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daran, Annie? Du warst schließlich schon etliche Male an ihrem Grab.«

      »Es ist aber ausgerechnet Thanksgiving.«

      »Ganz genau, Schneewittchen! Es ist Thanksgiving. Also schwing deinen hübschen Hintern rüber nach Underwood und leg gefälligst selbst Blumen nieder. Ich werde es jedenfalls nicht wieder für dich tun.«

      Ein verächtliches Schnauben ging durch die Leitung. »Erstens, nenn mich nicht immer Schneewittchen. Meine Haare sind schon eine Weile nicht mehr so dunkel wie noch vor drei Jahren. Zweitens, ich bin bereits bei Freunden zum Essen eingeladen. Da kann ich nicht einfach absagen.«

      Was für eine lahme Ausrede war das denn bitte? Hatte sie nichts Besseres auf Lager, was sie mir als vermeintlichen Grund auftischen konnte? Das war ja beinahe beleidigend! Außerdem… wen wollte sie damit eigentlich verarschen, wenn nicht sich selbst? Mich sicher nicht.

      Wütend zog ich meine Augenbrauen zusammen. »Das hast du die letzten zwei Jahre auch schon behauptet und genau deshalb mache ich dieses Theater nicht mehr mit! An Thanksgiving sollte man bei seiner Familie sein, nicht bei irgendwelchen Bekannten aus der Uni. Deswegen fahre ich jedes verdammte Jahr zu meiner Mutter, das ist dir klar, oder?«

      Annie seufzte leise. »Meine Freunde sind jetzt meine Familie, Jonah. Ich hab sonst keine andere mehr, falls du es vergessen haben solltest.«

      »Schwachsinn!«, fuhr ich sie aufgebracht an. »Meine Mom und ich sind mehr Familie für dich als diese Leute vom College, die du kaum kennst. Und deine wahre Familie ist und bleibt für immer in Underwood…«

      Stille am anderen Ende der Leitung. Ich hörte sie jetzt nicht einmal mehr atmen. Dabei war ich sicher, ich war nicht zu weit gegangen, Annie verstand sehr wohl, was ich ihr damit sagen wollte und tief im Inneren wusste sie auch, dass ich absolut Recht damit hatte.

      Einige Sekunden verstrichen und ich dachte schon, sie hatte aufgelegt. Doch als ich sie im nächsten Moment schwer durchatmen hörte, wusste ich, sie würde mir und dem Thema einfach ausweichen. So wie sie es immer tat, wenn es ihr zu viel wurde.

      »Ich fürchte, ich muss jetzt los, Jonah. Die Bibliothek schließt schon in zwei Stunden und ich muss noch unbedingt etwas für zwei Hausarbeiten recherchieren, die ich noch vor dem Wochenende abgeben muss, also…«

      »Annabelle Parker, wenn du jetzt einfach auflegst, bevor wir dieses Thema ausdiskutiert haben, werde ich dich höchstpersönlich…«

      »Ich wollte nur wissen, ob du in Underwood sein wirst und ob du für mich Blumen niederlegen könntest. Wenn du es nicht tust, auch gut. Ich muss jetzt nämlich wirklich los! Grüß deine Mutter von mir, wenn du bei ihr bist. Und… ein schönes Thanksgiving euch beiden«, unterbrach sie mich eingeschnappt und legte tatsächlich danach auf, noch ehe ich etwas darauf erwidern oder antworten konnte. Ich konnte mich nicht einmal mehr von ihr verabschieden, so schnell wie sie mich abgewimmelt hatte. Dabei wusste ich durchaus, dass sie mich nicht einmal anlog. Annie würde sogar ganz sicher jetzt noch zur Bibliothek gehen und für ihre Hausarbeiten recherchieren. Nur hätte sie das auch genauso gut noch in zehn Minuten machen können, statt mir einfach das Wort abzuschneiden und das Telefonat ohne Vorwarnung zu beenden.

      Das würde sie schon bald bereuen! Denn hätte sie mich aussprechen lassen, wüsste sie nun, dass ich ihr die Sache mit Underwood an Thanksgiving dieses Jahr auf keinen Fall durchgehen lassen würde. Annabelle war selbst Schuld und würde sich noch wundern, wenn ich plötzlich vor ihr stehen und sie entführen würde…

      Zwei Jahre zuvor

      »Nächster Stopp – Boston!« Beth grinste breit und zwinkerte mir auffordernd zu, als sie die nächste Stadt verkündete, in der wir einen Gig hatten. Dabei wusste sie genau, mich musste sie nicht daran erinnern, dass wir diesmal tatsächlich ausgerechnet in Boston landen würden – in der Stadt, in der sich Annie seit knapp einem Jahr vor mir versteckt hielt.

      Seit dem Abend in Underwood damals – und vor allem seit dem, was im Baumhaus passiert war –, hatten wir uns nicht mehr getroffen. Scheiße nochmal, wir hatten nicht einmal miteinander gesprochen, weil sie noch immer all meine Nachrichten und Anrufe konsequent ignorierte.

