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wieder, wie sie es jeden Abend taten.

      Schließlich kamen sie zu den Symbolen.

      „Weißt du, was das hier bedeutet?“, fragte Jordan und deutete auf einen Kreis in einem zweiten Kreis.

      Julia nickte. „Es bedeutet Licht.“

      „Richtig. Es ist das Zeichen der Engel.“

      Und so ging es weiter, Symbol für Symbol. Und es waren nicht wenige, die es zu lernen galt.

      „Die Wahrheit verbirgt sich im Rätsel.“ Das sagte Jordan oft. „Sie ist nie das, was sie vorgibt zu sein. Deshalb müssen wir lernen, sie zu erkennen und zu entziffern. Verlasse dich niemals nur auf deine Augen. Du musst hiermit sehen.“ Er deutete zuerst auf seine Stirn und dann auf sein Herz. „Wenn du das tust, wirst du die Wahrheit erkennen. Du wirst sie sehen.“ Er beugte sich etwas vor und sah Julia tief in die Augen. „Das darfst du niemals vergessen, hast du das verstanden?“

      Sie nickte langsam.

      „Du musst immer genau hinsehen“, fügte Jordan ernst hinzu. „Versprichst du mir das?“

      Sie nickte noch einmal, und dann entließ er sie.

      Bis zum nächsten Abend.

TEIL 1

      1. KAPITEL

      Der Mensch ist des Menschen Hölle

      20. Dezember 2010

      18:25 Uhr

      Mainz

      Der Winter zeigte dem Land sein bissigstes, unschönstes, strengstes Gesicht. Die eisige Kälte ging den Menschen durch Mark und Bein und führte dazu, dass die Ladenbesitzer eine Stunde früher als üblich schlossen und in den Kneipen dreimal so viel Glühwein und Feuerzangenbowle serviert wurde wie an normalen Dezembertagen.

      Ein Nachrichtensprecher im Radio hatte es vor wenigen Minuten ein „Weltuntergangsszenario“ genannt.

       Diese Schneemassen werden uns auch noch die nächsten Tage zu schaffen machen, es werden weitere zwanzig Zentimeter Neuschnee erwartet, was keine guten Nachrichten für diejenigen sind, die irgendwie nach Hause kommen müssen, um die Weihnachtsfeiertage im Kreise ihrer Lieben zu verbringen.“

      Und damit hatte er recht. Der Wind war längst zu einem erbarmungslosen, unberechenbaren Sturm geworden und die Temperatur bis unter den Gefrierpunkt gesunken. Der Schnee lag mehrere Zentimeter hoch und hing gleichzeitig wie ein weißer Spitzenvorhang in der Luft. Eine weiße Masse, wie ein gähnender Schlund, der alles verschlang.

      Im Zimmer der billigen Pension war das Licht gedämpft. Während Julia aus dem Fenster sah, hätte sie nie geahnt, wohin diese Geschichte sie in den nächsten Tagen noch führen würde. Niemals. Nicht in ihren kühnsten Träumen.

      Eva, die erschöpft auf der zerschlissenen Couch saß und deren rote Locken noch unbändiger als sonst in alle Himmelsrichtungen von ihrem Kopf abstanden, fragte: „Warum mussten wir eigentlich ausgerechnet einen derartigen Schrotthaufen von Auto klauen? Die Sprungfedern im Sitz haben Löcher in meinen Hintern gebohrt wie in einen Schweizer Käse. Ich weiß noch nicht einmal, was das für eine Marke ist, mit der du uns da durch die Gegend geschaukelt hast.“

      „Es ist ein Saab“, gab Julia zurück, ohne den Blick vom Fenster zu nehmen. „Und wir sind damit immerhin vom Schwarzwald bis hierher gekommen.“

      „Ja, aber in was für einem Zustand.“

      „Es gab nun mal auf die Schnelle keine andere Lösung.“

      „Nein?“ Eva verzog das Gesicht. „Wir hätten auch einfach dort bleiben können, wo wir waren.“

      „Und darauf warten, dass wir verhaftet werden?“ Julia schüttelte den Kopf. „Das wäre keine gute Idee gewesen.“

      „Früher oder später kommen sie uns sowieso auf die Spur.“

      „Ja. Aber nicht, solange das Wetter so schlecht ist.“

      Sie schwiegen einen Moment. Irgendwo im Haus rauschte Wasser durch eine Leitung.

