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musterte Leo einen Moment lang schweigend. »Sie rufen ihn nicht an. Aber er wird auch in der Nähe sein.«

      Leo sah ihr argwöhnisch nach.

      Ich starrte den Umschlag einen Augenblick lang an und grinste, weil es alles andere als Hightech war. Nur mein Name, der fein säuberlich in Großbuchstaben auf dem schmucklosen braunen Umschlag stand. Aber er fühlte sich schwer an. Unheilvoll. Charlie hatte sich bei dieser Sache definitiv für Dramatik entschieden.

      Ich öffnete den Umschlag, und mein Grinsen verblasste, als ich die Fotos und die kopierten Dokumente herausnahm.

      »Was zum Teufel?«, murmelte ich.

      Es waren Fotos von Pässen, vielleicht zwei Dutzend, in verschiedenen Blau-, Grün- und Rottönen. Alle lagen in einer Kiste. »República de Honduras« stand deutlich auf einem, während auf ein paar anderen »Guatemala« oder »Kolumbien« zu lesen war.

      Ich reichte Leo, der zu mir gekommen war, das Foto, ehe ich mir das nächste anschaute.

      Mehr Pässe, aber dieses Mal waren ein paar davon geöffnet, sodass Namen und Fotos sichtbar waren. Einige der Gesichter lächelten, andere waren ernst; es waren Frauen und Männer; alle waren relativ jung und kamen fast ausschließlich aus Mittel- oder Südamerika.

      »Ich versteh es nicht«, murmelte ich.

      Aber als ich das Foto an Leo weitergab und mir das nächste Blatt ansah, glaubte ich, es vielleicht doch zu verstehen, und das machte mich krank.

      Berichte von vermissten Personen aus verschiedenen Städten, denen Fotos beilagen. Mein Spanisch war etwas eingerostet, aber ich verstand das Wesentliche. Dinorah hatte ihr Zuhause in Escuintla wegen eines befristeten Jobs verlassen und war nie zurückgekommen. Genau wie Fernando aus Copán, Tomás aus Guatemala, Isobel aus Bucaramanga, Tala aus Manila, Mercedes aus etwas Unleserlichem und so weiter. Der einzige Unterschied waren die Daten und Städte. Die Umstände waren alle erschreckend ähnlich.

      Ohne aufzuschauen, gab ich diese Blätter weiter und stürzte mich auf den nächsten Stapel. Wieder Bilder, aber dieses Mal … Ein tropisches Resort, vielleicht wie einer dieser oberschicken All-inclusive-Orte? Frauen und Männer faulenzten auf Liegen, die denen, auf denen wir uns ausstreckten, nicht unähnlich waren. Kristallklare Pools und Tiki-Bars mit Grasdächern, private Bungalows und Kellnerinnen in …

      Oh. Oh, Moment mal, eine Sekunde. Ich betrachtete eines der Fotos.

      »Leo!« Ohne aufzusehen, schnippte ich mit den Fingern. »Gib mir den Bericht über Tala Wie-heißt-sie-noch.«

      Leo oder jemand anders gab mir das Blatt, und ich griff blindlings danach, ehe ich zwischen dem Bild der vermissten Frau und dem Foto der Kellnerin hin- und herschaute. Auf dem Foto aus dem Resort schien sie dünner zu sein, so dünn, dass man ihre Rippen zählen konnte, und ihre Haare waren länger, aber das Gesicht war unverwechselbar. Der winzige Leberfleck unter ihrem linken Auge war auf beiden Bildern zu erkennen.

      »Das ist dieselbe Person«, sagte ich und blickte hoch. »Die vermisste Frau aus dem Bericht ist die Kellnerin auf diesem Foto. Und ich wette, wenn wir genau hinsehen, stellen wir fest, dass jede der vermissten Personen ebenfalls in diesem Resort arbeitet.«

      Breck schielte über Steeles Schulter, während der stirnrunzelnd die Bilder von den Pässen betrachtete. Ridge, Carson und Leo gingen die Fotos der vermissten Personen durch. Aber Danny starrte mich direkt an. Eine winzige Falte bildete sich zwischen seinen Brauen.

      »Aber wie?«

      »Weiß nicht«, sagte ich. »Sieht für mich wie Menschenhandel aus.«

      »Also, was werden wir tun?«, fragte er ernst und besorgt.

      Es war seltsam, dass sich Danny in diesem Haufen von Kommando-Typen – Vier-Meter-Steele, Leitender-Mistkerl-vom-Dienst Leo, Mann-der-tausend-Gesichter Carson – an mich wandte, den Technikfreak, der ihm täglich auf die Nerven ging. Seltsam, aber irgendwie auch süß.

