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Gegensprechanlage, wer da störe. Alina antwortet. Sie hat einen Schlüssel, wolle mich aber nicht auf dem falschen Fuß erwischen, behauptet sie. Ich lasse sie herein und atme eine halbe Minute konzentriert ein und aus, um mich nicht aufzuregen. Solange benötigt sie, um die zwei Stockwerke hinaufzulaufen. Ihre braunen Haare sind zu zwei Zöpfen geflochten. Das macht sie immer, wenn sie wenig Zeit hat und die Haare den ganzen Tag über sitzen sollen. Ich mag die Frisur. Dazu trägt sie ein Oberteil, das ich an ihr noch nie gesehen habe und neue Schuhe. Ich frage mich, wo sie die letzten beiden Tage verbracht hat, ob sie die ganze Zeit bei Linus war.

      »Na«, sagt sie.

      »Jau«, antworte ich.

      »Kann ich rein?«

      »Besser nicht. Ich räume gerade um.«

      Sie könnte darauf bestehen, immerhin zahlt sie die Hälfte der Miete, obwohl ich im Mietvertrag stehe und sie nicht. Alina stapft unbeholfen von einem Bein aufs andere.

      »Komm schon, Tankred. Lass mich rein.«

      Sie weint. Damit habe ich nicht gerechnet und ich kämpfe einen Anflug von Mitleid nieder. Wenn hier jemand flennen darf, dann bin ich das. Allerdings werde ich ihr diese Genugtuung nicht geben.

      »Das alles ist einfach passiert«, erklärt sie mir mit zitternder Stimme. »Wir sind irgendwann betrunken gewesen, du warst nicht da, mir ging es nicht gut, dann ist alles schief gelaufen. Weder Linus noch ich haben dir schaden wollen, verstehst du?«

      Ich verneine, Alina redet weiter, ich lasse es durch mich durchfließen. Sie hat mich an den Hörnern durch die Stadt getrieben. Eine eigenartige Redewendung, die meines Wissen schon in der Antike Verwendung gefunden hat. In irgendeiner Übersetzung für den Verlag ist das vor Jahren einmal vorgekommen. Ich hätte die Provenienz der Redewendung überprüfen können, aber offensichtlich bin ich anders gestrickt. Mir genügt es, an der Oberfläche zu kratzen. Deshalb bin ich wieder allein, während es anderen gelingt, eine Familie zu gründen, in London zu leben, glücklich zu sein. Bin ich verdammt, die nächsten Jahre auf H&M-Kataloge zu onanieren? Ist das auszuhalten oder werde ich darüber verrückt? Oder bin ich es längst, weil ich denke, was ich denke. Was ist, wenn Thai eines Tages Erfolg hat und keine leicht bekleideten Frauen mehr auf Katalogen abgelichtet werden. Bleibt mir dann noch irgendetwas, an dem ich mich festhalten kann?

      »Tankred?«

      Alina schaut mich mit großen Augen an. Ihr akkurat geschnittener Pony wirkt heute etwas zerzaust.

      »Hast du mir überhaupt zugehört?«

      »Ich weiß nicht, was du mit dieser Canossa-Nummer erreichen willst«, sage ich schroff. »Und so ein richtiges Büßergewand ist das auch nicht, was du da trägst.«

      »Wovon redest du?«, fragt sie mit brüchiger Stimme.

      »Canossa. König Heinrich reitet im Winter zum Papst, der in …«

      Ich halte inne, als ich Alinas verzweifelten Gesichtsausdruck sehe.

      »Es tut mir schrecklich leid«, sagt sie und schluchzt laut auf.

      Ich nehme sie in den Arm. Sie drückt sich fest an mich. Ich spüre ihre heißen Tränen an meinem Hals.

      »Was kann ich machen, Tankred?«, flüstert sie mir ins Ohr. »Was soll ich noch sagen?«

      »Ich betrüge dich mit Linus, er ist ein schlechter Bruder. Und ich bin eine schlechte, promiskuitive Partnerin«, erwidere ich leise.

      »Was?«

      »Das könntest du sagen. Genauer gesagt hättest du das schon vor einer ganzen Weile sagen sollen.«

      »Fuck«, ruft sie und stößt mich weg. »Ich weiß es selbst. Das ist Mist, aber es ist passiert. Dem können wir uns nur stellen, mehr nicht, Tankred.«

      Ich nicke, obwohl ich das für totalen Schwachsinn halte. Rhetorik, die impliziert, dass niemand die Zeit zurückdrehen und die Ereignisse ändern kann, ist mir viel zu billig. »Was du nicht sagst.«

      »Ich weiß manchmal auch nicht, was in mich fährt. Ich tue Dinge, die falsch sind, aber in dem Moment guttun.«

      Ich nicke erneut, obwohl ich ihr diesmal nicht ganz folgen kann. »Du hast etwas Besseres verdient, auch wenn du dich verhalten hast wie ein Arschloch«, sage ich mit fester Stimme.

