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bin ich mal mehr oder weniger dahin durchgebrannt, und ich durfte bleiben, den ganzen Sommer. Dort erlebte ich meine erste heiße romantische Liebe mit einem Jungen aus der Gegend, aber als die Abende dunkler wurden, sehnte ich mich zurück in die Großstadt, und der Glanz um das Objekt meiner Leidenschaft verblasste genauso schnell, wie er entstanden war. Auf seinem Moped musste er den ganzen langen Weg ins Dorf zurückknattern, ich hatte nicht mehr gewollt. Die Sache deprimierte ihn tief, aber ich war grausam und egoistisch. Tante Ingeborg rief mich in Göteborg an und erzählte, dass er von der Brücke gesprungen und beinahe in den Strudeln ertrunken wäre und dass man den Grund dafür vielleicht in meinem raschen Abgang suchen müsste. Aber nicht einmal da hatte mich die Sache interessiert.

      All das war jetzt viele Jahre her, diese verhärtete Teenagerin, die war ich nicht mehr. Heute versuchte ich jeden Sommer ein paar Tage bei Tante Ingeborg zu verbringen, und unser telefonischer Kontakt war in letzter Zeit richtig intensiv geworden.

      Ich legte Wert auf den Kontakt zu meiner Tante, sie war das letzte zerbrechliche Bindeglied zu meiner Vergangenheit. An dem Tag, an dem sie sterben würde, und sie war bereits vierundsiebzig, wenn zum Glück auch ungewöhnlich gesund und rüstig – sogar einen Job hatte sie acht Stunden die Woche –, also an dem Tag, an dem sie sterben würde, wäre alles verschwunden. Ich hatte keinen Vater, meine Mutter war eine hartherzige Frau gewesen und hatte alle Hände voll zu tun gehabt, uns beide zu versorgen. Ingeborg gab mir das, was meine Mutter nicht hatte geben können. Ingeborg erzählte gern, sowohl Wichtiges als auch Unwichtiges. Eindringlich hatte ich sie gebeten nachzudenken, vielleicht würde sie ja darauf kommen, wer mein Vater war, aber dabei hatte sie mir nicht helfen können. Stattdessen erzählte sie von alten Verwandten, sodass man das Gefühl bekam, sich mitten in einer breiten, schäumenden russischen Seifenoper zu befinden, und sie malte die Gegend mit den verschiedensten Menschenschicksalen aus, ich fühlte eine Art Boden unter den Füßen. Ich kam von einem bestimmten Ort, und ich gehörte dahin. Auch ich. Mein Mann, mein Ein und Alles, befand sich ja in Göteborg und meine Tochter in Jönköping, aber ein Stück von mir würde für immer in den Wäldern dort oben bleiben. Dort oben lagen die Höfe weit auseinander, aber die Menschen hielten fest zusammen, manchmal jedenfalls. Wo die Mücken surrten oder das Nordlicht knisterte – so erlebte ich diese Gegend aus fünfhundert Kilometern Entfernung.

      An diesem Abend rief ich also Ingeborg an.

      Wie gut. Andernfalls hatte sie vorgehabt, sich bei mir zu melden, es war ja ein paar Tage her seit dem letzten Mal.

      Ich erzählte von meiner Angst.

      Sie hatte die Nachrichten ebenfalls gesehen. War das Schweden von heute so? Sie wollte es nicht glauben. Jemand musste dagegen angehen, musste vor dieser wiederauflebenden alten Ideologic warnen, ich sollte stolz darauf sein, einen so engagierten Gatten zu haben. Und Jan war doch ein besonnener Mann, er würde sich keiner unnötigen Gefahr aussetzen, ganz bestimmt nicht.

      Ingeborg konnte so gut trösten. Auf dem Lande war es sicherer, dort wusste man, wo man seine Nazis hatte, aber die blieben ja auch friedlich, sie hatten sich schließlich einmal blamiert, und das war genug. Ingeborg sprach natürlich von der alten Garde. Irgendeine neue gab es nicht, soviel sie wusste, nicht dort in der Gegend. Aber in Ludvika und Borlänge, in Långshyttan und in Nås, dort gab es sie, das hatte sie in der örtlichen Presse gelesen. Nein, sie wollte nicht erzählen, wer die alten waren, es genügte, dass sie selbst es wusste. Sie waren genug gestraft, denk doch, was für eine Schande! Sie hatte nicht vor, diese Leute wieder an den Pranger zu stellen, und die selber bereuten es bestimmt. Dass ich sagte, mein Wissen würde ihnen nicht schaden, zeigte keine Wirkung, der Deckel blieb zu.

      Dann sprachen wir von anderen Dingen. Es gab viel zu bereden. Unsere Gespräche ergaben ein Bild der Umwelt, sie ließ sich besser handhaben, wenn man den Blick mit einem anderen teilte.

      Es lag viel Schnee dort oben, aber jetzt war die Sache mit dem Wegräumen des Schnees bis an ihre Tür geregelt, denn nach Esters Tod hatte sie endlich einen neuen Nachbarn bekommen. Einen Mann um die fünfzig, er hieß Niels, hatte Esters Haus gekauft, und er besaß sowohl einen Traktor als auch einen Schneeskooter. Niels räumte die Straße für sie und auch für Marianne, und er nahm nicht viel Geld dafür. Also endlich war ein richtiger Mann in diesen Teil des Dorfs gekommen, und zu den anderen Höfen war es schließlich ziemlich weit, Marianne und sie waren sehr zufrieden. Ja, sie war es jedenfalls, für Marianne konnte sie ja nicht sprechen.

