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zu schaffen. Die Worte seines Vaters kamen ihm in den Sinn. Dieter spürte, wie sich seine Augen zum dritten Mal mit Tränen füllten. Nach seiner Einschätzung konnten sie unmöglich schon im Westen sein, denn den Weg dorthin stellte er sich weiter vor. Sollten sie ihn jetzt finden, blühte ihm das Heim und seinem Vater das Gefängnis, alles weil er sein Pipi nicht hatte halten können. Ein schmaler Lichtstrahl fiel durch einen Spalt unter ihm, dann schepperte die Blechplatte zu Boden.

      »Komm raus, Kleiner«, hörte er eine Männerstimme.

      »Nein«, rief er.

      »Mach du mal«, sagte der Mann. »Der Rotzlöffel nervt. Kinder liegen mir nicht so, weißt du doch.«

      »Du bist manchmal echt ein Idiot«, sagte eine Frau und Dieter erkannte die Stimme von Greta. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so erleichtert gewesen zu sein. Er wollte nicht in den Westen und niemand hatte ihn gefragt, bevor man ihn in dieses Auto gesteckt hatte, aber alles war besser, als den Vopos in die Hände zu fallen. Ohne zu zögern, kletterte er aus seinem Versteck und krabbelte unter dem Auto hervor. Vom Licht geblendet kniff er die Augen zusammen. Um ihn herum standen außer Greta der Mann, der Gideon hieß, ein kleiner Fettsack in einem Rollstuhl und ein großer hagerer Typ mit einer Zigarette in der Hand.

      »Scheiße. Der hat sich in die Hose gepinkelt«, sagte Gideon.

      »So können wir den nicht mitnehmen. Der stinkt ja Meilen gegen den Wind«, murrte der Rollstuhlfahrer.

      »Halt den Mund, Jochen«, sagte Greta, kam auf ihn zu und nahm ihn in den Arm. »Hör nicht auf die. Du bleibst bei mir, bis Laurenz kommt.«

      Sie hielt Wort und brachte Dieter in eine Stadt in Westdeutschland. Eine Woche später kam sein Vater nach. Er war auch in dem BMW gereist, aber ohne sich in die Hose zu machen. Sie zogen in eine kleine Wohnung und wurden zu Bürgern der Bundesrepublik. Er ging in die Schule, lernte andere Kinder kennen, die ganz anders waren als er, obwohl sie dieselbe Sprache sprachen und in seinem Alter waren. Sie dachten genauso wie Gretas Kinder vor allem an ihre Klamotten, an ihre neuen Turnschuhe, an neue Spielsachen und Fernsehsendungen. Die Menschen im Westen waren genauso, wie sie sein Großvater Josef beschrieben hatte. Marionetten eines unmenschlichen Systems, mehr Konsument als Mensch, der Fähigkeit beraubt, eigene Entscheidungen zu treffen. Doch was sein Opa unterschätzt hatte, war die Kraft, die dieses System in sich trug. Natürlich wusste Dieter, derselbe kleine Junge zu sein wie vorher, als er eines morgens zum ersten Mal mit neuen Schuhen der Marke Puma zur Schule ging, während die alten Zeha-Treter unter der Treppe standen, um die Rolle der Staubfänger zu übernehmen, aber trotzdem fühlte er sich anders, etwas mehr angekommen, ein bisschen mehr west, einen Hauch mehr Kapitalismus in sich tragend – und viel mehr korrumpiert. Nicht, dass er ein solches Wort gekannt hätte. Aber ohne es korrumpiert zu nennen, fühlte er Stolz und Scham zugleich, Stolz auf die Pumas, und Scham wegen der ausgemusterten Zehas, die ihm seine Mutter geschenkt hatte.

       1986

      Meine Mutter wünschte sich zu ihrem vierzigsten Geburtstag eine Wanderung mit der Familie im Teutoburger Wald. Ich war gerade auf der einzigen Gesamtschule der Stadt eingeschult worden und steckte in einer schweren Sinnkrise. Alle meine Freunde waren auf andere Schulen geschickt worden und ich fühlte mich schrecklich allein. Mit Tankred Deutsch wollte niemand etwas zu tun haben. Schuld gab ich meiner Mutter. Sie hatte alles versaut, indem sie sich im Abschlussjahr meiner Grundschulzeit mit allen Eltern angelegt hatte. Erst hatte sie sich für irgendwelche Türkenkinder eingesetzt, dann einen Streit über einen Lehrer begonnen, der in einer Partei war, die meine Mutter nicht gut fand, anschließend den Schulleiter als Rassisten bezeichnet und sich zu guter Letzt für die doofe Jessica eingesetzt. Damit hatte sie das Fass zum Überlaufen gebracht, denn Jessica war so etwas wie die Klassenschlampe, mit der niemand etwas zu tun haben wollte. Ihr Vater war arbeitslos und trank sehr viel Alkohol. Ihre Mutter hatte sich angeblich während eines Elternabends eine Zigarette im Klassenzimmer angesteckt und kleidete sich laut übereinstimmender Aussagen meiner Klassenkameraden wie eine Bordsteinschwalbe – ich wusste zwar nicht genau, was das war, aber es klang schlimm. Als wäre das alles nicht genug gewesen, hatte Jessica ausgerechnet das Milchgeld vom braven Sven gestohlen. Dessen Vater war Professor und dementsprechend wichtig. Das wussten alle. Also gab es mächtig Theater. Jessica stritt jede Schuld ab, dafür behauptete sie, Sven habe sie Nutte genannt, woraufhin sie ihm an seinem Pimmel gezogen habe. Als Konsequenz wurde Jessica von unserer Abschlussfahrt nach Norderney suspendiert. In diesem Moment trat meine Mutter auf den Plan. Sie vertrat die Meinung, das dürfe man nicht tun, da Jessica nur ein kleines Kind sei, dem man die Erfahrung, aufgrund seiner Herkunft und sozialen Disposition – erneut so ein Wort, das ich nicht verstand – ausgeschlossen zu werden, so lange wie möglich ersparen müsse. Die anderen Eltern sahen das natürlich anders, so wie sie es schon bei den Türkenkindern getan hatten, die letztendlich auf eine andere Schule hatten gehen müssen. Jessica blieb nach langen Streitigkeiten zuhause, statt mit uns nach Norderney zu fahren und dort zur Weißen Düne zu latschen. Ein Beispiel dafür, dass dem Schlechten ab und zu auch etwas Gutes innewohnt. Dafür gehörte ich ab sofort zu den Geächteten in der Schule, da ich laut einhelliger Meinung von Lehrern, Schülern und Eltern erstens von einer Verrückten und zweitens ohne Vater erzogen wurde.

