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zu schauen.

      »Blöde Kuh ist ja wohl nichts gegen dumme Polin«, warf Dillinger ein. »Das ist rassistisch. Außerdem stammt Lejla aus Kroatien und nicht aus Polen.«

      »Und sie behauptet, ich sei nur hier, um euch Deutschen das Geld wegzunehmen«, ergänzte Lejla, »und eines Tages würden wir Ausländer uns noch wundern. Und da habe ich gedacht, bevor ich mich wundere, soll sich die doch besser selbst wundern und dann habe ich ihr eine verpasst.«

      »Aber Gewalt ist keine Lösung«, sagte Sonja und lehnte sich wieder zurück, ohne meinen voyeuristischen Blick bemerkt zu haben.

      »Wenn einer Nazikram vertritt, dann gehört er auch verhauen«, sagte Dillinger. »Darüber müssen wir hier jetzt nicht streiten, obwohl ihr älter und das KIT seid.«

      »Es bringt ja nichts, sofort die Nazikeule auszupacken, wenn ein Mädchen ein anderes ärgert«, sagte die zweite Interventionsexpertin .

      »Das ist nicht die Nazikeule, das ist eine Tatsachenbeschreibung«, widersprach Dillinger. »Die kleine Göre war der Meinung, als Deutsche besser zu sein als andere. Wer so denkt, muss seine Lektion lernen.«

      »Jetzt spiel dich mal nicht so auf«, sagte Sonja. »Du sollst den Vorfall auch gar nicht bewerten, dafür bist du gar nicht ausgebildet.«

      »Was gibt es da …«

      »Ist schon gut«, unterbrach Lejla Dillinger. »Ich gebe alles zu.«

      Ich rollte mit den Augen, Lejla lachte und trat mir erneut gegen den Fuß, diesmal aber nicht so feste. Frau Krone und diese unwürdigen KIT-Lakeien hatten ausnahmsweise etwas Gutes bewirkt. Lejla und ich näherten uns wieder an und das erste Mal fühlte ich einen Hauch von Sympathie für Dillinger, obwohl er mir in die Eier getreten hatte.

      Nachdem wir entlassen waren, gingen wir zu dritt zum Edeka gegenüber der Schule und kauften Bier. Dillinger erklärte, laut einer deutschen Punkband bedeute die Abkürzung Edeka Ein deutscher Esel kauft alles. Diese These würde seit der Wiedervereinigung vor eineinhalb Jahren in einem riesigen Menschenversuch in den neuen Bundesländern auf ihren Wahrheitsgehalt getestet. Ich war mir nicht ganz sicher, ob er das ernst meinte, verzichtete deshalb auf einen Kommentar dazu.

      Auf einem Spielplatz im Stadtpark setzten wir uns auf ein Holzgerüst, das vermutlich ein Schiff darstellen sollte, und tranken Bier. Dillinger holte eine Schachtel HB heraus. So rauchte ich meine erste Zigarette – mit sechzehn, das ist nicht sehr früh, aber die Predigten meiner Mutter, Rauchen sei Mist, hatten bis zu diesem Tag Wirkung gezeigt. Im Gegensatz zu mir zog Lejla routiniert an der Zigarette und paffte wie selbstverständlich eine nach der anderen.

      Als wir uns später von Dillinger verabschiedeten, war mir so schwindelig, dass ich mich an ihm festhalten musste. Er nahm mich in den Arm und erklärte, er habe schon immer geahnt, dass ich ein super Typ sei. Ich wusste damit nichts anzufangen und ging mit Lejla nach Hause. Zu meiner Erleichterung war niemand da und wir mussten keine unangenehmen Fragen beantworten. So entspannt meine Mutter in vielen Dingen war, Schwänzen lehnte sie ab. Sie vertrat den Standpunkt, man müsse auch die Dinge tun, die keinen Spaß machten, um das Schöne in der Welt schätzen zu lernen. Für mich roch das nach Küchenphilosophie, trotzdem hatte sie wahrscheinlich nicht ganz Unrecht.

      Wir stopften gierig die Reste des Mittagessens in uns hinein. Lejla versuchte dabei Sonja zu imitieren, was ihr nicht gut gelang, mich trotzdem in einen Lachanfall trieb. Sie lehnte sich über den Tisch und forderte mich auf, ihr in den Ausschnitt zu schauen. Ich hustete Kartoffel und Boulette auf den Tisch, was wiederum sie so sehr erheiterte, dass sie keinen Bissen mehr hinunter bekam. Anschließend legten wir uns aufs Sofa im Wohnzimmer und schauten eine vollkommen verblödete Quizshow mit Harry Wijnvoord.

      »Darf ich dich was fragen?«, sagte sie, während eine pummelige Frau auf der Mattscheibe zu weinen begann, weil sie das Auto verspielt hatte und stattdessen einen Staubsauger bekam. »Wo ist eigentlich dein Vater?«

      Ich zögerte. Darüber sprach in unserer Familie niemand, weil keiner wagte, heilende Wunden aufzureißen. Aber das konnte Lejla nicht wissen.

