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passiert. Man musste eine Lücke in beiden Richtungen finden, und dann schleunigst über die Straße preschen, denn die Touristen waren schwer bepackt, müde und höchst unwillig, jemanden durchzulassen, egal, in welche Richtung sie auch fuhren. Und apropos Touristen – jetzt war da oben in den Bergen erneut ein Mensch erfroren. Das kam jede Saison vor: Betrunkene Stockholmer in Hemdsärmeln, die meinten, sie bräuchten ein bisschen frische Luft, und das bei zwanzig Grad Kälte, und hinterher fanden sie nicht wieder zurück zur eigenen Hütte zwischen den fünfzig anderen, die genauso aussahen. Mit ihrem eingeschränkten Urteilsvermögen waren sie nicht schlau genug, sich ins erstbeste Haus zu begeben. Am Tag darauf fand man sie dann zusammengekauert unter einer Tanne, tiefgefroren!

      Hin und wieder las man, dass die Polizei zu Ferienhäusern gerufen worden war, in die ungebetene Saufbolde eingedrungen waren, dabei handelte es sich wohl um diejenigen, die ihre Sinne noch beisammen hatten, um mitten im Rausch nach Wärme zu suchen, koste es, was es wolle. Die Ungezogenen überlebten, aber Winter für Winter starb ein einzelner sternhagelvoller Gentleman dort oben, erfror in Sichtweite der Zivilisation und warmer Hütten.

      Mit Ingeborg zu reden war manchmal, als fahre man mit dem Boot den Wasserfall hinunter, und die Zeit verging rasch.

      Und wie steht’s mit dem Job, fragte ich. Da wurde sie plötzlich still. Doch, ja, antwortete sie, aber ich konnte richtig hören, wie es sich hinter ihrer Stirn bewegte, irgendwas war mit ihrer Arbeit, betraf es den Direktor, oder war nur irgendein Reinigungsmittel alle?

      Äh, sagte sie. Aber weißt du, wenn man putzt, ja, da kommt man den Leuten so nahe. Es ist ein Vertrauensverhältnis. Und ich bin unerschütterlich loyal, ja, das bin ich. Du würdest mich nie dazu kriegen, auch nur ein Wort zu sagen, stimmt’s?

      Dem musste ich tatsächlich beipflichten. Sie war die Diskretion selbst, was den Direktor betraf. Sie hatte in seiner großen Villa geputzt, seit ihr Mann in dessen Gerberei gearbeitet hatte. Dann ging die Firma Konkurs, und die Gerberei wurde von einem anderen Norweger aufgekauft, oder besser gesagt einer Norwegerin, und sie hatte den Betrieb wieder angekurbelt, sodass er erneut Gewinn abwarf. Dann, vor ein paar Jahren, hatte Mickelsens Sohn den Laden zurückgekauft, und die Norwegerin war nach Oslo verzogen.

      Die ganze Zeit über hatte Ingeborg für Mickelsen, den Direktor, geputzt. Nie hatte sie anders als in allgemein positiven Worten von ihm geredet. Als seine Frau noch lebte, hatte Ingeborg ab und zu einen gewissen Leistungsdruck verspürt, aber heute schien der Job ihr Dasein regelrecht zu vergolden. Im Moment aber bedrückte sie etwas.

      Was ist los, Ingeborg?, fragte ich ohne Umschweife.

      Ach nichts, antwortete sie, vielleicht mache ich doch, was ich gedacht habe. Wir werden sehen. Vielleicht erzähle ich es dir später mal. Es hat keine Eile.

      Und da hörte ich, dass das Thema erschöpfend behandelt war. Sie wollte nicht mehr sagen. Ich unternahm einen neuen Anlauf. Doch, ja, dem Direktor ging es gut, obwohl er schon achtundachtzig war, und jetzt brauchte sie ja auch nur einmal die Woche zu putzen, und er benutzte nur drei Zimmer, das war kein Problem. Einmal im Jahr kam eine Reinigungsfirma. Die war zwar unglaublich teuer, aber andererseits waren die Leute versichert, denn er hatte ja so viele edle Dinge in seiner Villa. Die hatte er wirklich. Auch ungewöhnliche Dinge, apropos.

      Hatte sie irgendein ungesetzlich eingeschmuggeltes ägyptisches Grabkleinod zu Gesicht bekommen? Man hatte schließlich davon gelesen, wie verrückt manch einer nach Antiquitäten war. Aber Ingeborg schwieg. So einer ist er wohl nicht, antwortete sie nur.

      Danach zogen wir ein bisschen über Marianne her, Ingeborgs andere Nachbarin. Das war eigentlich nicht ganz in Ordnung. Ich kannte sie nicht so gut, aber durch Ingeborgs kategorische Urteile kam ich ihr doch ziemlich nah. Als hätte ich ihr Leben als Film gesehen oder durch einen Roman kennen gelernt – aber das hier war bequemer als selber zu lesen. Es war, als sei die Person, über die wir redeten, kein lebendiger Mensch. Wir wälzten die verschiedensten Fragen hin und her, und Marianne war so eine arme Wurst, die sich leicht benutzen ließ. Sie war nie verheiratet gewesen. War eine so genannte zu Hause wohnende Tochter, und als die Eltern endlich das Zeitliche gesegnet hatten, war sie schon zu alt gewesen, um eine eigene Familie zu gründen. Aber Männer hatte sie doch gehabt, heimlich. Und Ingeborg wusste zu berichten, dass sie auch ein Kind zur Welt gebracht hatte, vor ungefähr fünfzig Jahren oder mehr, aber es wurde sofort weggegeben, und keiner durfte es je erwähnen. Die Familie lebte weiter, als hätte es dieses Kind nie gegeben. Es war ein Mädchen gewesen, glaubte Ingeborg, das soll Mariannes Mutter zu einer Bekannten gesagt haben, aber damals wurde so viel getuschelt, dass man eigentlich nicht wissen konnte, wie es sich wirklich verhielt. Vielleicht war das Kind gestorben. Vielleicht war es auch ein Junge. Oder ein Idiot. Was wusste man denn schon.

