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jeden Tag zurück zu dieser verrückten Schlacht um das kleine Städtchen Halbe in Brandenburg, zu seinen Kameraden, die mit ihm in dem Unterschlupf neben dem kaputten Tiger-Panzer gelegen hatten. Und zu Maria. Sie hatte ihn damals gerettet und da er sich für etwas Besonderes hielt, musste sie zwangsläufig Teil des großen Plans sein. Gern hätte er gewusst, was aus ihr geworden war. Er zweifelte nicht daran, dass sie die Russen auf dem Hof bei Halbe genauso überlebt hatte wie den ganzen Krieg. Sie war wie er. Ein zähes Distelgewächs.

      Mitte der Fünfziger beschloss er, sie zu suchen, schließlich gehörte er einer riesigen Behörde an, die geheimdienstlich arbeitete. Es dauert drei Monate, dann hatte er ihre Adresse auf einem Zettel notiert vor sich auf dem Schreibtisch liegen. Maria lebte mit ihrer Tochter Greta in Westdeutschland. Zwei Jahre später trafen sie sich zum ersten Mal in Berlin. Er konnte sich seine Gefühle nicht erklären, aber er liebte Maria, das wurde ihm klar, als er sie in dem Café sitzen sah, in dem sie verabredet waren. Ihre Kleidung war ärmlich, dennoch hatte sie versucht, sich so gut es ging herauszuputzen. Sie war kaum gealtert und wirkte immer noch wie das junge Ding, das damals zu ihm in den Unterschlupf hinter den Tigerpanzer gesprungen war. Um ein Haar hätte er ihr den schönen Kopf von den Schultern geschossen. Dann wäre von ihr nicht mehr übrig als eine lose Sammlung von Knochen im weichen Boden der Wälder von Halbe.

      Sie sprachen kaum. Maria war schüchtern und weinte viel, denn auch bei ihr kamen Erinnerungen zutage, die sie tief in sich verschlossen zu haben schien. Sie trafen sich von da an zweimal im Jahr im selben Café in Westberlin. Josef gab ihr etwas Geld, denn sonst hätte sie sich die Reise nicht leisten können. Bei ihrem fünften Treffen schliefen sie miteinander. Sie mussten gar nicht darüber sprechen, sondern ging vom Café aus direkt in ihr kleines Hotelzimmer in Charlottenburg, zogen sich aus und taten es noch im Stehen direkt neben der Tür. Josef ließ sich scheiden. Von da an kam Maria auch zu ihm in den Osten. Doch heiraten wollte sie ihn nicht, denn ein Umzug in die DDR kam für sie nicht infrage. Josef versuchte energisch, auf sie einzuwirken, aber Maria verkündete, niemals in einem Land leben zu wollen, das mit den Russen befreundet sei. Mit dieser Entscheidung ging ihnen ihre Leichtigkeit verloren, trotzdem trafen sie sich weiter. Es schien, als seien sie aneinander gekettet, weil sie niemanden anderes hatten.

      Dann starb Maria 1972 überraschend und nahezu ohne Vorwarnung. Für Josef brach eine Welt zusammen. Er schaffte es nicht einmal zu ihrer Beerdigung. Für ihn begannen die Jahre der Qual. Er trank eine Weile mehr als ihm guttat, versuchte sich an verschiedenen chemischen Substanzen, wechselte intern zum Auslandsgeheimdienst HVA und ließ sich nach Rumänien versetzen. Dort half er der Securitate bei der Ausbildung von Rekruten oder arbeitete in einem Kerker in der Nähe von Bukarest. So verschaffte er sich zeitweise Erleichterung, zugleich handelte er sich den Ruf als deutscher Duch ein. Das brachte ihn zum Nachdenken, denn Duch war der Kampfname von Kaing Guek Eav, einem Mitglied der Roten Khmer in Kambodscha und Leiter des berüchtigten Foltergefängnisses in Phnom Penh. Zwar erfüllte selbst Duch nur seine Pflicht – eigentlich war er Lehrer und nur zufällig zum Folterknecht geworden –, aber der Vergleich mit diesem psychopathischen Massenmörder ging Josef doch zu weit. Er kehrte nach Berlin zurück, ließ die chemischen Substanzen weg und konzentrierte sich wieder auf seine Karriere.

      Doch er musste einsehen, zu spät zu kommen. Die DDR hatte ihre besten Tage hinter sich. Sein Staat, dem er alles geopfert hatte, war finanziell am Ende. Ironischerweise war man ausgerechnet abhängig vom Westen. Franz-Josef Strauß hatte dafür gesorgt, dass die DDR Milliardenkredite von der BRD erhielt. Statt aktiv für den Sieg des Sozialismus zu kämpfen, war das MfS verstärkt darum bemüht, Zahlen zu schönen, Unmut in der Bevölkerung zu dämpfen, die wachsende Opposition zu zersetzen oder mit meist dubiosen Geschäften Westmark zu erwirtschaften. Für Josef war das alles ein großer Witz. Manchmal kam es ihm so vor, als befände er sich wieder im Kessel von Halbe. Sie führten eine Schlacht, die sie längst verloren hatten, doch wehe jemand sprach aus, was viele ahnten. Das MfS war zum Hüter der Denkverbote verkommen. Dabei war die BRD selbst, ohne es zu merken, dem Abgrund gefährlich nahe. Die neoliberalen Kräfte, die sowohl in den USA, in Großbritannien und verstärkt in Westdeutschland den politischen Diskurs bestimmten, würden letztendlich dafür sorgen, das System auszuhöhlen, denn die wachsende soziale Ungerechtigkeit trieb einen Keil zwischen die Menschen, der einen kaum zu kittenden Schaden anrichtete. Um den Frieden zu wahren, müssten eines Tages diejenigen, die unverhältnismäßig viel besaßen, denen, die nichts hatten, etwas abgeben. Aber so etwas taten Menschen nicht freiwillig. Das zeigte die Geschichte. Am Ende würden die radikal liberalisierten Demokratien in einem gewalttätigen Exzess auseinanderfliegen. Die DDR würde es allerdings schon früher erwischen.

