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und wenn das schlimmste Morgenchaos überstanden war, warteten volle Wäschesäcke, volle Katheterbehälter, Plastikurinflaschen und in manchen Fällen auch Eimer, die der Betreffende neben dem Bett stehen hatte, sie mussten geleert, gespült und mit Desinfektionsmitteln gereinigt werden.

      Schweden wäre ohne uns zum Erliegen gekommen, das wussten wir, das merkten wir, jeden Tag. Svea und Sven waren alt geworden, aber sie hatten ihr Leben lang Steuern gezahlt, und sie waren es wirklich wert, auch auf ihre alten Tage wenigstens ihre Grundbedürfnisse befriedigt zu bekommen.

      Also – wo war jetzt Helgas Gebiss?

      Wir suchten überall. Helga war körperlich gesund und bewegte sich durch alle Räume, aber die Zähne nahm sie nicht freiwillig aus dem Mund, was also war passiert?

      Stig-Erik Rikardssons Zustand war nicht gut. Mit ihm ging es bergab. Während der letzten vierundzwanzig Stunden hatte er nichts zu sich nehmen wollen, und er war auch zu schwach, um aufzustehen. Monica, die Leiterin, hatte die Ärztin gerufen. Ich tätschelte dem alten Kämpfer die Hand, strich ihm über die Wange, fragte, ob ich ihm ein bisschen Saft geben dürfe, und hielt ihm die Schnabeltasse hin. Er schüttelte den Kopf. Er wollte nichts haben. Dein Mund ist bestimmt trocken, versuchte ich es. Nimm nur ein Schlückchen, du wirst sehen, dann fühlst du dich besser.

      Hauptsächlich um mir einen Gefallen zu tun, nahm er ein bisschen Saft, aber ich sah, dass es ihm nicht schmeckte. Seine Tage waren wohl gezählt, schade. Ein netter alter Mann.

      Als Stig-Erik noch auf den Beinen gewesen war, hatte er Geschichten aus der Eriksberg-Werft zum Besten gegeben, eine komischer als die andere – da war keine Langeweile aufgekommen. Jetzt waren seine Augenlider schwer, aber der Blick war klar, geduldig lag er da und ruhte sich aus, es konnte wohl kaum noch die Rede von irgendwelchen großartigen Zukunftsplänen sein. Ich empfand Bewunderung angesichts dieser stillen Gelassenheit, ich hörte nie auf, mich über die Kraft zu wundern, die unsere Alten im Finale des Lebens zeigten.

      In Stig-Eriks Zimmer gab es kein anderes Gebiss als sein eigenes. Das Suchen ging weiter, und ich legte sogar Helga leicht den Arm um die Schultern – was hast du mit deinen Zähnen gemacht, Helga?

      Habt ihr die Hühner rausgelassen?, bekam ich zur Antwort. Etwas anderes war nicht zu erwarten gewesen.

      Am Ende löste sich das Problem. Einem Boten von einem anderen Erdteil gleich betrat der Hausmeister die Räume und verkündete, dass draußen im Beet unter unseren Fenstern ein Grinsen läge und feixe. Also das bloße Grinsen – pur und aufs Wesentliche reduziert. Er konnte es wirklich auf den Punkt bringen, unser guter Hausmeister.

      Ich trug das Gebiss in den Wohnbereich hoch, was konnte daran bloß so eklig sein? Jede Tollwutbakterie oder was es auch sein mochte, wovor der Hausmeister so viel Angst gehabt hatte, war in der Nacht bestimmt erfroren, aber als ich mir die Zähne näher ansah, bemerkte ich, dass daran etwas klebte. Sahnebonbon?

      Ja, so war es. Helga hatte sich in ein Sahnebonbon verbissen, war nicht losgekommen und hatte vermutlich aus reiner Verzweiflung den ganzen Kladderadatsch aus dem Fenster geworfen. Ein spontaner Impuls. Zwei Sekunden später war die Sache aus ihrem Bewusstsein verschwunden.

      Das war Unterhaltung auf höchster Ebene, und es war Glück, aber das wusste ich damals noch nicht.

      Wir verzogen die Gesichter und verdrehten wegen dieser Zähne die Augen, lachten und alberten, niemand wollte ins braune Gras beißen.

      Nachmittags lief im Tagesraum meistens der Fernseher. Nur manchmal schaute sich jemand das Programm an. Doch an diesem Tag hatte ich Helga vor den Bildschirm gesetzt, damit sie stillsaß und ich ihr die Haare entwirren und zum Zopf flechten konnte. Am Morgen war dazu wegen der Zahnprothesendramatik keine Zeit geblieben. Helgas dünnes, staubgraues Haar war so fein, dass es eine komplizierte Angelegenheit war, es ihr auszukämmen, ohne dass sie plötzlich aufstand und weglief. Ich ging mit äußerster Behutsamkeit vor, und Helga starrte auf die flimmernden Männer im Fernseher.

      Plötzlich tauchte Jan auf dem Bildschirm auf! Er war einfach da.

