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die Nerven ging.

      Wir waren kurz davor, den schönen Tag mit einem handfesten Streit über einen Apfel zu vermiesen, als plötzlich ein Mann auf uns zukam, der mir eigenartig erschien, weil er einen dunklen Anzug trug, was selbst ein Zehnjähriger als unpassende Wanderkleidung enttarnte. Meine Mutter hatte ihn ebenfalls entdeckt und begann wie automatisch, unsere Sachen in den Rucksack zu räumen. Ihr Verhalten beruhigte mich nicht sonderlich, nur Anna schien andere Sorgen zu haben, denn sie beschwerte sich lautstark, als Mama ihr den Becher mit dem Eistee aus der Hand nahm und auf der Wiese entleerte.

      »Ihr geht in die Hütte«, sagte meine Mutter zu uns in einem Tonfall, den ich noch nie bei ihr gehört hatte. Eine Mischung aus Angst, Wut und Bestimmtheit. Ich nahm Anna an die Hand und zog sie hinter mir her in die Spinnenhölle. Sie begann auf der Stelle laut zu kreischen, kniff die Augen zusammen und stolperte über die flache Stufe vor der Hütte. Ich hievte sie wieder auf die Beine und drückte sie grob vorwärts.

      »Stell dich nicht so an, du hast Mama gehört«, schimpfte ich und schloss hinter uns die Tür. Über uns krochen drei Spinnen mit Körpern in der Größe eines Fünf-Mark-Stücks. Mir wurde schlecht, ich bekam eine Gänsehaut und Schweiß lief mir über die Stirn. Das ist eine Panikattacke, dachte ich. Ich ekelte mich schrecklich vor diesen widerlichen Viechern, die Zentimeter für Zentimeter auf uns zu kamen – zwei krabbelnd, eine ließ sich an einem Faden von der Decke herab. Anna war in eine Art Schockstarre gefallen. Sie stand neben mir in der Mitte des Raums und wagte kaum zu atmen, während sie die Wand gegenüber anstarrte. Erst jetzt entdeckte ich das Exemplar, das meine Schwester in seinen Bann gezogen hatte. Mir wurde übel und ich wusste sofort, es hier nicht mit einer herkömmlichen europäischen Spinne zu tun zu haben, denn dieses Ungetüm war fast so große wie meine Handfläche. Ich glaubte zu erkennen, dass sie behaart war, und zählte sieben Beine. Folglich musste eines der Teile, die da aus dem mächtigen Leib ragten, der tödliche Giftstachel sein. Oder war es eine neue Art? So etwas sollte es geben. Eine Kreuzung aus südamerikanischer Killerspinne, die womöglich mit einem Containerschiff nach Europa gekommen war, und einheimischer Spinne. Zusätzlich war das Tier mutiert, wahrscheinlich wegen des unterschiedlichen Klimas. Wie viele kleine Karl Käfer hatte dieses Monster schon gefressen? So eine Größe erreichte man nicht einfach so. Dazu gehörte schon einiges. Ich schwankte und konnte mich kaum auf den Beinen halten. Anna griff nach meiner Hand und drückte sie so fest, dass ich um ein Haar geschrien hätte. Der Schmerz holte mich zurück aus meiner Trance. Es sind nur Spinnen, dachte ich, obwohl ich mir da noch immer nicht ganz sicher war.

      »Was bilden Sie sich ein?«, hörte ich meine Mutter rufen.

      »Ich weiß nicht, was Sie meinen?«, sagte eine Männerstimme.

      »Wie ist Ihr Name?«

      »Wie? Mein Name?«

      »Sie werden doch einen Namen haben?«

      »Lutz«, sagte der Mann. »Aus …«, er zögerte, »… Bremen.«

      Meine Mutter lachte, aber ich konnte an ihrer Stimme erkennen, dass sie nicht amüsiert war. »Seien Sie nicht albern, Lutz aus Bremen. Geht ihrem Drecksverein das Personal aus oder warum stellen die inzwischen solche Trottel wie Sie ein?«

      »Ich mache eine …«

      »Wanderung!«, unterbrach meine Mutter den Mann höhnisch. »In Anzug und mit polierten Schuhen? Das ist ja lächerlich. Sie sind ihrem Observationsziel in die Arme gelaufen. So sieht es aus. Richten Sie Josef Tillinger schöne Grüße aus und er soll nächstes Mal nicht so einen Idioten schicken.«

      Ich wunderte mich über den Namen Tillinger. Ich kannte Laurenz und Dieter, aber keinen Josef. Zum Glück hatte ich keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn meine Mutter holte uns aus dem Spinnenhaus. Bei ihrem Anblick brach Anna zusammen und begann zu weinen. Sie war eben noch ein kleines Mädchen. Wir rannten zurück zum Auto. Aus der Wandertour war eine wilde Hatz geworden. Im Auto fragte ich meine Mutter, wer der Mann gewesen sei. Sie behauptete, er habe sich verlaufen und den richtigen Weg gesucht. Manchmal war es demütigend, wie Erwachsene uns Kinder für dumm verkauften.

