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so nah, dass Lejlas Körper erzitterte. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihr Tränen über die Wangen in den Mund liefen. Sie schmeckten salzig. Auch die Frau des Buchhändlers begann zu weinen.

      »Warum heult die jetzt?«, fragte der Metzger in Richtung der anderen. »Die ist doch eine von denen, die uns beschießen.«

      »Sie hat Angst«, sagte Lejlas Mutter zum Metzger. »Hast du etwa keine?«

      Lejla bewunderte sie für ihren Mut. In letzter Zeit hatten sie sich oft gestritten. Lejla hatte sich nicht mehr wie ein Kind behandeln lassen wollen. Aber mit dem Krieg war alles anders geworden. Jetzt ging es nicht mehr um sie.

      »Ich habe jetzt genug«, schrie der Bäcker aufgebracht. »Das ist mein Keller!«

      »Und das bedeutet?«, fragte der Fischer. »Willst du zu den Serben auf den Berg stapfen und sie bitten, mit dem Schießen aufzuhören, weil sie deinen Keller treffen könnten?«

      Der Bäcker schnaufte wütend. »Quatsch! Mir genügt es, den Feind in unseren Reihen zu wissen. Ich habe euch hier aufgenommen, weil ihr meine Freunde und Nachbarn seid. Aber ein Serbe ist heutzutage keiner mehr von uns!«

      Alle schauten den Buchhändler an, der unruhig auf der Bank hin und her rutschte.

      »So weit ist es gekommen«, sagte der Metzger. »Dem eigenen Nachbarn kann man nicht mehr trauen.«

      »Das ist doch Unsinn!«, entgegnete der Fischer. »Milos und seine Frau können doch nichts für den Krieg.«

      »Der Buchhändler und seine Frau müssen raus. Ende der Diskussion!«, rief der Bäcker.

      »Das ist vielleicht dein Keller, aber wir alle sind dran, wenn uns eine Granate erwischt«, widersprach Lejlas Mutter. »Deshalb kannst du nicht allein entscheiden, was geschieht.«

      Die Lehrerin murmelte fromme Verse. Der Metzger fluchte unanständig. Der Fischer nickte, als wolle er Lejlas Mutter zustimmen.

      »In Ordnung. Wir machen es anständig«, lenkte der Bäcker ein. »Wir stimmen ab. Alle über achtzehn sind stimmberechtigt.«

      »Das klingt gerecht«, sagte der Metzger.

      »Gerecht?«, krächzte der Buchhändler, dem der Schreck sämtliche Farbe aus dem Gesicht getrieben hatte. »Ihr überlegt, wie ihr meine Frau und mich in den Tod schicken könnt und sprecht davon, es sei gerecht?«

      »So ist das im Krieg«, erklärte der Metzger.

      »Dann ist es beschlossen«, sagte der Bäcker. »Milos und seine Frau haben natürlich keine Stimme.«

      »Wir machen einfach reihum«, flüsterte die Lehrerin mit finsterer Miene. »Ich beginne und stimme dafür, Serben aus dem Keller zu verweisen.«

      »Du hast als junges Mädchen schon auf unsere Tochter aufgepasst«, sagte die Frau des Buchhändlers verzweifelt. »Und jetzt willst du uns aus dem Keller werfen?«

      Lejla erinnerte sich an das Kind der Buchhändlerfamilie. Es war vor einigen Jahren bei einem Autounfall gestorben.

      »Wir wollen abstimmen, nicht diskutieren!«, bestimmte der Bäcker schroff.

      Lejlas Mutter seufzte. »Dagegen.«

      Der Fischer: »Dagegen.«

      Die Bäckerin: »Dafür.«

      Der Metzger: »Dafür«

      Der Bäcker: »Dafür.«

      Die Frau des Buchhändlers schrie verzweifelt auf, er brach in Tränen aus.

      »Tut uns leid, Milos«, erklärte der Bäcker in einem selbstgefälligen Tonfall. »Aber du musst das akzeptieren. Die Mehrheit hat entschieden.«

      Zu Lejlas Überraschung rappelten sich die beiden Ausgeschlossenen widerstandslos auf. Der Bäcker öffnete die Metalltür und der Buchhändler trotteten gefolgt von seiner zitternden Frau aus dem Keller die Treppe aufwärts. Lejla schaute ihnen erstaunt nach. Sie spürte Schuld, die sich auf alle legte, die zurückblieben. Sie waren nicht länger nur die Opfer des Krieges. Wieder krachten Geschosse in die Häuser. Die Bäckerin und ihre Tochter schrien parallel auf und umklammerten sich. Lejla fühlte warme Feuchtigkeit in ihrer Hose. Aber sie schämte sich nicht. Das alles spielte keine Rolle mehr. Wer fragte schon nach einem sauberen Höschen, wenn um einen herum alles explodierte?

