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Mutter stöhnte auf, kommentierte die Tiraden meines Bruders aber nicht. Mir wurde ganz übel, weil ich Angst davor hatte, bald nicht mehr fernsehen zu können. Die Sache mit dem Sex fand ich nicht so beunruhigend, da ich mich damit nicht auskannte, aber ich vermutete, es handelte sich um etwas ziemlich Schreckliches. Zum Glück war da noch Helmut Kohl. Dieser massige Mann, der so seltsam sprach, war mein einziger Hoffnungsträger, dass es in unserem Teil Deutschlands niemals so weit kommen würde. Dank Linus’ Unterweisungen wurde er zu meinem persönlichen Supermann Nummer zwei direkt hinter Felix Magath. Und wer weiß, hätte der HSV nicht den Europapokal gegen Juventus gewonnen, vielleicht hätte es Helmut Kohl sogar auf die Nummer eins geschafft. So prangte ein Poster von Magath, dem Siegtorschützen, in meinem Zimmer. Wahrscheinlich war das auch besser so, denn hätte ich den Kohl an meine Wand gehängt, wäre meine Mutter zweifellos ausgerastet. Sie mochte den nicht. Linus meinte, das läge daran, dass sie eine Frau sei und Frauen keine Ahnung von Politik hätten. Das wiederum konnte ich nicht beurteilen, aber da mein Bruder in vielen Dingen recht hatte, widersprach ich ihm nicht.

      Linus lamentierte bis zur Grenze, er wolle nicht in das andere Deutschland, weil man die Kommunisten nicht mit unseren Devisen unterstützen dürfe. Am Grenzübergang Herleshausen hielten uns Polizisten auf und untersuchten unsere Klamotten, als seien wir Kriminelle. Anna weinte ohne Pause. Die Stacheldrahtzäune und Wachtürme machten ihr Angst. Sie faselte etwas davon, nicht ins Gefängnis zu wollen. Sie war klein und dumm. Mich traf es wesentlich härter. Ein hässlicher Grenzposten mit einem dicken Schnurrbart, in dem Essensreste klebten, fand meine geliebte He-Man-Figur. Er betrachtete sie eine Weile und steckte sie dann in seine Uniformtasche, da angeblich das Einführen von Kriegsspielzeug in die DDR verboten war. Linus hatte eine Zeitung, die wurde ebenfalls eingezogen, da es sich um DDR-kritische Westpresse handelte. Das war ansatzweise einzusehen. Die wollten nicht lesen, wie doof ihr Land war. Aber meinem kleinen He-Man kriegerische Absichten zu unterstellen, war lächerlich. He-Man kämpfte für Frieden und gegen das Böse. Das wusste jeder. Jeder bis auf den Grenzposten. Oder er wollte meine Figur für sich, um sie abends seinem Sohn zu schenken. Das wäre eine Erklärung, denn in der DDR gab es bestimmt keine Figuren von Mattel zu kaufen. Andererseits war He-Man an einem Ort ohne Skeletor und Teela ein Krieger mit stumpfer Klinge. Was wäre James Bond ohne den Beißer gewesen? Oder Lucky Luke ohne die Daltons?

      Nachdem wir unsere Visapapiere gestempelt bekommen hatten, ging es ganz normal weiter. Die Bäume waren grün, der Himmel blau und unser Opel immer noch rot. Allerdings fuhren plötzlich alle anderen Verkehrsteilnehmer dieselben kleinen hässlichen Autos, die Straßen waren rumpelig und es roch zumindest nach meiner Wahrnehmung etwas seltsam.

      In Eisenach angekommen wurden wir erstaunlich enthusiastisch empfangen. Laurenz Tillinger, ein schlanker, großer Mann mit einer Halbglatze umarmte meine Mutter überschwänglich und für meinen Geschmack viel zu lange. Sein Sohn Dieter schüttelte uns zur Begrüßung artig die Hand. Meine Mama verschenkte Westkram, wir bekamen selbst gebackenen Kuchen, kurz danach gab es Abendessen. Ich kann mich nur noch an die Nachspeise erinnern. Eingemachte Kirschen, die unheimlich lecker waren. Die DDR war gar nicht so schlecht. Okay, die Menschen durften nicht reisen, nur heimlich West-Fernsehen gucken, bespitzelten sich gegenseitig, aber die Kirschen waren echt in Ordnung. Laurenz und die ebenfalls eingeladenen Nachbarn schienen sogar einigermaßen nett zu sein. Zumindest erwarteten sie von uns keinen abartigen Ostkram wie das Abhören anderer Menschen oder nackt im Garten herumzuspringen. Dieter misstraute ich allerdings sofort, weil er ein bisschen älter war als ich und so tat, als sei er ziemlich schlau, dabei hatte er keine Ahnung, weil er hinter einer Mauer leben musste. Außerdem nervte das Nachbarskind, ein doofes Mädchen namens Katrin, schrecklich.

      Am nächsten Tag durfte ich mit dem Trabi der Familie Tillinger fahren. Anna war zusammen mit Dieter bei den Nachbarn geblieben und spielte mit der furchtbaren Katrin. Ich saß auf dem Rücksitz und drückte die Augen so fest zusammen wie möglich. Neben mir hockte Linus und erzählte etwas über die fehlgeleitete Wirtschaftspolitik der DDR.