      Sie blickt verwirrt auf. »Tankred, hör auf, bitte.«

      »Nein, mein Ernst. Das denke ich. Du hättest etwas Besseres verdient gehabt. Von Anfang an. Ich bin eben nicht der eine, den du willst.«

      Wir schauen beide zu Boden. Da ist nichts mehr zwischen uns, das gesagt werden muss. Mehrere Jahre Beziehung zerbröseln zu Staub. Ich verstehe nicht, wieso Alina ausgerechnet mit meinem Bruder ins Bett gestiegen ist, aber so ist das eben. Wir wissen nie, wie der andere tickt, obwohl wir uns das einzureden versuchen. Letztendlich ist es auch besser so. Meine Übergangsjacke liegt in der Reinigung in der Parallelstraße. Ich werde sie einfach dort lassen, selbst wenn der Spermafleck herausgegangen sein sollte. Zum Glück wird es gerade wärmer, der Frühling hat sich endgültig durchgesetzt, die Kälte ist gewichen, eine Übergangsjacke überflüssig. Wir verabschieden uns. Sie will die Tage vorbeikommen, um ihr Zeug abzuholen. Ich habe keine Lust mehr zu packen und suche in einem der dritten Programme nach einer Wiederholung eines Tatorts. Zum Glück habe ich den H&M-Katalog bereits aussortiert, sonst könnte es jetzt unappetitlich werden.

       1992

      Schon ziemlich früh, nämlich 1984 mit unserer von mir verursachten Reise in die DDR, war mir bewusst geworden, dass es sich beim Popbusiness um eine verlogene Gesellschaft handelte, die vornehmlich auf das Geld der Fans schielte. Da hatte Nena ziemlich großspurig über 99 Luftballons gesungen, über Kriegsminister, die ihre Düsenjäger schickten, um alles vom Himmel zu ballern, was sie bewegte, und was war geschehen, als ich meinen Ballon gestartet hatte? Nichts. Er war geflogen und geflogen und geflogen. Niemand hatte sich veranlasst gesehen, etwas gegen den bunten Eindringling zu unternehmen. Der Eiserne Vorhang hatte sich als ein Hirngespinst entpuppt, schließlich war ein bundesdeutscher Luftballon in orange unbemerkt und ohne Visum mir nichts dir nichts bis in die Stadt, in der Luther einst den Teufel mit einem Tintenfass bekämpft hatte, gesegelt und im Vorgarten einer Ossi-Familie gelandet. Danke, Nena! Danke. Seitdem waren wir, die Familie Deutsch, offiziell mit einem aufdringlichen Ostdeutschen namens Laurenz und seinem total bescheuerten Sohn Dieter befreundet. Als wäre das des Unglücks nicht genug gewesen, gelang es den beiden nicht lange nach unserem Besuch, in den Westen zu fliehen. Unsere neuen Freunde wohnten nicht länger hinter einer kaum zu überwindenden Grenze, sondern drei Straßen weiter in derselben Stadt wie wir.

      Dieter hatte einen gewaltigen – vermutlich herkunftsbedingten – Dachschaden. Die Angelegenheit eskalierte, als er von der Hauptschule zu uns auf die Gesamtschule wechselte, um Abitur zu machen. Er war ein Jahr älter und eine Klasse weiter, trotzdem tat er so, als wären wir so etwas wie alte Bekannte. Ich hingegen ignorierte ihn so gut es ging, weil er erstens immer noch ein Ossi war, zweitens keine Freunde hatte, drittens die meisten anderen der Meinung waren, er sei eine miese Stasischwuchtel – niemand nahm ernsthaft an, dass er homosexuell sein könnte, der Begriff Schwuchtel diente als simples Schimpfwort. Also war es besser, sich von ihm fernzuhalten, wollte man nicht selbst zu einer Stasischwuchtel werden. Um ihn zu ärgern, nannten ihn einige Dillinger statt Tillinger, weil sie es witzig fanden, einen erfundenen Ostdialekt in seinen Namen zu interpretieren. Außerdem gab es da den Kinofilm Staatsfeind Nummer eins über den amerikanischen Gangster John Dillinger und weil Jugendliche nicht sehr kreativ sind, fanden es einige lustig, aus Dieter Tillinger Dillinger zu machen. Eine peinliche Geschichte, aber so sind die Heranwachsenden. Anstatt sich zu ärgern, übernahm die Stasischwuchtel seinen neuen Spitznamen und aus Dieter wurde ganz offiziell Dillinger. Damit zementierte er seinen Ruf als Typ, mit dem nicht gut Kirschen essen war.

      Dann passierte diese Saulus-Paulus-Sache – ein Damaskuserlebnis erster Sahne. Ich erkannte, dass Dillinger gar nicht der schreckliche Idiot war, für den ich ihn gehalten hatte. Er trat mir eines Tages auf dem Schulhof grundlos von hinten in die Eier. Ich ging in die Knie. Mein Leberwurstbrot, das mir meine Mutter wie

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