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jetzt am besten allein lassen und nicht länger belästigen«, beschied Sidonie und machte Anstalten, sich zu erheben.

      »Nein, nein, bleiben Sie nur! Sie stören nicht«, hielt Irmgard sie zurück, putzte sich die Nase und wirkte wieder gefasster. In der Ecke war ein Tisch frei geworden, und sie schlug vor, sich dort niederzulassen. Johann bestellte noch eine Runde Portwein, und die Stimmung entspannte sich. Nach und nach stellte sich heraus, dass Irmgard und ihr Begleiter seit vielen Jahren ein Paar waren, das in platonischer Liebe verbunden war. Obgleich Sidonie ihr fremd war, hatte die junge Frau Zutrauen zu ihr gefasst und schüttete dem Fräulein das Herz aus, ein Phänomen, das Sidonie schon häufiger erlebt hatte. Gerade auf die Unglücklichen und Gestrauchelten schien die Dichterin eine eigentümliche Anziehungskraft auszuüben. Selbst Menschen, die das Leben bitter und verschlossen gemacht hatte, öffneten sich ihr zuweilen.

      So erfuhr das Fräulein, dass Irmgards Begleiter der Sohn ihrer Herrschaft war. Nachdem es für seine Familie außer Frage stand, dass mit ihm etwas nicht stimmte, zogen die besorgten Eltern einen namhaften Nervenarzt zurate, der ihren Sprössling mit verschiedenen Therapien zu kurieren suchte. Zunächst gelangte die Hypnose zur Anwendung, dann musste Alfred seltsame gymnastische Übungen vollführen, sich in freier Natur betätigen, kalte Wassergüsse vornehmen lassen, doch es half alles nichts gegen seine krankhafte Veranlagung, die darin bestand, dass er dem weiblichen Geschlecht einfach nicht zugetan war. Um ihn von seiner Verirrung abzubringen, brachte ihn sein Vater schließlich mit Irmgard zusammen, mit der er selbst eine heimliche Affäre unterhielt. Dabei kamen sich die beiden jungen Leute wenn auch nicht körperlich, so doch menschlich sehr nahe und vertrauten sich einander an. Alfred gestand Irmgard seine homosexuelle Veranlagung, und Irmgard beichtete Alfred, dass sie sich seit ihrer frühen Jugend für Geld hingab, obgleich es sie unsagbar grauste vor dem männlichen Geschlecht. Trotz aller Standesschranken standen sie sich gegenseitig bei, so weit es die Verhältnisse erlaubten, und im Laufe der Zeit entstand daraus eine tiefe Freundschaft, eine Art Symbiose, die beide als eine besondere Form der Liebe empfanden.

      »Doch jetzt hat er jemanden kennengelernt und sich verliebt, und seitdem gelte ich nichts mehr«, bemerkte Irmgard traurig und hatte erneut mit den Tränen zu kämpfen.

      »Das stimmt doch gar nicht! Du bist mir immer noch eine liebe Freundin, und daran wird sich auch nichts ändern«, warf Alfred mit kummervoller Miene ein und versuchte Irmgards Hand zu streicheln, die sie ihm unwirsch entzog. Plötzlich tauchte aus der Menge ein junger Mann auf und blieb vor dem Tisch stehen. Er war groß und muskulös und trug die einfache Kleidung eines Arbeiters. Alfred bat ihn, sich zu ihnen zu setzen, und stellte ihn den Anwesenden als einen guten Bekannten vor.

      Irmgard konnte nun gar nicht mehr an sich halten. Bebend vor Wut sprang sie auf und stürzte nach draußen. Sidonie und Johann verabschiedeten sich hastig von den beiden jungen Männern und eilten ihr nach. Unweit der Eingangstür stand Irmgard laut schluchzend im Regen. Sidonie und Johann hakten sie unter und nahmen sie mit in die Kutsche.

      Unter Tränen bat sie darum, nach Hause gefahren zu werden. Sie müsse um sieben wieder bei ihren Herrschaften am Untermainkai sein. Das sei ein weiter Weg und sie sei sowieso schon spät dran.

      Die Fahrt verlief anfangs recht schweigsam. Irmgard fasste sich zwar wieder, wirkte aber sehr niedergeschlagen und brütete dumpf vor sich hin.

      »Darf ich mir erlauben, junge Dame, Ihnen eine Frage zu stellen?«, meldete sich Johann schließlich zu Wort. Als Irmgard stumm nickte, sprach er weiter: »Wieso hängt sich eine so bildhübsche Person, wie Sie es sind, meine Liebe, an solch einen Kostverächter? Es gibt doch bestimmt mehr als genug normale Mannsbilder, die Sie auf der Stelle heiraten würden – vorausgesetzt, Sie geben Ihren Nebenerwerb auf. Mit Verlaub, laufen Sie doch diesem komischen Heiligen nicht länger nach. Das sind doch Perlen vor die Säue geworfen! Das haben Sie doch gar nicht nötig, mein Kind.«

      »Ich will aber kein ›normales Mannsbild‹! Ich hasse diese geilen Kerle, mir graust es vor ihnen, können Sie das denn nicht verstehen? Alfred ist der erste und einzige Mann in meinem ganzen widerwärtigen Leben, für den ich etwas empfinde«, fügte Irmgard mit zitternder Stimme hinzu.

