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Lost Levels. Oliver Uschmann
Читать онлайн.Название Lost Levels
Год выпуска 0
isbn 9783948812010
Автор произведения Oliver Uschmann
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
»Hallo?«, fragt Herr Breuer, »jemand zu Hause?«
Hartmut stiert ins Universum.
Ich seufze und sage: »Sie müssen Englisch sprechen.«
»Bitte?«
»Englisch«, sage ich. »Heute ist Englischwoche.«
»Ich weiß, welches Fach ich unterrichte«, antwortet Herr Breuer ein wenig giftig, als ob ich nun was dafür könnte. Ich denke an mein Zimmer daheim und an die Badewanne. Vielleicht schwänze ich den Rest der Woche.
»Nein, Herr Breuer«, sage ich geduldig, »für Hartmut ist Englischwoche. Nicht nur hier, im Englisch-LK. Den ganzen Tag.«
»Das verstehe ich nicht«, sagt Herr Breuer.
»Das ist wie neulich beim Fischtag«, ruft Matthes.
Herr Breuer dämmert es. Er stand definitiv oben im Glaskasten, als Hartmut unten auf der Platte mit dem Direktor diskutierte.
»Solche Spiele mache ich nicht mit«, sagt Herr Breuer.
Langsam regt mich dieser Lehrer auf.
Ich meine, ich verstehe durchaus, dass Menschen meinen besten Freund schwierig finden, aber immerhin sitzen wir im Englisch-Leistungskurs. Duldsam drehe ich mich zu Hartmut, lege meinen Arm auf seine Stuhllehne, tippe auf sein zerlesenes Reclam-Buch und frage: »Hartmut, what’s this novel all about?«
Hartmut hebt den Kopf und reißt die Augen auf, als sei er in einer Tausendstelsekunde aus dem Koma erwacht. Wie ein Gelehrter in einer Literatursendung antwortet er: »At first sight, The Great Gatsby only seems to be a classical tragic love story. A usual he wants her, but he can’t get her-drama. Of course, this plot is only a vehicle for enfolding an impressive portrait of the roaring twenties, comprising all the prevailing topics of that decade, including decadence, idealism and the difficulties in dealing with the notable social turnarounds that took place at the time.«
Den Mitschülern steht der Mund offen. Als hätten sie noch niemals die englische Sprache gehört. Herr Breuer sieht Hartmut mit den Augen eines Waschbärs an, der die Tür der Speisekammer knacken konnte, aber nur Konservendosen ohne Öffner vorfindet.
»Wrong?«, fragt Hartmut.
Herr Breuer schnauft.
Man muss natürlich dazu sagen: Bevor Hartmut die Englischwoche begann, hat er sich zu jedem einfachen Wort die jeweils kompliziertere Vokabel herausgesucht. Dazu spricht er nicht gerade deutlich, sondern in einem verwaschenen amerikanischen Tonfall, wie ihn Robert De Niro oder Samuel L. Jackson in den Originalfassungen ihrer Filme vormachen. Da kann so ein Englischlehrer schon mal überfordert sein.
»Es geht um Dekadenz, das ist schon mal korrekt«, sagt Herr Breuer jetzt, da er dieses Wort in Hartmuts Redeschwall identifizieren konnte. Hartmut verfällt augenblicklich wieder in seine Starre. Rücken gerade, Augen durch Fenster und Himmel in Richtung der Saturnringe gerichtet.
Herr Breuer versucht, es zu ignorieren.
»Matthes«, fragt er. »Was heißt Dekadenz?«
»Na ja«, sagt Matthes, »das ist wie bei den alten Römern. Zu viel Reichtum. Zu viel Party. Alles geht den Bach runter.«
»Und im Amerika der Zwanzigerjahre?«
Matthes überlegt. Herr Breuer wartet auf Antwort, kann aber nicht anders, als Hartmuts gespielte Starre im Augenwinkel zu beobachten. Bevor Matthes eine Antwort geben kann, sagt Herr Breuer: »Herr Hartmann! Hören Sie damit auf!«
Oh. Nachnamen-Modus. Jetzt ist der gutmütige Herr Breuer wirklich gereizt.