      »Der ist tot.«

      »Tut mir leid.«

      Lejla lehnte sich an mich, vielleicht konnte man es sogar kuscheln nennen. Ich rückte ein wenig von ihr weg, denn plötzlich erinnerte ich mich an Axtbrecher und meine Kränkung, die ich so erfolgreich zelebriert hatte.

      »Was ist?«, fragte sie.

      »Weiß nicht«, murmelte ich. »Ist vielleicht nicht so einfach.«

      Sie legte ohne zu fragen ihren Kopf auf meine Oberschenkel und schaute mich von unten an. »Kennst du das nicht«, flüsterte sie, »dass man etwas falsch macht und genau weiß, dass es falsch ist, aber man kann es nicht ändern, weil es zu spät ist, und eigentlich will man alles nur richtig machen, und weil man es so sehr will, deshalb macht man es erst recht falsch?«

      Sie drückte das zwar ungeschickt aus, was vermutlich an ihrem Alkoholpegel lag, aber ich verstand sie, was vermutlich an meinem Alkoholpegel lag, und irgendwie machte sie alles wieder gut, weil sie mich anguckte, als wollte sie diesmal tatsächlich etwas richtig machen, obwohl es mir unmöglich war zu bestimmen, wie sie das hätte anstellen können, da ich nicht wusste, was richtig überhaupt bedeutete. Dafür war ich noch zu jung und bei Weitem zu dumm.

       KOK

      Ich sitze alleine am Küchentisch und überlege, was ich frühstücken könnte. Sechsunddreißigjährige sollten nicht so ihren Morgen verbringen. Die sollten eine Familie haben, Kinder, einen Hund oder eine Katze, ein paar Guppys im Aquarium, Kunstdrucke von Cézanne oder einem deutschen Expressionisten an der Wand, vielleicht von Macke, der kam aus dem Sauerland, das wirkt auf mich sympathisch, weil ich das Sauerland nicht mit großer Kunst assoziiere und der Bruch von Klischees das Leben lebenswerter macht.

      Mein Blick fällt auf das Buch, das neben einem trockenen Camembert liegt, der schon verdächtig stark nach Füßen riecht. Der Verlag hat es mir geschickt. Es ist schon eine Weile her, dass ich einen Auftrag erhalten habe. Zuerst habe ich mich gefreut, mal wieder etwas übersetzen zu können. Doch bisher habe ich weder in der digitalen Versionen auf meinem Computer noch in der analogen vor mir ein Wort gelesen. Seit vorgestern scheint das sowieso überflüssig. Wozu brauche ich das alles? Einen eigenen Feinkostladen? Einen Job? Geld? Eine Freundin? Einen Bruder? Eine Mutter bei klarem Verstand? Das ist was für Normalbürger. Ich lebe die Revolution. Allerdings heute etwas gemächlicher als sonst.

      Ich drehe das Buch einmal um neunzig Grad. Das Cover hat bereits ein wenig gelitten. Unten links ist der Abdruck einer Kaffeetasse zu sehen, daneben befinden sich schmutzige Fingerabdrücke, vielleicht ist es auch Schokolade, und über dem Titel liegt ein Kronkorken. Ohne das Stillleben zu zerstören, ziehe ich das Buch über die Tischplatte zu mir heran. Es handelt vom Bergsteigen. Eine mir unbekannte Amerikanerin hat es geschrieben. Der Verlag hat beschlossen, es ins Programm aufzunehmen. Anscheinend meinen meine Bosse, das deutschsprachige Publikum benötige Nachhilfe in Sachen Alpinismus aus Übersee. Ich bezweifele das. Aber als freischaffender, nebenberuflicher Übersetzer sucht man sich seine Aufträge nicht aus. Die Vorstellung, das Buch aufzuschlagen und darin zu lesen, lähmt meinen Körper und meinen Geist. Jede Bewegung scheint unendlich schwer, meine Arme sind mit Blei gefüllt, meine Gedanken fließen träge dahin wie ein langsam erkaltender Lavastrom – kein Pyroklast, sondern nur schwulstige Masse.

      Ich schiebe das Buch zur Seite. Der Kronkorken fällt auf den Tisch, rutscht dort über die Kante und landet auf dem Boden. Ich lasse ihn achtlos liegen. Soll er doch machen, was er will. Ich kontrolliere die Dinge um mich herum nicht mehr, ich erdulde sie bestenfalls. Ich erwäge, Brötchen kaufen zu gehen, als es klingelt. Widerwillig schleppe ich mich in Boxershorts und T-Shirt zur Tür. Vielleicht ist es wieder Alina. Canossagang Teil zwei. Ich hoffe, sie hat nicht Linus im Schlepptau. Das würde ich nicht verkraften. Ich drücke den Summer der Haustür, lehne die Wohnungstür an, gehe zurück in die Küche und setze einen Kaffee für mich auf. Abgeben werde ich ihr nichts.

      »Klopf, klopf«, höre ich kurz darauf jemanden im Flur rufen.

      »Mach dich nicht

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