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Bäckerei der Gebrüder Bellof, Tante Yildiz’ staubige Schneiderei und natürlich das Kettmanns, die beste Pommesbude der Stadt, wahrscheinlich sogar des Universums. Ich liebte das Kettmanns. Die Pommes waren goldgelb, sie waren knusprig und nie matschig, die Mayo gab es in einem mächtigen, glänzenden Haufen obendrauf, so dass man zu Beginn ein Verhältnis von fünfzig Prozent frittierter Kartoffel zu fünfzig Prozent Mayofett im Mund hatte, bis man sich allmählich zum Boden der Pappschale durchfutterte und der Pommesanteil stieg. Am Bahnhof hatten Anfang der Neunziger einige türkische Läden aufgemacht, die Döner verkauften, das zog einen Teil der Kundschaft weg vom Kettmanns, aber ich schwor mir, meiner Pommesbude treu zu bleiben, denn Fleisch mit Salat in Brot klang zwar ganz nett, aber ordentlich in Fett zubereitete Kartoffelstreifen konnten es mit Hammel am Spieß jederzeit aufnehmen. Bei Kettmanns gab es dazu Wurst in allen Variationen und natürlich Schnitzel und Hähnchen, die auch nicht schlecht waren. Ich persönlich bevorzugte neben den Pommes die Frikadellen, die geheimnisvoll nach mehr als Hack schmeckten. Döner wurde in der besten Pommesbude des Universums nie serviert und das gefiel mir, weil Schuster bei ihren Leisten bleiben sollten, wie Herr Lörich zu sagen pflegte.

      Während Lejla meine kleine Welt kennenlernte, hatten die Kroaten im Frühjahr 1992 die Schlacht um Dubrovnik für sich entschieden. Uns erreichte die Nachricht, dass niemand aus Lejlas Familie dabei zu Schaden gekommen war, allerdings war ihr Haus größtenteils zerstört und musste wiederaufgebaut werden. Da im Umfeld der Stadt nach wie vor gekämpft wurde, sollte Lejla vorerst bei uns bleiben. Das beruhigte mich, denn ich hatte mich an ihre Anwesenheit gewöhnt, vielleicht sogar mehr als das. Ich blieb morgens länger als sonst vor dem Spiegel stehen, um meine Frisur zu kontrollieren oder nach neuen Pickeln im Gesicht Ausschau zu halten, bevor ich zum Frühstück in die Küche ging. Lejla war stets vor mir da, hockte die Beine angewinkelt vor den Körper gepresst und das Kinn auf die Knie gelegt auf einem Stuhl und schlürfte an einer Tasse mit Kaffee – sie war gerade erst fünfzehn geworden und trank ihn schwarz, was ich extrem sexy fand. Meistens schenkte sie mir zur Begrüßung ein müdes Lächeln und ließ damit mein Herz schneller schlagen. Bevor wir sie aufgenommen hatten, wären mir solche Formulieren albern vorgekommen. Das Herz schlägt schneller, der Atem bleibt einem weg, Schmetterlinge im Bauch, Frühlingsgefühle haben. Lächerlich! Jetzt konnte ich es spüren, es war wirklich so. Sobald ich Lejla sah, tanzte etwas in meinem Magen. Ich konnte in ihrer Anwesenheit kaum essen, bekam feuchte Hände und lachte hysterisch über alles, was sie sagte. Meine Mutter beobachtete meine peinliche Teenagerposse mit einem gutmütigen Grinsen im Gesicht. Problematisch gestaltete sich Lejlas Reaktion auf mein Gebaren. Sie interessierte sich einfach nicht für mich. Zumindest kam es mir so vor. Bestätigt sah ich mich, als ich sie hinter der Turnhalle der Schule ausgerechnet mit meinem Klassenkameraden Axtbrecher beobachtete, einem Vollidioten vor dem Herrn, super Noten, reiche Eltern, ausgefallene Frisuren, große Klappe und arrogant bis in die letzte Haarspitze. Vermutlich hatte er schon mit der Muttermilch die Überzeugung aufgesogen, nahezu allen anderen Menschen des Planeten grundsätzlich überlegen zu sein. Diskutierte man mit ihm, dann hatte er recht, ganz egal, worum es ging, denn sein Argument atmete die Legitimation eines Axtbrechers. Er besaß die Deutungshoheit über die Worte, über das Wesen der Dinge, über den Humor und die Gefühle. Ich war ziemlich weit weg, aber ich glaubte einigermaßen sicher sehen zu können, wie die beiden Händchen hielten und er ihr einen Kuss auf die Wange drückte. In diesem Moment hasste ich Axtbrecher mehr als jeden anderen Menschen zuvor.

