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Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
Читать онлайн.Название Guy de Maupassant – Gesammelte Werke
Год выпуска 0
isbn 9783962817695
Автор произведения Guy de Maupassant
Жанр Языкознание
Серия Gesammelte Werke bei Null Papier
Издательство Bookwire
War sie zu Gott zurückgekehrt? Oder beliebig unter neuen Schöpfungen verstreut, mit Keimen vermischt, die zur Frucht heranreiften?
Ganz in ihrer Nähe vielleicht? Weilte sie etwa noch in diesem Zimmer, umkreiste sie den starren Körper, den sie verlassen? Johanna glaubte einen Hauch zu verspüren, wie die Berührung eines Geistes. Sie hatte Furcht, gewaltige Furcht, so heftig, dass sie sich kaum zu regen wagte; ihr Atem stockte, sie vermochte nicht sich umzuwenden, um hinter sich zu schauen. Ihr Herz pochte laut vor Entsetzen.
Plötzlich nahm der Schmetterling seinen unsichtbaren Flug wieder auf und begann rings an die Wände zu klatschen. Ein Schauer durchrieselte sie von oben bis unten; aber dann erkannte sie das Brummen des geflügelten Wesens wieder und beruhigte sich. Sie erhob sich und wandte sich um. Ihr Blick fiel auf den Schreibtisch mit den Sphinx-Köpfen, den Aufbewahrungsort der »Reliquien.«
Eine sonderbare zartfühlende Idee durchzuckte ihr Hirn. Sie wollte lesen, lesen in diesen der Toten so teuren Briefen, heute in der Stunde der letzten Nachtwache, wie sie ein frommes Buch gelesen haben würde. Es kam ihr vor, als erfülle sie eine süsse heilige Pflicht, einen Akt kindlicher Pietät, der der Toten drüben in der andren Welt Freude bereiten würde.
Es waren die alten Briefe ihrer Großeltern, die sie nicht gekannt hatte. Sie wollte ihnen über dem Körper der Tochter die Hand reichen, sich mit ihnen in dieser düstren Nacht vereinen, als hätten sie Teil an diesem Leid; sie wollte eine Art geheimnisvolle Zärtlichkeitskette bilden zwischen den Toten von damals, der stillen Leiche dort und ihr selbst, die noch auf Erden verblieben war.
Sie öffnete die Schreibtischplatte und entnahm der unteren Schieblade ein Dutzend der kleinen gelblichen Papierbündel, welche in musterhafter Ordnung nebeneinander lagen.
Mit einer Art wohlbedachter Sentimentalität breitete sie dieselben auf dem Bett zwischen den Armen der Toten aus und schickte sich an zu lesen.
Es waren jene ehrwürdigen Briefschaften, wie man sie in alten Familienschreibtischen findet; jene Briefschaften, die die Luft eines andren Jahrhunderts atmen.
»Meine Teure!« begann der erste Brief; auf einem zweiten stand »Mein liebes Töchterchen!« dann kam: »Mein Herzchen!« – »Mein angebetetes Töchterchen!« – Liebes Kind!« – »Liebe Adelaïde« – »Liebe Tochter«, je nachdem sie sich an das Kind, an die Tochter und später an die junge Frau richteten.
Und das alles atmete so viel leidenschaftliche Zärtlichkeit, so viel Liebe zum Kinde; es erzählte so viel große und kleine Geheimnisse, und dazwischen wieder allerhand Dinge, die dem Fernerstehenden gleichgültig waren: »Papa hat die Grippe; die Zofe Hortense hat sich den Finger verbrannt; die Katze ›Croquerat‹ ist tot; die Tanne rechts vom Tore ist gefällt worden; Mutter hat ihr Gebetbuch auf dem Rückweg von der Kirche verloren, sie glaubt dass es gestohlen ist.«
Auch von Leuten war darin die Rede, die Johanna zwar persönlich nicht gekannt hatte, deren Namen sie sich aber noch dunkel aus ihrer ersten Jugendzeit erinnerte.
Mit wahrer Zärtlichkeit vertiefte sie sich in diese Einzelheiten, welche ihr wie eine Art Totenerweckung vorkamen. Es war ihr, als trete sie plötzlich in die Vergangenheit ein, als sehe sie alle Geheimnisse, das eigentliche Herzensleben ihrer Mutter vor sich. Sie betrachtete wieder den Leichnam, und plötzlich begann sie ganz laut zu lesen; sie las für die Tote, als wolle sie ihr Zerstreuung und Tracht bringen.
Es kam ihr vor, als ob der Gesichtsausdruck der Verstorbenen ein glücklicher wäre.
Einen nach dem andren legte sie die Briefe zu Füssen des Bettes; sie meinte, man müsse sie statt der Blumen ihr in den Sarg mitgeben.
Sie öffnete ein neues Packet. Es war eine andere Schrift. »Ich kann Deine Zärtlichkeit nicht entbehren. Ich liebe Dich zum Rasendwerden« las sie halblaut.
Weiter nichts; keine Unterschrift.
Verständnislos drehte sie das Papier um. »Madame la baronne Le Perthuis des Vauds« lautete deutlich die Adresse.
Dann öffnete sie das folgende Billet: »Komm’ heute Abend, sobald er fort ist. Wir werden eine Stunde für uns haben. Ich bete Dich an.«
»Ich habe eine Nacht in rasendem Verlangen nach Dir durchträumt. Ich hielt Dich in meinen Armen, Deinen Mund unter meinen Lippen, Deine Augen unter meinen Augen. Und dann hätte ich mich vor Wut aus dem Fenster stürzen können, wenn ich daran dachte, dass Du zu dieser Zeit neben ihm ruhtest, ihm ganz zu eigen wärst …«
Johanna hielt verständnislos inne. Was war das? An wen, für wen, von wem waren diese Liebesbeteuerungen?
Wieder fortfahrend fand sie stets wieder diese wahnwitzigen Liebesschwüre, diese Stelldicheins mit Mahnungen zur Vorsicht, und stets zum Schluss die fünf Worte: »Verbrenne vor allem diese Zeilen!«
Endlich öffnete sie ein nichtssagendes Billet, eine einfache Zusage zu einem Diner, aber mit derselben Handschrift und »Paul d’Ennemare« unterzeichnet. Es war derselbe, den der Baron immer »mein guter alter Paul« nannte, wenn er von ihm sprach, und dessen Gattin die intimste Freundin der Baronin gewesen war.
Johanna’s Zweifel wurden jetzt plötzlich zur vollen Gewissheit. Ihre Mutter hatte einen Liebhaber gehabt?
Und mit einem heftigen Ruck schleuderte sie diese schändlichen Papiere von sich wie ein giftiges Reptil, das sich an ihr emporgewunden hatte. Sie lief an’s Fenster und weinte bitterlich, wobei ein heftiges Schluchzen ihr die Kehle zuschnürte. Dann brach sie ganz vernichtet am Fuss der Fensterbrüstung nieder und verbarg ihr Gesicht in den Vorhängen, damit man ihre Seufzer nicht hörte. So weinte sie in tiefster Verzweiflung bitterlich vor sich hin.
Sie würde vielleicht die ganze Nacht so zugebracht haben, wenn nicht das Geräusch von Schritten im Zimmer nebenan sie mit einem Satze