      Er gab ein Interview. In dem Augenblick begann Helga ziemlich laut zu brabbeln, und der Fernseher lief so leise, dass ich nicht hören konnte, was Jan sagte. Bevor ich die Fernbedienung gefunden und den Ton lauter gestellt hatte, war er verschwunden, und die Nachrichten gingen weiter, ohne dass ich Klarheit erhalten hätte.

      Nicht dass ich völlig überrascht gewesen wäre. Jan war in seiner Eigenschaft als Gewerkschaftsfunktionär schon früher im Fernsehen aufgetreten, er galt als streitbar, und man hatte ihm anfangs eine Karriere in der Politik prophezeit. Daraus war allerdings nichts geworden, und ich wusste auch, warum: Er war zu weich. Daran war nichts Schlechtes, aber für diese Dinge war er einfach zu weich, hatte kein ausreichend dickes Fell. Er zog sich lieber zurück, als dass er Krach schlug. Er verabscheute alles, was mit Stunk und Konflikten zusammenhing. Eigentlich war er also auf dem völlig falschen Platz. Aber der war ihm wichtig gewesen, und ich hatte nichts dagegen gehabt, dass er Nagelpistole und Zollstock gegen Computer und Handy eintauschte. Ich dachte, dass es gut für ihn sei, dass er sich nicht abzuschuften brauche, und persönlich sah er in dem Funktionärsjob die Chance, mehr für seine Kollegen tun zu können. Er war ein leidenschaftlicher Betriebsratsvorsitzender gewesen, und niemand hatte seine Ehrenhaftigkeit je angezweifelt. Als Gewerkschaftsfunktionär würde es für sein Engagement mehr Spielraum geben.

      Bestimmt hatte man ihn etwas Politisches gefragt, bezüglich eines neuen Rententarifs, einer Privatisierungsmaßnahme oder einer weiteren Konkurrenzgeschichte, was weiß denn ich? Das politische Zählwerk lief jetzt so schnell, dass es für einen gewöhnlichen Sterblichen unmöglich war, der Sache zu folgen, und selbst Jan, der aus der Politik eine Tugend gemacht hatte, gab zu, die scharfen Kursänderungen nur schwer verstehen zu können. Man konnte nur zu Gott beten und hoffen, dass irgendwo eine gottgleiche Person saß, die einen allumfassenden Überblick hatte über die Volkswirtschaft mit ihren Exportquoten, die Kinder in den Schulen, die Bedrohung unserer Sicherheit und mit genügend Zeit fürs Pflegepersonal, verloren gegangenen Gebissen hinterherzujagen. Ja, man konnte nur hoffen, denn ich persönlich war nicht besonders daran interessiert, und Zeit hätte ich auch nicht gehabt, selbst wenn ich gewollt hätte. Sollte man denn nie leben? Sondern nur nützlich für die Allgemeinheit sein?

      Ich kämmte Helga zu Ende. Sie wurde richtig schmuck. Sie befühlte vorsichtig ihr Haar, als würde sie verstehen. Sie sah aus wie eine zerknautschte kleine Puppe. Früher hatte ihr bestimmt jemand zugeflüstert, du bist so schmuck, Helga, richtig schmuck! Irgendwann mal hatte jemand diese dürren Brüste gedrückt, hatte geflüstert, gestöhnt und gedrängt, wollte ihr richtig nahe kommen, ihr, der Helga.

      Das Leben war wirklich fantastischer, als man einzusehen wagte. Unsere Pflegebedürftigen hatten all das, in dem wir gerade steckten, oder was soeben begann, schon hinter sich. Sie hatten bereits alles erfahren, das ganze Leben. Sie wussten Bescheid, aber sie hatten sich wie Muscheln um ihr Wissen geschlossen. Hier stand ein Stück Gegenwartsgeschichte direkt vor mir, aber die Hirnsynapsen waren außer Funktion, und die Frau befand sich im Zustand totaler geistiger Verwirrung – was hast du eigentlich alles erlebt, Helga?

      Ein wirklich sündiger Gedanke: Manchmal glaubte ich – genau wie bei meiner Mutter –, dass man die Senilität herbeiwünschen konnte, ja, ganz bestimmt war es so. Das war wohl erblich. Aber war die Sünde als solche nicht auch erblich? Erbsünde. Zu der die Kirche sich nicht länger bekannte. Zweifellos gab es sie, dachte ich. Bis ins dritte und vierte Glied. Wenn man nicht reinen Tisch machte.

      So viel war mir zumindest klar – damals schon.

      Damals, als ich noch nicht wusste, wie glücklich ich war.

      Dann ging ich, um Jan anzurufen und zu fragen, was er im Fernsehen gesagt hatte. Die Ärztin war schon in ihrem Dienstzimmer, aber Monica sagte, es gehe in Ordnung, dass ich das Telefon benutze.

      Jan war in der Stadt unterwegs und nicht zu erreichen. Das Mädel aus der Zentrale hatte selbst versucht, ihn auf dem Handy anzurufen, aber es war abgeschaltet. Sie hieß Eva-Marie und wusste, wer ich war. Ach, im Fernsehen war er gewesen, ja, das war nicht sehr verwunderlich, ich hatte ja wohl die Nachrichten gehört?

      Das hatte ich nicht.

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