      »Der in uns den Glauben vermehre«, murmelte Lejlas Lehrerin. »Der in uns die Hoffnung stärke. Der in uns die Liebe entzünde.«

      Lejla erfuhr nie, ob der Buchhändler und seine Frau den Angriff auf Dubrovnik überlebten. Niemand sah sie wieder, niemand fand ihre Leichen, niemand hörte etwas von ihnen und keiner fragte nach. Sie verschwanden einfach, als wäre all das im Keller des Bäckers nie geschehen, als wären sie niemals Bürger Dubrovniks gewesen. Und auch Lejla sollte gehen, denn die Serben wurden nicht müde, Granaten auf die Stadt zu schießen.

       1991

      Kurz vor den Weihnachtsferien stapfte ich mit einer eingebildeten Teenagerdepression nach Hause. Das war zu dieser Zeit so etwas wie mein Markenzeichen. In der Schule quälte mich meine Klassenlehrerin, zuhause mein großer Bruder. Meine kleine Schwester, an der ich meinen Frust hätte auslassen können, verbrachte ein Schuljahr in den USA. Außerdem war schlechtes Wetter, meine Schuhe drückten und als wäre das alles nichts, gingen die anderen aus meiner Klasse am Nachmittag zum Eislaufen. Dann hielten Mädchen und Jungen Händchen, während sie zu Phil Collins im Kreis schlitterten. Andere rauchten heimlich hinter der Eishalle, die besonders Harten tranken dazu Bier. Die festen Pärchen trafen sich im Gebüsch, um zu knutschen oder Sachen zu machen, von denen ich trotz meiner fünfzehn Jahre bisher ausschließlich theoretische Kenntnisse hatte. Bei einigen Dingen hinkte ich hinterher. Außerdem hasste ich Phil Collins.

      Aus Trotz machte ich einen Abstecher zu Andis Plattenladen, der sich praktischerweise im Vorderhaus der Bonner Straße 42 befand. Andi war einer der besten Freunde meiner Mutter. Die beiden kannten sich seit Studententagen. Mir machte das manchmal Sorge, denn Andi war ein echter Freak. Sein Leben bestand aus Vinyl. Er kannte so ziemlich jede Band und jeden Musiker dieses Planeten – zumindest aus den Genres Rock, Metal und Punk. Man hätte ihn als eine Art lebendes Musikkompendium beschreiben können. Dabei schien er allerdings vergessen zu haben, Gesellschaftskonformitäten wie Frau, Kind, Haus, Auto, Hund und Rentenversicherung auf die Reihe zu bekommen. Ab und zu tat er mir fast Leid, wenn ich an seinem Laden vorbei nach Hause ging und ihn einsam hinter seinem Tresen stehen sah. An diesem Tag suchte ich ihn auf, um mich davon abzulenken, dass meine Altersgenossen Madonna und Phil Collins hörten. Gut, ich selbst war eine Weile in Madonna verliebt gewesen – oder in ihr Bild auf der Single von Material Girl. Aber das war in den Achtzigern gewesen, ich ein orientierungsloses Kind und Madonna eine Frau, die mit Sex und Popmusik dabei war, die ganze Welt um den Finger zu wickeln. Andi schwärmte von der neuen Platte einer Gruppe namens Nirvana, von der ich noch nie gehört hatte. Ich hatte keine Lust auf eine weitere Hippieband nach Andis Geschmack und sah zu, nach Hause zu kommen. Der Tag würde nichts Gutes hervorbringen, das ließ sich mühelos prognostizieren.

      Vor unserer Wohnung fand ich einen an die Tür geklebten Zettel. Unser Nachbar bat darum, bei ihm zu klingeln. Es sei wichtig. Das war keine gute Nachricht. Herr Lörich erfüllte alle Voraussetzungen eines eigenartigen Kauzes. Er hatte mit irgendeinem neuartigen Computerkram extrem viel Geld verdient und vor ein paar Jahren die Wohnung im Stockwerk über uns sowie die beiden Ladenlokale im Vorderhaus gekauft. Seitdem schien er keiner echten Beschäftigung nachzugehen. Stattdessen spielte er den netten Onkel aus der zweiten Etage, Hausmeister ehrenhalber, Smalltalkpartner für alle Lebenslangen und solche Sachen. Dabei war er noch gar nicht so alt, ich schätzte ihn auf dreißig oder vierzig.

      Ich schloss die Tür auf, ging in die Küche, erinnerte mich daran, dass meine Mutter erst nachmittags wiederkommen würde, schleuderte frustriert meine Tasche in die Ecke, kehrte um und stiefelte die Treppe hinauf bis zu Herrn Lörichs Wohnung. Ich wollte nicht schuld sein, geschah am Ende irgendetwas Schlimmes, weil ich einen Zettel ignoriert hatte. Kaum war das aufdringliche Rappeln der Klingel verstummt, öffnete Herr Lörich die Tür. Er wirkte wie immer wie

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