      Meine Lippen zuckten kaum merklich. »Wir werden sie finden und nach Hause bringen.«

      Danny nickte knapp, eine Mischung aus Zustimmung und Überzeugung, dass wir es schaffen würden. Total süß und aufrichtig. Wirklich, ein Typ, der so viel durchgemacht hatte wie Danny, sollte nicht in der Lage sein, so unschuldig und niedlich rüberzukommen, aber es war so. Irgendwie fühlte ich mich dadurch besser.

      Ich blätterte die Dokumente durch, die ich noch in der Hand hielt. Es waren weitere Bilder aus dem Resort, einschließlich einer Nahaufnahme des Namens und des Logos, die ich nutzen würde, um sämtliche möglichen und unmöglichen Daten über diesen Ort zu sammeln. Aber dann entdeckte ich ein Bild von Tala, auf dem sie schwanger war und lächelnd den Arm um einen Mann schlang. Der Mann hatte ein Kleinkind auf dem Arm, das so glücklich aussah wie seine Eltern.

      Tala hatte eine Familie. Und ihr Sohn hatte das Lächeln seiner Mutter.

      Und in dem Moment erinnerte ich mich ganz genau daran, warum ich hier war, warum ich mich von einem toten Mann dazu hatte »erpressen« lassen, John Harlan zu Fall zu bringen, und warum ich seitdem in diesem Haus geblieben war. Ein misanthroper Hacker, der Vermögen umverteilte, konnte nicht viel ausrichten, aber jetzt war ich mehr als das. Ich war Teil eines Teams.

      Manchmal mussten selbst die guten Jungs mit schmutzigen Mitteln kämpfen. Manchmal musste man ein wenig betrügen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.

      Na, dann mal los.

      DANNY

      Wesley umklammerte das Foto der vermissten Frau und ihrer Familie so fest, dass seine Fingerspitzen weiß wurden. Ich wusste, wie er sich fühlte. Wir hatten im Kurs für Humangeografie über Menschenhandel gesprochen, aber theoretisch etwas darüber zu lernen, war etwas ganz anderes, als es aus nächster Nähe zu erfahren.

      Wie beim Anschaffengehen. Manche Dinge waren in der Theorie besser als in der Praxis.

      Viele kleine Kinder werden gefragt, was sie später mal werden wollen. Meine Eltern hatten mich nie gefragt. Mein Weg war seit meiner Geburt durchgeplant gewesen. Wahrscheinlich schon vor meiner Geburt.

      Nicht, dass ich eine Antwort gehabt hätte. Ich interessierte mich nicht wirklich leidenschaftlich für eine bestimmte Sache. Wenn ich groß war, wollte ich glücklich sein. Ich wollte das Leben anderer Menschen irgendwie besser machen. Einen Brunnen bauen, eine Schule eröffnen, ein Kätzchen retten, ich weiß nicht. Eins war sicher, ich würde nicht in die Politik gehen. Niemals. Wenn ich nie wieder einen Fuß nach D. C. setzte, würde ich ein glücklicher Mann sein.

      In einem Monat würde ich zwanzig Jahre alt werden. Laut dem Plan meiner Eltern hätte ich im zweiten Studienjahr am christlichen Wheaton College in Illinois sein müssen. Mit einundzwanzig hätte ich einen Abschluss in BWL gehabt, in der Firma angefangen, in der mein Vater arbeitete, wäre die Karriereleiter nach oben geklettert, hätte die Tochter irgendeines Vizepräsidenten geheiratet, zwei wunderschöne Kinder mit ihr bekommen und in einem Haus gelebt, das keine zehn Kilometer von dem meiner Eltern entfernt lag.

      Leider hatte ich mit siebzehn gelernt, dass mein Schwulsein den Vertrag, den ich noch vor der Geburt unterschrieben hatte, null und nichtig machte. Dazu gehörten auch Kost und Logis, die ich für bedingungslos gehalten hatte. Die Klausel musste ich wohl überlesen haben.

      Wer braucht schon die Business School? Ich hatte schon gelernt, wie Verträge funktionieren.

      Anstatt also an dem College zu studieren, auf das wir uns geeinigt hatten, weil es christlich genug war, um meine Eltern glücklich zu machen, und weit genug von ihnen weg, um mich glücklich zu machen, war ich hier.

      Und mit »hier« meine ich: am Pool einer Villa an der Küste Floridas, umgeben von einer Art »Suicide Squad« aus ehemaligen bösen Jungs, während mir eine großartige, verrückte Frau unaufhörlich Cocktails und mehr Essen brachte, als ich in einem Monat zu mir nehmen konnte. Es war nicht schlecht.

      Vor ein paar Monaten war ich obdachlos gewesen, verprügelt

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