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obwohl es schon halb sieben Uhr morgens war und sie sonst immer so früh aufstand.

      Als er abgestiegen war und gerade die Vortreppe hinaufgehen wollte, sah er auf halbem Weg zum Erdkeller ein Bündel liegen.

      Es war Ingeborg. Steif. Steif gefroren, neben sich einen umgestoßenen Eimer Kartoffeln. Sie war auf dem Rückweg vom Keller gewesen, als der Tod plötzlich zugeschlagen hatte. Vermutlich hatte sie eine Gehirnblutung erlitten und war einfach zusammengesunken. Das war bereits am Tag zuvor geschehen. Der Arzt hatte gesagt, sie sei vermutlich sofort tot gewesen.

      Der Ärmste, der sie gefunden hatte, war jedoch völlig außer sich geraten. Der Schock hatte ihm Kraft verliehen, und er hatte sie ins Haus getragen, aber es war natürlich nichts mehr zu machen gewesen.

      Der Arzt war gekommen. Und auch die Polizei, das geschah routinemäßig bei Todesfällen im eigenen Haus. Jetzt war ihr Körper im Krankenhaus, in der Leichenhalle, die es dort gab. Der Arzt, mit dem Karl-Erik gesprochen hatte, wollte wissen, ob man eine Obduktion vornehmen dürfe, aber er hatte es abgelehnt, er wollte nicht, dass an ihr herumgeschnippelt wurde.

      Jetzt war er unterwegs nach Hause, der Flieger ging in einer halben Stunde, und dann würde er wohl einen Mietwagen oder ein Taxi nehmen. Er versprach, sich sofort nach seiner Ankunft zu melden. Das hier sei für mich bestimmt genauso schlimm wie für ihn, obwohl er ja ihr einziges Kind war. Aber er wisse ja, wie viel ihr der Kontakt zu mir bedeutet hatte, mir doch wohl auch?

      Ja, natürlich war Ingeborg wichtig für mich.

      Das Telefongespräch endete genauso gedämpft und unsicher, wie es begonnen hatte. Die Trauer war groß, aber beherrscht. Ingeborg war vierundsiebzig Jahre alt geworden. Viele werden nicht älter, das ist der natürliche Lauf des Lebens. Wir würden sie vermissen, das hier war wirklich nicht leicht.

      Es war jetzt halb neun. Es war erst zwei Stunden her, dass man sie gefunden hatte. Sie war tot. Ingeborg war tot.

      Wenn der Boden unter einem einfach verschwindet, geht man dann trotzdem immer weiter?

      Ich ging zu den anderen hinaus. Aber als ich wieder ins Zimmer des Toten kam und ihn dort liegen sah, zu beiden Seiten des Kopfendes eine brennende Kerze, sie hatten sogar einen Zweig von einer der wenigen lebenden Topfpflanzen im Wohnbereich geopfert und ihm die Blume zwischen die gekreuzten Hände gesteckt, überkam mich heftiges Weinen.

      Maj-Lis war bereits woanders zugange, steckte bis über die Ohren in dringenden Arbeitsaufgaben, aber Monica und Elisabeth waren noch dort und kümmerten sich sofort um mich. Setz dich, Siv, ist ja gut, beruhige dich. Ein wunderbarer Mann, herzlich und humorvoll, er hätte ruhig noch einige Zeit leben können. Am besten tränke ich jetzt eine Tasse Kaffee im Pausenraum, es zehre an den Nerven, einen Mitmenschen auf seinen letzten Schritten zu begleiten, das begriffen sie sehr wohl.

      Aber ich verstand ja selbst nicht einmal, was mit mir los war. Das Weinen kam in Wellen, in heftigen Attacken. Mein Kopf sagte mir, dass ich mich beruhigen musste. Tante Ingeborg war tot, das war furchtbar, aber nicht unnormal, sie war schließlich alt gewesen.

      Aber sobald meine Gedanken diese vergangene Zeitform benutzten, dass sie gewesen war und nicht dass sie ist, krampfte sich meine Brust zusammen, und ein neues Schluchzen schüttelte mich.

      Ich verspürte grenzenlose Verzweiflung.

      Allmählich gelang es mir, mich so weit verständlich zu machen, dass meine Kolleginnen den Grund für meine Tränen begriffen.

      Sie nahmen Anteil. Der Todesfall hier bei uns hatte die Arbeit verzögert, und Elisabeth musste los, aber Monica blieb bei mir im Pausenraum sitzen. Das sei kein Problem, sagte sie, obwohl wir beide aus dem Korridor Geklapper und Rufe hörten. Das habe keine Eile, jetzt solle ich in aller Ruhe meinen Kaffee trinken und wieder zu mir kommen. Und sie blieb da. Begann vorsichtig vom Wetter zu reden.

      Das Wetter, ja. Ich versuchte mich zu sammeln.

      Aber Ingeborg war doch tot!

      Es ging nicht. Ich war am Boden zerstört. Ich stürzte in ein tiefes schwarzes Loch – die letzten Wurzelfasern waren durchschnitten, jetzt gab es nichts, überhaupt nichts mehr, und ich hatte Ingeborg doch so ungeheuer gern!