      Zuhause erwarteten uns Laurenz, Gideon Goldmann und der fette Rollstuhlzwerg Jochen Maus bereits im Innenhof der Bonner Straße 42. Dieter war zu meinem Leidwesen auch dabei, denn ich konnte ihn nicht ausstehen. Zu allem Überfluss litt er an einer Magen-Darm-Grippe und war leichenblass. Wir Kinder wurden in mein Zimmer verbannt. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit meiner dummen Schwester und dem kranken Ostkind hätte spielen sollen. Wir passten vom Wesen, Geschlecht, Alter sowie von der Herkunft nicht zusammen. Außerdem hatte ich Angst, Dieter könnte auf meine Spielsachen brechen.

      »Ich glaube, die Erwachsenen sind so aufgeregt, weil da einer gestorben ist«, sagte er schließlich, während wir uns auf dem Boden gegenüber saßen und unschlüssig auf einen Haufen Playmobil und Modellautos guckten.

      »Ist mir doch egal«, sagte ich so gelassen wie möglich.

      »Der heißt Pedersen«, fuhr Dieter fort. »Ich kenne den, weil der uns geholfen hat, aus der DDR zu fliehen.«

      »Ist ja spannend«, murmelte ich und griff nach einem Ford Mustang, den ich besonders mochte und deshalb vor Dieter schützen wollte.

      »Kennst du den auch?«, fragte er.

      Stephan Pedersen war, seit ich denken konnte, ein Freund unserer Familie. Er kam zu allen Geburtstagen und anderen Feiern und hatte ab und zu seinen Sohn Jonas mitgebracht, den ich aber nicht leiden konnte. Der war ein hässlicher Angeber.

      »Wie stirbt man denn?«, fragte Anna mit großen Augen.

      »Die haben seine Leiche unter einem LKW abgekratzt«, sagte Dieter und spielte dabei gelangweilt mit einem Modellauto herum, einem Jeep mit Ladefläche, den ich ebenfalls nicht gern hergab. »Der hat sich umgebracht, sagt mein Vater. Wahrscheinlich aus Liebeskummer, weil sich seine Frau von ihm getrennt hat.«

      »Das werde ich bestimmt nicht machen, mich wegen einer Frau umbringen«, verkündete ich selbstsicher. »Oder einer hinterherlaufen. Es haben ja viele Mütter heiße Töchter.«

      Dieter schaute mich an, als habe ich etwas sehr Dummes gesagt, dabei handelte es sich um einen Spruch von Linus, den ich gern nachplapperte, um cool rüberzukommen. Irgendetwas stimmte mit diesem Ostkind nicht.

       Josef

      Privet rebyata. Er hatte nie vergessen, wie Maria damals am Ende der Schlacht um Halbe den Russen diese Worte zugerufen hatte. Die Erinnerung daran verfolgte ihn in seinen Träumen, wenn er einsam durch die regennasse Fensterscheibe eines Busses guckte, über den Markt ging, um Kartoffeln zu kaufen, in der Badewanne saß und seine Füße wusch oder sich den Penis rieb. Er wurde die Worte nicht los. So zäh er ansonsten war, dieser eine Moment quälte ihn mehr als alle anderen.

      Als er 1945 gegen jede Wahrscheinlichkeit den Krieg unversehrt überstanden hatte, war ihm bewusst geworden, dass irgendetwas in ihm pulsierte, eine besondere Kraft, die ihn am Leben halten würde, was auch immer dem Reich Hitlers folgen sollte. Josef Tillinger würde es überstehen, denn er hatte sich jedes Skrupels und Mitgefühls entledigt. Das bedeutete nicht, dass er kalt war. Er mochte seine Frau, die er im Sommer 1945 in Leipzig getroffen hatte. Sie war sehr jung und verängstigt gewesen. Der Krieg und die Furcht vor den recht eigensinnig agierenden Soldaten aus Russland hatten sie geprägt und traumatisiert. Aber Josef versprach, für sie zu sorgen. 1946 bekamen sie ihren ersten und einzigen Sohn. Sie nannten ihn Laurenz, da ihnen kein bekannter Nazi einfiel, der diesen Vornamen getragen hatte, was nicht bedeutete, dass es nicht doch einen gab, aber viele andere Namen waren verbrannt, deshalb waren sie froh, auf Laurenz gekommen zu sein. Josef liebte Laurenz und mochte seine Frau, dennoch brach er sein Versprechen, immer für sie da sein zu wollen, denn er hatte bald alle Hände voll zu tun, beim Aufbau der DDR mitzuhelfen. Der Staat, dieses bessere Deutschland, wurde zum Zentrum seines Schaffens. Er arbeitete ab April 1950 für das Ministerium für Staatssicherheit, das es zu diesem Zeitpunkt gerade einmal zwei Monate gab. Als Mitarbeiter der ersten Stunde stieg er rasch auf. Auf einer Moskaureise lernte er Lawrenti Berija kennen, den starken Mann hinter Stalin. Josef fühlte, auf der richtigen Seite der Geschichte gelandet zu sein. Männer wie Berija und er waren aus demselben Holz

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