      So taumelte ich mehr durch mein Leben als Zehnjähriger als zu schreiten und meine Mutter machte es mir mit ihrem Hang zur Kämpferin für die Armen und Unterdrückten nicht besonders leicht. Zu allem Überfluss zeigte mir Linus auf, wie unterschiedlich unsere Stellungen innerhalb der Familie inzwischen waren, denn er verkündete selbstsicher, nicht einmal im Traum daran zu denken, mit uns durch einen bescheuerten Wald zu wandern, das wäre etwas für Hippies und Grüne.

      Er stünde mehr auf Beton statt auf Holz, behauptete er und fing dann mit seiner schrägen, ungelenken Stimme an zu singen: »Ich glaub’, ich träume, ich seh’ nur Bäume, Wälder überall. Ich merk’ auf einmal, ich bin ein Tier hier, ein scheiß Tier hier. Da bleibt mir nur eins: Zurück zum Beton, zurück zum Beton!«

      Ich hatte das Lied einmal in seinem Zimmer gehört und es dort schon nicht gemocht. Ich dachte an Karl den Käfer, wie traurig der Arme war, als er fortgejagt wurde. Das war Grund genug, die eigene Abscheu vor einer Wanderung zu überwinden, um Linus zu beweisen, dass ein Käfer auch etwas zählte, trotz der lächerlichen Tiraden auf den Beton. Abgesehen davon verbot mir meine Mutter, zusammen mit meinem Bruder zuhause zu bleiben, was ich zwar als himmelschreiende Ungerechtigkeit verurteilte, meine Mutter aber kalt ließ.

      Seltsamerweise machte mir das Wandern nach der ersten halben Stunde, während der wir Kinder uns mit dem Nörgeln abwechselten und in der Intensität unseres Protests zu überbieten gesucht hatten, sogar Spaß. Die Landschaft war annehmbar, nichts war von Beton zu sehen, meine Mutter stimmte Karl der Käfer an, wir schmetterten das Lied zu dritt, als gäbe es nichts Schöneres. Danach suchten Anna und ich uns Stöcke und taten so, als wären wir die ritterliche Leibgarde meiner Mutter, einer einsamen Prinzessin, die sich in einen gefährlichen Wald mit einem Ungeheuer wagte, das wir Linus nannten. Ich kämpfte gegen unsichtbare Riesen und lebende Bäume, während Anna vorzeitig ihren Dienst quittierte und beschloss, lieber die Hofdame der Prinzessin als Leibwache sein zu wollen, um fünf Minuten später zu behaupten, sie sei sogar selbst eine Prinzessin. Meine Mutter und sie stritten sich eine Weile, da anscheinend in diesem Wald kein Platz für zwei Prinzessinnen war, bis meine Mutter klein beigab, weil Annas Laune zu kippen drohte und auf nölige Kinder hatte in unserer Wandergemeinschaft niemand Lust.

      Wir machten Rast vor einer alten Hütte. Meine Mutter schlug vor, wir könnten hineingehen, um uns dort auf die Bänke zu setzen, aber Anna fürchtete sich vor den Spinnen, die tatsächlich in allen Ecken des Raums zu entdecken waren. Ich hatte zwar keine Angst, schließlich war ich schon zehn, aber ich fand Annas Vorschlag, sich vor der Hütte auf eine Decke zu hocken, trotzdem besser. Meine Mutter hatte ihren Kirschkuchen gebacken, den ich über alles liebte. Außerdem gab es Käsebrote, Äpfel und Eistee. Ich verschlang drei Stücke Kuchen und pickte anschließend die Krümel zwischen mir und Anna von der Decke. Ich konnte mir nicht vorstellen, jemals einen besseren Kuchen als den von meiner Mutter zu probieren. Die Kombination aus leichter Säure, saftigen Früchten und süßem Teig ließ mir schon beim bloßen Gedanken daran das Wasser im Mund zusammenlaufen. Meine Mutter ermahnte mich, auch einen Apfel zu essen, aber das ignorierte

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