      »Die Straßen sind hier nur so schlecht, weil der Staat die Bürger so stark subventioniert, dass für alles andere kein Geld übrig bleibt«, rief er altklug in das tuckernde Motorgeräusch des Trabants.

      »Red nicht so einen Quatsch«, ermahnte ihn meine Mama verärgert, während ich Linus in den Stand eines Gelehrten erhob, denn wer mit vierzehn Jahren schon so sprach, musste einiges auf dem Kasten haben.

      »Ich darf also nicht sagen, wie es ist, weil du es nicht hören willst!«, beschwerte er sich und in seiner Stimme klang Triumph mit. »Damit bist du nicht besser als der Herr Honecker und seine kommunistische Bande.«

      Linus beeindruckte mich mit seinem Mut. Mein Bruder ließ sich nicht unterkriegen.

      »Du darfst bei uns alles sagen, mein Junge«, schaltete sich Laurenz Tillinger mit sanfter Stimme ein. »Aber wir müssen dir nicht zustimmen. Denn das wäre sonst so wie es damals unter dem Herrn Hitler und seiner faschistischen Bande gewesen ist.«

      Linus lief rot an und hielt die Klappe. Ich beobachtete fasziniert, wie Herr Tillinger, der offensichtlich etwas Gemeines gesagt hatte, an einem komischen Knüppel, der neben dem Lenkrad angebracht war, herumzupfte.

      Wir hielten in einem Wald und gingen wandern. Herr Tillinger und meine Mutter verstanden sich erstaunlich gut. Er machte ihr sogar kindische Komplimente, wie gut sie aussähe und wie jung sie geblieben sei. Ich fand das lächerlich, hielt mich aber klugerweise zurück.

      Wir latschten eine halbe Ewigkeit, dabei ging es ständig rauf und runter. Ich fragte mich, warum die Menschen so dumm waren, wenn sie schon mit einem Auto zu einer Wanderung fuhren, ausgerechnet dort zu halten, wo es hügelig war. Ich wäre im Flachland geblieben, wo es sich gemütlich gehen ließ. Irgendwann erreichten wir ein kleines Lokal. Ich bekam eine Cola, die aber keine Cola war, sondern eine schwarze Giftbrühe, die mich um ein Haar hätte auf den Tisch kotzen lassen. Die Ossis wollten mich vergiften, so viel stand fest.

      »Das ist Club-Cola aus dem VEB Getränkekombinat Erfurt«, las Linus vom Etikett vor.

      Ich schüttelte mich. »Was ist ein Kombinat?«

      »Ein Zusammenschluss von Betrieben zur Verbesserung der gesamten Produktion und zur Vermeidung von der Anhäufung von Besitz in den Händen einiger weniger«, erklärte Herr Tillinger. »Die Kombinate gehören dem Volk, also allen Menschen in der DDR. Du magst vielleicht Coca-Cola lieber, aber das ist keine Volksbrause, sondern die Gewinne gehen in die Taschen derer, die ohnehin schon viel haben. Verstehst du?«

      Nein, das tat ich nicht.

      »Volksbrause klingt ein bisschen wie Volkswagen«, sagte meine Mama und grinste dabei eigenartig verschmitzt.

      »Mama …«, maulte ich.

      Sie lächelte und fuhr mir mit den Fingern durch die Haare. »Der Laurenz meint das nicht so. Der hätte auch gern Westcola, das gibt er nur nicht zu.«

      Wir gingen, meine Club-Cola blieb stehen, dafür bekam ich beim Hinausgehen ein Softeis, das so widerlich schmeckte, dass ich es draußen scheinbar zufällig, aber in Wahrheit absichtlich auf den Boden fallen ließ. Ich weinte ein bisschen, meine Mama sagte, ein weiteres Eis wäre jetzt nicht drin, ich war erleichtert, protestierte verhalten und spielte dann ein paar Minuten den Beleidigten. Ich war ein durchtriebenes Kind, aber erfolgreich. Zurück in Eisenach musste ich mit der nervigen Katrin und Anna im Garten spielen. Das war ein großes Unglück. Wahrscheinlich erschien ich Katrin wie ein Außerirdischer, so normal, gut erzogen und westdeutsch wie ich war. Nachdem sie meinen Namen gelernt hatte, eine erstaunliche Leistung für ein so dummes Mädchen, wurde sie nicht müde, ihn in die Welt zu rufen. Dabei schaffte sie es leider nicht, das T von Tankred wie ein T auszusprechen, stattdessen bevorzugte sie das D. Auch das nachfolgende A klang eher wie ein O.

      »Donkred. Donkred. Donkred. Donkred.«

      So ging das die ganze Zeit. Katrin kannte kein Ende und hatte offenbar auch keinen Aus-Schalter.

      »Donkred. Willst du Kuchen?«, rief sie und hielt mir ein grünes Förmchen mit Sand unter die Nase.

      »Nein. Ich hatte schon Eis.«

      »Willst du Eis, Donkred?«

      Dabei

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