      Wir redeten ziemlich eingehend über diesen Niels, wir tratschten sogar. Er war geschieden und hatte eine eigene Firma, er verkaufte übers Internet Ersatzteile. Er war aus der Gegend. Wie gewöhnlich wusste Ingeborg das meiste über seine Verwandtschaftsverhältnisse und auch über alle anderen Verhältnisse. Niels kam aus der Familie Walles, und bei denen hatte es sogar einen Oberstudienrat gegeben. Niels hatte, genau wie ich, nur ein erwachsenes Kind, und das war schließlich ein Glück, wo seine Frau ihn satt hatte und sogar weggezogen war. Sie hatten eine Wohnung im Ort gehabt, aber jetzt gehörte ihm also Esters Hof, wo er sich wohl zu fühlen schien, vermutlich weil er dort an den verschiedensten Geräten herumbasteln konnte, er lebte teilweise von diesen Reparaturen. Und man konnte obendrein mit ihm reden. Über alles. Auch über schwierige und komplizierte Dinge, er war ein guter Ratgeber auch in heiklen Fragen. Und er besaß einen Hund und eine Katze, und die Katze würde bald Junge bekommen. Ingeborg war bestens informiert und klang ein wenig aufgedreht.

      Ich scherzte und fragte, ob sie sich vielleicht verguckt habe. Sie schnaufte verächtlich und kicherte. So ein junger Kerl, aber er habe was Besonderes, das habe er wirklich. Er sei auch als UNO-Soldat in Afrika gewesen, und überhaupt sei der neue Nachbar eine angenehme Bekanntschaft, aber das Beste von allem sei natürlich die Sache mit dem Schnee, ich wisse ja, welchen Ärger sie all die Jahre damit gehabt habe. Übrigens, wo wir von Wohnungen sprachen, jetzt müsse ich mir das mal anhören. Die Wohnung, in der Vater und Mutter, also meine Großmutter und mein Großvater zuletzt gewohnt hatten, sollte, abgerissen werden! Obwohl sie völlig modern war! Das ganze Gebäude wollte man abreißen und mehrere andere Mietshäuser ebenfalls, sie sollten dem Erdboden gleichgemacht werden, obwohl sie erst kürzlich gebaut worden waren, irgendwann in den Sechzigern, und über alle Modermitäten verfügten, auch über Waschhäuser und Balkone! Ob ich mir das vorstellen konnte, begriffe ich das? Die Gemeinde verdiente mehrere Millionen Kronen an diesem Abriss. Sonst würden die Häuser weiter leer stehen, und das würde noch viel teurer werden. Sie persönlich verstehe nicht das Geringste, würde ich das begreifen? Klagte man im Fernsehen nicht ständig über Wohnungsnot und Wuchermieten, über den Schwarzmarkt und wer weiß nicht was alles? War es denn dann nicht geradezu kriminell, einwandfreie Wohnungen auf diese Weise zu zerstören?

      Wir machten unserer gemeinsamen Empörung Luft, denn sie hatte schließlich Recht. Die Gemeindebosse lagen mit ihrer Berechnung bestimmt nicht falsch, aber Ingeborg hatte trotzdem Recht. Wir lebten in einer verrückten Welt, darin waren wir uns einig.

      Ich erzählte, dass ich Scholle gebraten hatte, und wir sprachen eine Weile über die Zubereitung von Fisch. Ich verriet indes nichts über meine Austernpläne, die hätten sie bestimmt schockiert, und sie hätte das Lustige daran auch nicht begriffen – später würde ich es ihr erzählen, hinterher. Dann würden wir uns beide mächtig darüber amüsieren, das wollte ich ihr nicht nehmen.

      Karl-Erik war im Augenblick in Belgien. Er fuhr immer auf Montage und kam in der Tat nicht viel öfter nach Hause, als ich Ingeborg besuchte. Aber sie klagte nicht, sie hatte die Einstellung, jeder müsse sein eigenes Leben führen dürfen. Petter, ihr Mann, war früh gestorben, aber sie selbst hatte noch lange nicht die Absicht, alle viere von sich zu strecken, wie sie die Sache beschrieb. Sie hatte ja sogar einen Job. Sie putzte für den alten Direktor. Das war ein ehrenvoller Auftrag, der sie mit Stolz erfüllte, und außerdem verdiente sie fünfhundert Kronen die Woche dazu. Schwarz.

      Sie beklagte sich eine Weile über die Sälen-Touristen. Es sei ja fast unmöglich, über die Fernstraße zu kommen, wenn sie zu ihrer Arbeit oder zum Einkaufen in den Ort runter wollte. Vor allem freitags, samstags und sonntags, wenn die Ferienhäuser die so genannten Wechseltage hatten, das hatte sie lernen müssen. Sie fuhr noch immer selbst, und die Autofahrten munterten sie in der Regel auf, denn oft besuchte sie zugleich irgendwelche alten Bekannten in der Krankenstation oder im Altenheim, und die freuten sich immer riesig. Aber jetzt

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