      Um überhaupt weiterleben zu können, flüchtete ich mich in die innere Emigration. Natürlich begegnete ich Lejla regelmäßig in unserer Wohnung, aber ich stellte jede überflüssige Kommunikation ein und vermied es weitestgehend, mich im selben Raum wie sie aufzuhalten. Meine Mutter bemerkte meine schlechte Stimmung, aber mit ihrem bescheuerten Ansatz der antiautoritären Erziehung ließ sie ihren jugendlichen Sohn Miseren lieber selbst lösen, als sich aktiv einzuschalten. Das war auf der einen Seite gut, denn ich fand es schwierig, mit meiner Mutter über Emotionen zu sprechen, andererseits hätte ich ihre Hilfe in dieser Phase meines Lebens gut gebrauchen können, denn ich haderte allgemein mit mir. Ich war nicht sonderlich beliebt unter Gleichaltrigen, hatte nur oberflächlich gute Freunde. Nach und nach manifestierte sich, dass ich niemals ein herausragender Basketballer werden würde, weil ich nicht anständig wachsen wollte und mir das letzte Quäntchen Talent abging. Zusätzlich fehlte mir jeder Bartwuchs, wie oft ich meine Haut auch mit einem Rasierer malträtierte – ich glaubte an das Märchen, das würde meine Haarwurzeln samt Wuchs stimulieren. Und dann die Sache mit Lejla. Also verbarrikadierte ich mich so gut es ging in meinem Zimmer und tat so, als gäbe es keine Welt außerhalb der dunklen Hallen von Wolfenstein 3D. Meine Noten fielen innerhalb von Wochen ins Bodenlose. Dafür erarbeitete ich erfolgreich Strategien, um erstens in meiner virtuellen Co-Existenz von Wolfenstein möglichst viele Nazis abzuknallen und zweitens in der Realität Lejla auszuweichen. Meine Lehrer bemerkten nichts von meiner Pein. Sie zogen die üblichen Erklärungsversuche für mein Absacken heran: Faulheit, Dummheit, mangelnde Demut, Aufmüpfigkeit, Ignoranz, Desinteresse. Ein zutiefst verunsicherter Zehntklässler wie ich wurde, statt in den metaphorischen Arm genommen zu werden, auseinandergewalzt und anschließend zusammengefaltet. Besonders meine Klassenlehrerin Frau Krone zermalmte mein Ego durch kontinuierliche Hinweise auf meine Inkompetenz in nahezu allen Teilbereichen der menschlichen Existenz. It is now my duty to completely drain you, sang Kurt Cobain von dieser neuen Band namens Nirvana, die ich inzwischen doch leiden konnte. Dabei sah ich Frau Krone vor meinem inneren Auge, wie sie an ihrem Pult saß und diabolisch lächelte.

       Canossa

      Im Keller finde ich noch ein gutes Dutzend Umzugskartons hinter einigen Säcken alter Wäsche von Alina. Sie wirft nicht gern weg, sondern sammelt lieber unnütz. Ich trete einige Mal wütend vor einen der Säcke, bis er platzt und ein paar T-Shirts herausfallen. Ein echter cholerischer Anfall sieht anders aus, aber was nicht ist, kann bekanntlich noch werden. Ich schlörre die leeren Kartons nach oben in die Wohnung. Spätestens nächste Woche werde ich zurück in die Bonner Straße ziehen. Der ein oder andere wird mir einen Rückschritt attestieren, aber ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss. Zurück zu Mama, selbst wenn die im Knast sitzt. Ich treffe Entscheidungen, zur Not auch unsinnige. In dieser Wohnung kann ich nicht mehr bleiben. Sie ist zu steril, zu zweckmäßig eingerichtet, zu spießig modern dekoriert. Jeder, der hier eintritt, sagt sofort parolenhafte Sätze im Stile von: Das ist ja schnuckelig hier, alles wirkt so hochwertig, das kann ich mir vorstellen, dass ihr euch hier wohl fühlt. Und am Schlimmsten, das untote Schaf unter den schwarzen: Ach ja, bei euch sieht man sofort Alinas Handschrift.

      Einen Scheißdreck sieht man! Ich denke es in Großbuchstaben. Einen Scheißdreck! Hier bleibt ab sofort kein Accessoire auf dem anderen, Alinas Handschrift wird ausradiert. Kaum ist der Entschluss gefasst, geht es mir besser. Auf einer Skala von eins bis ungefähr vierzehn, in der eins für unterirdische Scheiße steht und alles darüber bisher unerforscht geblieben ist, wage ich einen Blick ins Unbekannte. To boldly go where no one has gone before, wie Captain Picard so schön sagt. Ich gebe ein erleichtertes Geräusch von mir, das mich entfernt an ein Maultier erinnert, dann beginne ich, Kartons zusammenzustecken. Nach fünf Durchgängen Steckexerzitium fühle ich mich ermattet, falle zurück auf eine Beton-Eins in meiner Skala. Captain Picard kann mich mal. Ich könnte in die Bürgerpflicht gehen. In seiner eigenen Kneipe zu trinken, ist in vielen Situationen ein angemessener Ausweg. Heute ist Musikabend. Unser Pianist Hank Memphis spielt. Er ist talentiert, wenn auch ein wenig verschroben. Leider hat Thai Thekendienst. Ihr herkömmlicher Gemütszustand ist gut gelaunt. Das ist heute nichts für mich.

      Ich lege mich aufs Sofa und schaue ein paar Stunden Fernsehen. Ich kann nicht mehr bewegen als meinen rechten Zeigefinger, um die Kanäle umzuschalten. Anna ruft an und labert mich mit irgendeinem Blödsinn voll, der mich nicht interessiert. Ich lege einfach auf und schalte das Telefon aus. Als die Sonne endlich untergegangen ist, öffne ich eine Flasche Wein und entwickele dabei so etwas wie Elan. Alles, was mit Alina zu tun hat, stapele ich im Arbeitszimmer. Meine Sachen, die ich behalten möchte, kommen in die Kisten oder ins Schlafzimmer aufs Bett. Alles, was weg soll, lasse ich an Ort und Stelle stehen oder liegen. Mir fällt ein H&M-Katalog in die Hände. Auf dem Cover ist eine attraktive Frau in einem knappen Bikini abgebildet. Thai hat mir erzählt, sie engagiere sich gegen sexistische und misogyne Werbung. Ich blättere durch den Katalog und überlege, ob ich masturbieren soll, komme mir dann aber schäbig

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