      Josef versank in Resignation, bis ihn eines Tages sein Adlatus Lutz in die Wirklichkeit zurückholte, indem er alle Form vergessend in Josefs Büro platzte.

      »Ihr Sohn ist verschwunden, Herr Genosse!«, schrie er nervös. »Es gibt ernst zu nehmende Anhaltspunkte, er könnte republikflüchtig sein!«

      Josef spürte, wie sich seine Haare im Nacken aufstellten. »Lutz, Sie gehen jetzt aus meinem Zimmer«, antwortete er ganz ruhig, »schließen die Tür, zählen bis zehn, klopfen und warten, was geschieht. Ist das klar?«

      Lutz wurde bleich, machte auf dem Absatz kehrt und folgte den Anweisungen seines Chefs. Josef ballte die Fäuste und beobachtete, wie sich seine Knöchel weiß verfärbten. Es kostet ihn alle Mühe, nicht aufzuspringen, den Jungen in sein Büro zu zerren und halb tot zu prügeln. Zwar war Lutz nur der Überbringer der schlechten Nachricht, aber denen war es in der Geschichte oft genug an den Kragen gegangen. Es klopfte. Josef zählte seinerseits bis zehn und öffnete dann seine schmerzenden Fäuste.

      »Komm rein!«

      Die Tür wurde vorsichtig aufgestoßen. Lutz stand kerzengerade und sprach, ohne Josef dabei anzusehen. »Genosse Tillinger, ich habe eine Botschaft von einem IM erhalten, die Sie interessieren wird. Ich bitte, eintreten zu dürfen.«

      »Gewährt«, rief Josef unfreundlich.

      Lutz gehorchte. »Ihr Sohn Laurenz ist mit seinem Sohn Dieter seit zwei Tagen verschwunden.«

      »Woher weißt du das?«

      »Der inoffizielle Mitarbeiter …«

      »Klartext. Für Spielchen habe ich keine Zeit.«

      »Seine geschiedene Frau, Ihre Schwiegertochter Hilde, will sagen ehemalige Schwieger…«

      Josef schlug krachend auf den Tisch. »Verdammt, sprich einfach und kümmere dich nicht um die Formulierungen. Ich bin keiner von den Bürokratenhengsten, die hier sonst so rumlaufen. Wenn du für die arbeiten willst, dann mach nur so weiter.«

      »Ihre ehemalige Schwiegertochter Hilde hat mich wie vereinbart kontaktiert. Wir haben sie nach Ihren Instruktionen zur Aufklärung der …«

      »Ich kenne Hildes Funktion.«

      Lutz hüpfte albern von einem Bein aufs andere. »Im Rahmen der frühzeitigen Aufdeckung feindlicher Aktivitäten mit dem Ziele der Schädigung der Deutschen Demokratischen Republik liefert mir Ihre ehemalige Schwiegertochter bis heute wichtige Erkenntnisse. Leider scheint in diesem Fall eine Vorbeugung von Straftaten dennoch nicht gelungen zu sein. So ist es ihr derzeit nicht möglich, Kontakt zu den Zielpersonen zu knüpfen.«

      »Sollten Sie meinen Sohn und Enkel meinen, dann sagen Sie das doch einfach.« Obwohl Josef von Beginn an Teil dieser Behörde war, konnte er sich mit dem gängigen Jargon selbst nach über drei Jahrzehnten nicht anfreunden. Militärische Disziplin bestimmte das Wesen des MfS bis ins letzte Detail. Besonders die jüngeren Kollegen schienen anzunehmen, ihre Professionalität durch einen technokratischen Duktus beweisen zu müssen.

      »Richtig. Ihre ehemalige Schwiegertochter ist gestern zu Ihrem Sohn gefahren, um ihrem gemeinsamen Kind Dieter einen Besuch abzustatten. Dort konnte sie die beiden nicht antreffen. Alarmiert hat sie mehrere Stunden vor dem Haus gewartet. Ohne Ergebnis. Die Befragung der Nachbarn – alles ganz unverdächtig, da man sich kennt – ergab, dass Ihr Sohn Laurenz Tillinger mit dem Kind Dieter schon seit nun mehr über zwei Tagen nicht mehr zuhause war. An seiner Arbeitsstelle ist er nicht erschienen. Ihr Enkel Dieter ist nicht in der Schule gewesen. Ihr Sohn Laurenz hat dort am Tag vor dem Verschwinden eine Krankmeldung für die

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