf jeden Fall [45] hat er einen im Moment anstehenden Entwicklungsschritt nicht vollzogen. Die Mutter hatte ihn davor bewahrt.

      In der Schule dann hat er Mühe mit der Rechtschreibung. Kevins Vater nimmt an, dass die Lehrerin, eine noch sehr junge Frau, nicht in der Lage ist, den Kindern Lesen und Schreiben richtig beizubringen. Auf dem Elternabend greift er sie an. Schließlich macht er eine Eingabe an die Schulleiterin, dann ans Schulamt. Kevin kommt in die Parallelklasse. Dort kaspert er herum und verweigert jedes Schreiben. Die Eltern bringen Kevin zu einem Kinderpsychotherapeuten. Als auch diese Maßnahme die Leistungen im Diktat nicht verbessert, wird die Therapie abgebrochen und Kevin bekommt einen Privatlehrer, der begleitend zum Unterricht in der Grundschule jeden Tag zu Kevin nach Hause kommt und mit dem Jungen Rechtschreibung übt. Das hilft. Als allerdings

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