      »Er liebt Sie doch auch, Kindchen. Halt auf seine eigene Art. Sie sind ihm eine liebe Freundin. Aber nicht mehr. Seine Leidenschaft, sein Begehren indes gehen in eine andere Richtung. Das müssen Sie akzeptieren. Und gerade darum lieben Sie ihn ja so sehr. Spielen Sie also nicht verrückt, wenn er sich anderswo holt, was er braucht«, bemerkte Sidonie nüchtern.

      »Ich kann aber nicht anders. Ich bin ganz krank vor Eifersucht.«

      »Das wird Ihnen nicht viel nützen, glauben Sie mir. Es wird immer wieder passieren, dass er eine Affäre hat. Das liegt in der Natur der Sache. Wenn Sie ihn wirklich lieben, gönnen Sie ihm dieses kleine, vergängliche Glück. Lieben Sie ihn doch einfach weiter. Ganz für sich, ganz um der Liebe willen. Niemand kann Ihnen diese Freiheit nehmen.«

      Irmgards Rage hatte sich während Sidonies Worten verflüchtigt. Ergriffen schaute sie das Fräulein an. »Sie sind eine kluge Frau. Ich danke Ihnen«, sagte sie leise.

      »Im Übrigen bin ich der Meinung, liebe Irmgard, dass Sie mit Ihrem Nebenerwerb unbedingt aufhören sollten. Das macht Sie nur kaputt, und Ihren Seelenfrieden werden Sie so niemals finden. Seien Sie froh darüber, dass Sie überhaupt noch etwas empfinden können, und lassen Sie sich das nicht auch noch zerstören.«

      »Ich brauche aber das Geld. Meine Schwester hat die Franzosenkrankheit im Endstadium. Sie hat schlimme Wahnsinnsanfälle und ist im Tollhaus untergebracht. Ich muss für sie sorgen. Außerdem lege ich mir immer was zurück und will damit einmal was beginnen«, erklärte Irmgard.

      »Ach, hören Sie doch auf! Das wird sowieso nicht wahr. Machen Sie Schluss mit dem ganzen Zinnober, sonst ergeht es Ihnen noch genau wie Ihrer Schwester. Außerdem weiß ich, dass Ihre Schwester trotzdem versorgt wird. Wenn es keine zahlenden Angehörigen gibt, übernimmt nämlich die öffentliche Wohlfahrt die Kosten für die Pflege.«

      Inzwischen war die Kutsche vor der herrschaftlichen Villa am Untermainkai angekommen, und Irmgard verabschiedete sich von Sidonie und Johann. Bevor sie ausstieg, hielt sie jedoch plötzlich inne und ließ sich wieder neben dem Fräulein nieder.

      »Ich muss Ihnen noch was sagen«, platzte es aus ihr heraus. »Es betrifft einen Freier. So ein perverser Drecksack, der sich auspeitschen und quälen lässt. Mit dem hatte ich mich ein paar Mal eingelassen, und der hat immer sehr gut gezahlt. Jedenfalls bin ich einmal mit dem in einem Stundenhotel in der Schäfergasse gewesen, und als wir aus dem Zimmer kommen, sind wir der Gerlinde auf dem Flur begegnet. Die hatte auch einen Freier dabei und hat so verschämt geguckt, als sie mich und den Perversen gesehen hat. Und das letzte Mal, als wir uns getroffen haben, hat sie mir dann erzählt, dass sie den kennt. Das war ihr Dienstherr, der Herr Apotheker, Ottmar Saltzwedel, und ihr war das ganz schön peinlich, dass die dem da über den Weg gelaufen ist. Natürlich hat der Mistkerl sie deswegen nicht zur Rede gestellt, was sie da gemacht hat und so. Der hat ja selbst zu viel Dreck am Stecken. Aber die Gerlinde hat gesagt, dass er sie seither immer so komisch anguckt, und es wäre ihr so mulmig zumute, dass sie sich schon überlegt hätte, sich eine andere Stellung zu suchen. Ich habe oft darüber nachgegrübelt, ob am Ende nicht dieser ekelhafte Widerling etwas mit der Sache zu tun hat. Sicher, der Kerl, mit dem ich die Gerlinde noch kurz vor ihrem Tod gesehen habe, sah anders aus und war mit Sicherheit nicht der Saltzwedel. Aber vielleicht war der junge Stutzer ja gar nicht der Mörder. Ich weiß es nicht genau, aber wenn ich an den Saltzwedel denke und wie abartig der sich gebärdet hat, dreht sich mir förmlich der Magen um. Und glauben Sie mir, in unserem Geschäft erlebt man viel Absonderliches, und ich bin weiß Gott nicht zimperlich. Normalerweise mach ich so was ja nicht. Diskretion wird in unserem Gewerbe groß geschrieben, und ich würde nie mit anderen Leuten über einen Freier reden und schon gar nicht seinen Namen nennen. Deswegen hab ich auch vorhin nichts gesagt. Aber verdammt noch mal! Die Gerlinde ist vergiftet worden, und der Kerl ist Apotheker. Und, unter uns gesagt: Der ist nicht ganz dicht im Oberstübchen. Vielleicht können Sie dem auf den Zahn fühlen.«

      6

      Am Montagnachmittag um drei Uhr verließ Heinrich Hoffmann den Krankensaal der Armenklinik

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