      Dann sagte Eva: „Und du bist dir sicher, dass das hier funktionieren wird?“

      „Nein.“ Jetzt wandte Julia sich zu ihr um. „Und deshalb solltest du eigentlich auch gar nicht hier sein. Du solltest längst irgendwo anders sein. Es ist viel zu gefährlich. Ich dachte, ich hätte es dir erklärt, aber anscheinend habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt.“

      „Du hast dich deutlich genug ausgedrückt. Aber das hier kannst du alleine nicht schaffen, und das weißt du auch. Du brauchst meine Hilfe.“

      „Tot bist du mir aber keine Hilfe.“

      „Das gilt auch umgekehrt.“ Eva hob die Hände in die Höhe. „Wie, glaubst du, würde es mir gefallen, wenn ich dich alleine lasse und dann irgendwann erfahre, dass du tot bist? Ich sag es dir: gar nicht. Also werde ich an deiner Seite bleiben und mich nicht mehr wegbewegen. Gewöhn dich besser an die Vorstellung.“

      Julia seufzte leise, durchquerte den Raum mit ein paar Schritten und setzte sich neben sie auf die Couch. „Du erstaunst mich.“

      „Warum?“

      „Weil du eigentlich völlig durch den Wind sein müsstest. Erledigt. Fertig mit den Nerven. Am Ende.“

      Eva nickte langsam. „Ja, das müsste ich wohl. Immerhin habe ich vor noch nicht einmal achtundvierzig Stunden einen Mann erschossen – und zwar ohne das geringste Zögern.“ Sie hielt kurz inne, bevor sie fortfuhr: „Und eigentlich ist mir auch ununterbrochen danach, zu weinen, aber ich kann nicht. Es tut mir nicht einmal leid. Es kommt mir selbst merkwürdig vor, dass ich keine Reue empfinde, aber ich tue es nicht. Es ist, als wären all meine Gefühle taub geworden. Ich bin mir nicht sicher, ob mir das gefallen soll, aber es ist nun mal so.“

      „Du stehst immer noch unter Schock“, sagte Julia.

      „Vielleicht. Vielleicht ist es aber auch etwas anderes.“ Eva wandte ihr den Blick zu. „Ich sage mir die ganze Zeit, dass ich schlichte Gerechtigkeit geübt habe. Ich meine, es steht doch sogar in der Bibel, oder nicht? Auge um Auge, Zahn um Zahn.“

      „Du weißt, dass damit etwas anderes gemeint ist.“

      „Das ist alles Auslegungssache.“

      Ja, vermutlich war es das.

      „Cirpka war ein Mörder“, sprach Eva weiter. „Ein durch und durch schlechter Mensch, und ich habe meine Zweifel daran, dass er für seine Taten vor einem ordentlichen Gericht bestraft worden wäre.“

      Julia nickte langsam und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Noch einmal hörte sie den Schuss, sah Cirpka auf dem Boden liegen. Und sie hörte seine letzten Worte: „Finde Sten Kjaer.“

      „Glaubst du, er ist in der Hölle?“, durchbrach Evas Stimme ihre Gedanken.

      Julia öffnete die Augen wieder. „Cirpka?“

      „Ja. Glaubst du, er ist in der Hölle?“

      „Es gibt keinen Ort, der Hölle heißt.“

      „Bist du dir da sicher?“

      „Ganz sicher. Wenn es eine Hölle gibt, dann ist es der Mensch. Der Mensch ist des Menschen Hölle.“

      Darüber dachte Eva einen Moment lang nach. Dann sagte sie: „Wahr ist, dass das, was in den letzten Tagen, Wochen und Monaten passiert ist, teuflisch war, und wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass am Ende das Gute gewinnt, würde ich vermutlich zusammenbrechen.“

      „Ich auch“, gab Julia zu.

      Sie schwiegen wieder einen Moment.

      Dann fragte Eva: „Glaubst du denn, dass Zander noch lebt?“

      Die Frage erwischte Julia nicht kalt. Sie dachte seit Stunden über nichts anderes nach. „Solange

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