ТОП просматриваемых книг сайта:
Lost Levels. Oliver Uschmann
Читать онлайн.Название Lost Levels
Год выпуска 0
isbn 9783948812010
Автор произведения Oliver Uschmann
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
Hartmut spricht die berühmten Namen nicht bloß aus, er ruft sie, damit die Menschen in der Schlange und der Kartenabreißer am Museumsschiff sie auch ganz sicher hören können. »Eine ganze Nation der Philosophie, der Kunst. Und dann die Maler! Marc Chagall! Paul Gauguin!«
Der Kartenabreißer schaut zu uns herüber. Es muss seltsam aussehen. Ein abgerissener Mann mit ungepflegten Koteletten, der seit Tagen nicht richtig geduscht hat, steht vor einem rostigen, als Tigerente angemalten Transporter von Volkswagen und brüllt mit einem nach der alten deutschen Hanse benannten Bier in der Hand die Namen berühmter Franzosen.
Langsam versiegen die Namen aus Hartmuts Mund. Er nimmt einen kleinen Schluck aus der Dose und schaut mit schmalen Augen am Kriegsschiff vorbei über das glitzernde Wasser der Garonne.
»Jochen hätte mich verstanden«, murmelt er.
Diesen Satz grummelt er häufig vor sich hin, wenn man ihm in seinen Gedanken und Sorgen nicht folgen will. Am liebsten würde ich dann antworten: »Dann geh doch zu Jochen!« So, wie man im Westen den linken Jugendlichen und sogenannten Chaoten, die über die Marktwirtschaft meckerten, damals gesagt hat: »Dann geh doch nach drüben!« Zu Jochen zu gehen wäre noch nicht einmal so weit wie »nach drüben« in die ehemalige DDR, denn Jochen lebt seit vielen Jahren in Dortmund. Er war Hartmuts bester Schulfreund von der ersten Klasse der Grundschule bis zur sechsten Klasse seines ersten Gymnasiums, bevor Hartmut die Schule wechselte. Natürlich hätten die beiden sich danach noch sehen können, aber Jochens Eltern zogen aus unserer niederrheinischen Kleinstadt ins Ruhrgebiet und da Hartmut als Siebtklässler noch keinen Tigerentenbus hatte und Dreizehnjährige ungern regelmäßig mit der Bahn pendeln, verloren sich die beiden eine Weile aus den Augen. Dennoch denkt Hartmut ständig an Jochen. Vor allem eben, wenn seine anderen Freunde zu doof oder zu unsensibel sind, um seine komplexen Gedankengänge zu verstehen. Er war eben schon immer anders. Während wir, die einfachen Oberstufler, am Wochenende in der Imbissbude hinter dem Hospital Gyros Pita aßen, half er im Jugendhaus aus oder tapezierte unsere Heimatstadt mit Plakaten für Demonstrationen. Als Junge soll er an einem entlegenen Ufer der Lippe ein Sprungbrett gebaut haben. Nicht, um wirklich von dem Ding ins Wasser zu hüpfen, sondern, so seine eigenen Worte, »als Kunstobjekt«. Übernachteten wir als Volljährige später am See oder in der Nähe der Wälder, kroch er nachts zur blauen Stunde aus dem Zelt und spazierte in der Ferne durchs Unterholz. Wenn wir leise das Holz knacken hörten, wussten wir, dass er über Dinge nachdachte, die wir nicht verstanden.
»Was haben wir getan?«, jault Hartmut auf. Seine Grummelpause ist beendet. Die Augen werden wieder groß und die Gesten theatralisch. Heftig haut er sich die halbvolle Dose vor die Brust, so dass es spritzt. »Wir zerschneiden diese große Nation der Zivilisiertheit 1940 einfach mit einem Sichelschnitt.« Er lässt die Dose durch die Luft sausen, als hätte General von Manstein das Land damals tatsächlich mit dem Schwert geteilt. »Guderian und Rommel ignorieren von Kleist und brettern mit ihren Panzerdivisionen einfach alles nieder. Der Guderian kriegt sogar einen berühmten Spitznamen dafür spendiert. Heinz Brausewind. Das hört sich an wie ein Kinderbuch, verdammt nochmal!«
Hartmut wirft die Dose auf den französischen Boden. Dann hebt er sie zügig und mit Blick auf die Touristen und den Kartenabreißer wieder auf.
»Wenn ich gewusst hätte, dass diese Tour so anstrengend wird …«, sagt Jens.
»Er liest halt viel«, sage ich.
»Wir haben im Blut gebadet!«, ruft Hartmut.