      Geheimnisse zu haben ist tatsächlich so, als stellte man sich mitten auf den Markt, dachte ich, nachdem wir aufgelegt hatten. Besser, man sagte, wie sich die Sache verhielt, und nahm den Schlag hin. Ich schämte mich ein bisschen, dass ich so neugierig in Mariannes Leben herumgestochert hatte, ohne dass sie etwas davon wusste. Aber vielleicht stocherte sie genauso lüstern in meinem herum. Schließlich war ich ein uneheliches Kind, ein Bastard. Auch ich verlockte bestimmt dazu, der Fantasie freien Lauf zu lassen. Die Herkunft der Leute hat zu jeder Zeit für Dramatik gesorgt. Ich selbst bin nicht der Meinung, dass Blut dicker ist als irgendeine andere Flüssigkeit, aber bei den Bewohnern dort oben galt eine solche Ansicht als Lästerung, das wusste ich.

      Deshalb war es gut, in Göteborg zu wohnen, da brauchte man sich um diesen Mist nicht zu kümmern. Selbst wenn ich meinen Arbeitskolleginnen erzählen würde, dass ich unehelich geboren bin, würde das niemanden kümmern. Sie würden lachen und sagen, denkst du denn, du bist die Einzige, das kannst du vergessen. Und sie würden Geschichten erzählen, eine schlimmer als die andere. Nach dem Galgenhumor meiner Kolleginnen zu urteilen, konnte ich noch von Glück sagen, dass ich trotzdem eine Mutter gehabt hatte, die sich um mich kümmerte und mich tatsächlich nie im Stich ließ. Dennoch war sie gefühlskalt gewesen. Ich glaube nicht, dass sie mich je wirklich gern gehabt hat.

      Das Gespräch zwischen Ingeborg und mir endete wie immer mit gegenseitigen, im Telegrammstil gehaltenen Gesundheitsberichten. Ich fühlte mich ja ständig zu dick, obwohl Ingeborg mir da nicht zustimmen wollte. Sie selbst bestand nur aus Haut und Knochen, und ich glaubte, dass mein schlimmer Rücken damit zu tun hatte, dass ich zu viel mit mir herumschleppte – sozusagen zu viel Gepäck. Ingeborg tat meine Probleme als Stuss ab und berichtete, dass sie ihrerseits Schmerzen im Daumen verspüre. Das sei bestimmt rheumatisch. Sie klagte gewaltig über ihren Daumen, und das freute mich, denn dann war alles Übrige offenbar völlig in Ordnung. Bestimmt kommt es davon, dass du zu viel Geld zählst, schlug ich vor. Da verstummte das Gejammer mit einem Schnauben. Wir wünschten uns gegenseitig einen guten Schlaf und kamen überein, in ein paar Tagen wieder miteinander zu sprechen.

      Irgendwann spät in der Nacht kam Jan nach Hause. Er bewegte sich leise und schaltete das Licht nicht an, ich hörte ihn am Schrank. Ich wollte aufwachen, schaffte es aber nicht und dachte, wir würden uns wohl am Morgen treffen, er musste bestimmt zeitig raus, wenn er nach Dänemark wollte.

      Das Herz ist nur ein Muskel, dachte ich. Jans Puls schlug sichtbar, die Halsschlagader bewegte sich. Er schlief lautlos, vollständig entspannt. Ich stand im Lichtstreifen, der aus der Küche fiel, und sah ihn an. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel mit der Bitte, ihn schlafen zu lassen, er sei spät nach Hause gekommen, und sie würden nicht vor halb zehn losfahren.

      Ich rechnete aus, dass sie frühestens nach dem Mittagessen auf der Konferenz ankommen würden, aber es gab vermutlich ein konzentriertes Nachmittagsprogramm. Der Vormittag war wohl internen dänischen Fragen vorbehalten.

      Ich hätte ihn gern geweckt. Eine Menge Tage waren jetzt vergangen, ja, Wochen. Die Liebe ist ein Muskel, dachte ich, der arbeitet und pumpt, sich quält und schindet. Ja, Liebe ist Arbeit, sie ist kein Geschenk, kein Gefühl an sich, kein Zustand und kein wohlig warmes Meer, in dem man einfach umhertreibt. Liebe kommt und geht nicht wie Regengüsse und Wolken und wie Blitze am Himmel. Doch, das tut sie, wie Wolken und Wolkenschleier täuscht und entflieht sie zuweilen, und manchmal wird der Sinn vom Blitz verdüstert. Aber vor allem ist die Liebe ein Muskel. Sie ist Arbeit und Wille. Zu wollen, dass einem anderen Menschen nur Gutes geschieht.

      Manche

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