      Hatte sie gern gehabt. Sie war nicht mehr da. Das Schluchzen schüttelte meinen Körper, ich weinte wie ein Kind.

      Am Ende fragte Monica, ob ich jemanden anrufen wolle.

      Ich verstand sie, was sollte sie tun. Hier saß sie mit einer unablässig heulenden Pflegekraft, und bald würde Stig-Erik Rikardssons Tochter den Wohnbereich betreten, müde nach der langen Zugfahrt und vielleicht auch sie völlig niedergeschmettert.

      Ich muss Jan erreichen, schluchzte ich. Ich muss mit meinem Mann reden.

      Während ich wieder im Büro saß und Eva-Marie am Telefon stotternd beizubringen versuchte, dass ich dran war, sah ich Stig-Eriks Tochter kommen. Sie hatte drei kleine rosafarbene Pinocchio-Rosen in der Hand, und Monica führte sie zu ihrem toten Vater hinein. Nach ein paar Minuten kam Monica aus dem Zimmer. Mir war klar, dass sie der Tochter angeboten hatte, eine Weile mit dem Vater allein zu sein.

      Nein, Eva-Marie hatte Jan heute nicht zu Gesicht bekommen. Dass er nach Dänemark sollte, war neu für sie, hörte ich. In dem Fall wäre er doch wohl schon gefahren? Das Schiff würde erst um halb zehn ablegen, antwortete ich, sie hätten sicher einen Bus gemietet, und ans Handy ginge er nicht.

      Komisch, dass sie nichts von dieser Dänemarkreise wusste. Aber die war wohl kurzfristig anberaumt worden, aufgrund der Naziüberfälle. Eva-Marie konnte mir nicht helfen. Ich regte mich richtig über sie auf. Sie machte ihren Job nicht ordentlich, saß wohl nur da und feilte ihre Fingernägel, statt sich um Dinge zu kümmern und darüber Bescheid zu wissen, wo sich die Leute aufhielten. Die Dame sollte mal ein paar Wochen in einer Pflegeabteilung verbringen, das würde ihr das blöde Frauengehabe schon austreiben.

      Tief im Inneren fühlte ich mich gemein. Eva-Marie und ich kamen eigentlich gut miteinander aus. Aber jetzt mochte ich sie plötzlich überhaupt nicht mehr, sondern hielt sie für hochnäsig und unfähig. Und ich selbst befand mich am Rande der Verzweiflung. Hast du es zu Hause versucht?, fragte sie vieldeutig.

      Was sollte Jan um diese Zeit zu Hause, er hielt sich ja wohl immer an seine Arbeitszeiten.

      Dennoch tätigte ich einen Anruf zu Hause. Natürlich ging niemand ans Telefon. Er war wohl schon losgeeilt, war unterwegs zum Stena-Terminal und hatte vergessen, das Handy einzuschalten.

      Es war nicht schwer, Monica zu überreden, mir freizugeben. Ich war ja doch zu keinem größeren Nutzen, und Trauer steckte an, mein Geschluchze brachte dieser Arbeitsstelle keinen Gewinn, wo das, was man produzierte, die Pflege lebendiger Menschen war.

      Glücklicherweise herrschte kein Berufsverkehr, und in der Straßenbahn saßen nur wenige Leute. Ich drückte meine heißen Augen gegen den Chromgriff des Sitzes vor mir, damit sie nicht so rot blieben. Ich hatte mit dem Weinen aufgehört. Hielt es zurück.

      Bei Brunnsparken stieg ich um. In der neuen Bahn gab es mehr Fahrgäste, sie war fast voll besetzt. Das Weinen lag wie ein Stein in mir, ich wusste, dass ich alles loswerden konnte, wenn ich nur Jan fand und seine Arme um mich fühlte. Er, der mein Lebensgefährte, mein Geliebter, der mir nahestehendste Mensch, mein bester Freund und mein Vertrauter war, er kannte mich in- und auswendig, und er würde sofort sehen, wie es um mich stand, würde sich um mich kümmern, und dafür sorgen, dass der kalte Kellergeruch der Ewigkeit mich nicht völlig überschwemmte. Nähe war das Einzige, was gegen die Schwindel erregende Gleichgültigkeit des Todes half. Dagegen, dass schlimmstenfalls alles sinnlos war. Dass ich nie mehr mit Ingeborg reden konnte und keine Antworten auf meine unbeantworteten Fragen erhielt, jene, die ich noch nicht hatte stellen können. Die ich hatte stellen wollen. Wir waren einander immer näher gekommen. Ich hatte mich mit Ingeborg auf einer Reise befunden, als sie plötzlich hinweggerafft wurde. Ingeborg und ich hatten an einer gemeinsamen Erzählung gestrickt, waren gerade dabei gewesen, sie zu heften und einen Saum anzubringen. Jan würde alles von mir abwehren, er würde mich in meiner Trauer über das, was ich jetzt verloren hatte, ausweinen lassen. Und auch darüber, dass mir nun auch die winzigste Chance

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