»Du badest überhaupt nicht in Blut«, sagt Jens und zeigt auf den Bus. »Du fährst eine Tigerente und hast fünf Jahre lang an deiner Schule für die Einführung von Biomilch gekämpft! Meine Güte!«
»Ein Kinderbuch«, flüstert Hartmut. »Wie ein Kinderbuch …«
Da wir zu faul sind, einen offiziellen Campingplatz zu suchen und außerdem jeder von uns der Hanse schon ausgiebig Ehre erwiesen hat, bleiben wir einfach auf dem Hafenparkplatz stehen, um direkt gegenüber dem Kriegsschiff zu übernachten. Unheimlich erheben sich die Stahlmassen in der Dämmerung der hereinbrechenden Nacht. Wie ein Gebirge, das aus dem Wasser ragt. Wir sitzen auf Klappstühlen vor dem Bus und hören kalifornischen Skatepunk, den die Schweden von No Fun At All im hohen Norden aufgenommen haben. Auf die können wir uns alle einigen, denn den Death Metal von Jens kann kein Mensch den ganzen Tag lang ertragen, und die experimentelle Konzeptmusik, die Hartmut auf seinen Kassetten dabei hat, noch weniger. Diese Band aber akzeptiert unser Professor trotz ihrer »problematischen Formathaftigkeit«, vor allem, da er weiß, dass Sänger Ingemar Jansson privat ernsthafte psychische Probleme hat, die er in seinen Texten verarbeitet. In gedämpfter Lautstärke knallen die Gitarrenriffs zum eingängigen Gesang in den Abend und der junge Schwede singt davon, sich niemals richtig im Griff zu haben.
»When I think about you, everything changes
You you got to go, you you got to go
You you got to go, try to understand
It‘s nothing personal when I lose control.«
Jens trinkt und sagt, den Blick auf der Colbert: »Ich verstehe das nicht, Hartmut. Holland und Belgien haben die Nazis damals doch auch überrannt, und dort warst du auf dem Weg hierher noch völlig normal.«
Hartmut wackelt mit dem Kopf.
Ich muss schmunzeln.
Normal …
Was bei Hartmut halt so »normal« heißt.
Auf dem ersten Campingplatz in Holland hat er sämtlichen deutschen Nachbarn erzählt, er leide seit einem Unfall laut der Ärzte an einer schweren Störung des Sprachzentrums, glaube aber selber eher daran, dass er Verbindung in die Vergangenheit aufnehmen kann. Dann zuckte er zwischendurch unerwartet mit dem Schädel und begann, fließend Latein zu sprechen. Irgendwelche Texte, die er auswendig gelernt hatte. Wobei man schon sagen muss, dass er immer gut in Latein war. Dafür kann er ja auch kaum Französisch.
In Amsterdam stellte Hartmut sich halbnackt vor die Schaufenster der Prostituierten und bot sich selbst als vermeintlich kernigen Koteletten-Callboy jedem britischen Touristen an, der sich lallend eines der Mädchen kaufen wollte, bis ein paar Stiernacken uns schließlich auf Befehl der Berufsbeischläferinnen vom Platz jagten.
In Brüssel tanzte er vor dem Atomium mit einem Pappschild herum, auf welches er den dreiäugigen Fisch aus den Simpsons gemalt hatte und rief mit betrunkenem Schädel: »Praise the nuclear power! It’s not dangerous! It’s not dangerous!«
Doch hier, auf französischem Boden, da ist er nur noch nachdenklich und pathetisch. Nach sieben, neun Hansa Pils wird das meistens besser. Oder schlimmer.
Jens springt vom Klappstuhl auf und sagt: »So. Ich muss jetzt kacken.« Nervös schaut er sich um. Am Ende des Parkplatzes erstreckt sich eine Baustelle mit halb abgerissenen Häusern. Echte Ruinen, wie ausgebombt. Jens holt sich sein Klopapier aus dem Bus und setzt sich in Bewegung. Ich zeige in die entgegengesetzte Richtung: »Da hinten gibt es ein städtisches Klohäuschen.«
Jens sieht mich empört an: »Die Dinger mit Geldeinwurf, wo die halbrunde Tür aufgeht? Bist du irre! Da sind schon Menschen für Jahrzehnte drin verschollen. Und du weißt doch – nur unter freiem Himmel!«
Er läuft los Richtung Ruine.
Hartmut grinst.
Wie das Essen in Jens reinkommt, bereitet ihm keine Freude. Wie’s wieder herauskommt, macht ihm grundsätzlich gute Laune.
»Komm«, sagt er.
Ich schließe den Bus ab und komme.
Drei Minuten später kraxelt Jens in den finsteren Trümmern der Ruine herum wie eine Hyäne auf einer Müllhalde. Die Ruine hat kein Dach mehr, also zählt es für Jens als »draußen«, doch über den Zwischenwänden erstrecken sich immer noch ein paar alte Balken. Metallstreben ragen aus dem Chaos hervor wie wild in den Boden gerammte Riesennägel. Es knirscht und knackt. Hartmut leuchtet mit der Taschenlampe.
»Hast du’s bald?«, fragt er. Der Lichtstrahl streift