      Ich wusste zwar, sie wollte und brauchte Zeit. Doch ein verdammtes ganzes Jahr? Langsam hatte ich wirklich genug darauf zu warten, bis sie sich endlich wieder bereit dazu fühlte, mit mir Kontakt aufzunehmen. Ich hatte es satt, auf irgendein Zeichen von ihr zu warten, das mir sagte, dass wir es von neuem versuchen könnten. Nicht nur unsere Freundschaft, wohlgemerkt. Annie wusste genau, ich wollte schon lange mehr als das und diesmal würde ich keinen Rückzieher machen, ich würde nicht davon laufen oder wie ein Feigling den Schwanz einziehen. Diesmal nicht!

      Ich wollte alles, das ganze Paket – Annabelle Parker all inclusive. Und daraus machte ich seit über einem Jahr auch keinen Hehl. Nicht Beth und den Jungs aus der Band gegenüber und auch nicht meiner Mutter, die scheinbar ohnehin seit meiner Jugend darauf wartete, dass ich dieses Mädchen eines Tages zu meiner Frau machte.

      Egal was damals zwischen Annabelle und mir passiert war, egal was für Fehler ich begangen hatte – das alles war nun schon ewig viele Jahre her. Die Vergangenheit war nicht mehr zu ändern, die Zukunft jedoch schon. Selbst wenn einiges von meinem Verhalten damals sicher nicht und vielleicht sogar niemals zu entschuldigen war, so würde ich nun den Rest meines Lebens alles dafür geben, um Annie zu zeigen, wie wichtig und wertvoll sie für mich ist.

      Und heute Abend… da hat die Funkstille zwischen uns endlich ein Ende. Ob sie wollte oder nicht, ob sie bereit war oder nicht – ich würde da sein! Sobald wir mit unserem neuen Tourbus in Boston ankamen, würde ich mich auf den Weg zu ihr machen und sie für ein paar Stunden entführen.

      Mein Plan stand bereits seit Wochen, seitdem ich wusste, dass wir ein Konzert in Boston geben würden. Ich hatte Annie in meinen tausenden Nachrichten zuvor bewusst nichts davon geschrieben. Ich wollte sie überraschen, wollte ihre Reaktion sehen, wenn ich nach einem Jahr plötzlich vor ihr stand. Früher konnte sie mir in dieser Hinsicht nämlich nichts vormachen, ich konnte allein an ihrem Blick, an ihren Augen ablesen, was sie wirklich dachte und fühlte. Ich hoffte, so würde es auch heute noch sein…

      Nachdem Fred, unser Fahrer, den Tourbus auf einem abgezäunten Parkplatz eines Luxushotels in der Bostoner Innenstadt abgestellt hatte, verlor ich keine Zeit und machte mich auf die Suche nach meiner besten Freundin.

      Beth und die Jungs zogen weiter, einige von ihnen ins Hotel, um nach zwei Wochen Tour endlich wieder in richtigen Betten, statt nur im Bus schlafen zu können. Cole und Jason aber zogen heute Abend durch die Clubs, um sich auszutoben. Mir war das nur recht. So hatte ich meine Ruhe, um Annie zu finden und niemand stellte dumme Fragen, auf die sie ohnehin die Antworten längst kannten.

      Mit Basecap und Sonnenbrille verkleidet, um nicht sofort von Fans erkannt zu werden, zog ich durch die Dämmerung zum Campus von Annies College. Ich wusste, sie lebte dort in der Nähe in einem der Wohnheime mit ein oder zwei Mädchen zusammen. Wo oder in welchem genau, hatte ich jedoch keinen Schimmer. Den brauchte ich allerdings auch gar nicht, denn ich hatte einen Lockvogel, der Annie bereits vor Stunden geschrieben hatte, sie solle gegen zwanzig Uhr draußen vor ihrem Wohnheim auf sie warten: Beth.

      Meine Managerin und gute Freundin hatte nach wie vor Kontakt zu Annabelle und hatte ihr unter einem Vorwand eine Nachricht geschrieben, sie wäre heute in der Nähe von Boston und sie würde sich freuen, wenn sie sich sehen und einen Kaffee trinken gehen würden. Nur dass statt Beth jetzt ich hier stand und Annie bereits von weitem vor ihrem Wohnheim beobachten konnte, wie sie ungeduldig und scheinbar auch nervös auf ihrem Handy herumtippte.

      Nach einem Jahr sah sie kaum verändert aus. Die Haare, noch immer so dunkel, dass sie mich an Schneewittchen erinnerten, trug sie zu einem losen und etwas unordentlichen Dutt zusammengebunden. Dazu einen für ihre Figur viel zu übergroßen Sweater mit der Aufschrift Harvard Medical School, der mich unweigerlich stolz lächeln ließ.

      Annabelle hatte es geschafft. Sie studierte in Harvard, das, wovon sie schon als kleines Mädchen geträumt hatte. Zwar hatte sich ihr Fachgebiet verändert, doch welche Rolle spielte das schon? Statt Chirurgin zu

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