Hartmut bleibt eingefroren. Dann sagt er, mit der Miene eines Androiden, scharf artikuliert, aber seltsam abgehackt betont, als würde er nach der Rezitation explodieren:
»The brown and orange sky holds its breath
as the sun retreats to the distant horizon,
and our hearts palpitate anxiously as we soon will lay supine,
and wait for sleep to overcome us.«
Ich muss grinsen.
Die Verse haben nichts, aber auch gar nichts mit dem Unterricht zu tun. Es handelt sich um einen Liedtext von Bad Religion. Die Religionswoche ist schließlich rum, da darf er das. Die Texte dieser Gruppe hat noch nie ein Mensch auf Erden verstanden. Nicht einmal innerhalb der Band, außer dem Sänger, der sie schreibt, ein Professor. Der Bassist der Gruppe hat es neulich zugegeben, in einem Interview, und der ist Muttersprachler.
»Jetzt reicht’s!«, sagt Herr Breuer, als hätte Hartmut lauter unflätige Beleidigungen von sich gegeben. »Herr Hartmann, ich denke, es ist für uns alle besser, wenn Sie für heute gehen.«
Hartmut schweigt.
Herr Breuer sagt: »Go!«
Hartmut nickt und packt.
Ich schaue Herrn Breuer an.
»Sie auch«, sagt er.
Prima, denke ich, es ist ohnehin die letzte Stunde. Playstation und Badewanne, ich komme. Herr Breuer macht einen Eintrag im Klassenbuch, als wir behutsam die Tür schließen.
Auf dem Flur ist es still. Schweigend hängen die Jacken an den runden Haken aus dunkelblauem Plastik, obwohl sie sich gegenseitig so viel über ihre Träger zu erzählen hätten.
»So«, sagt Hartmut, »ab ins Kellergeschoss!«
»Wohin?«
»Zur Redaktion der Schülerzeitung. Schüler fliegt aus dem Leistungskurs Englisch, weil er Englisch spricht. Das nehmen die als nächste Titelseite. Damit könnte ich sogar zur lokalen Tageszeitung spazieren.«
Ich grinse.
Wo er Recht hat, hat er Recht.
Man kann nicht sagen, dass die kommenden Wochen leichter wurden. Unseren Mathelehrer trieb Hartmut in die Verzweiflung, indem er ein Jahrhunderte lang ungelöstes Rätsel an die Tafel schrieb, das in seiner Disziplin eigentlich Kultstatus hat, das der arme Mann aber nur vom Hörensagen kannte. Im Sport holte Hartmut den armen Matthes beim Fußball mit einer grausamen Blutgrätsche von den Beinen, die sich am echten Geschehen in der Bundesliga orientierte. Heute, es ist Freitag, werden wir schon vor Beginn der ersten Stunde zum Direktor gerufen, da uns Hausmeister Höttgen, als er um viertel nach sieben das Gelände betrat, dabei erwischte, wie wir mit riesigen Schaufeln die Erde zwischen den Bepflanzungen des Schulhofs abtrugen. Nun sitzen wir bei Direktor Knüfer, die Fingernägel schwarz und die Erdklumpen noch an den Hosen.
»Was soll das denn nun schon wieder?«, fragt er. Sein Büro ist den ganzen Tag mit diesen Lamellenvorhängen abgedunkelt, durch die das Licht nur in Streifen einfällt. Wie in alten Detektivfilmen.
»Löcher!«, sagt Hartmut.
Direktor Knüfer atmet schwer.
»Archäologische Löcher. Wir wollen schauen, was unter dem Schulhof so alles zu Tage kommt. Wir haben Erdkunde-Woche.«
»Es ist überhaupt keine Woche mehr!!!«, platzt es nun aus dem Direktor hervor. Die Gummipalme hinter ihm wackelt. Kleine Tröpfchen Speichel fliegen im Lamellenlicht durch den Raum.
»Wollen Sie denn nicht, dass wir die Schulfächer ernst nehmen?«
»Nein!«, brüllt Direktor Knüfer, »jedenfalls nicht so.«
»Okay«, sagt Hartmut.
Direktor Knüfer schaut ihn verwirrt an.
Hartmut nickt jovial, als wäre er hier derjenige am Ruder, der bestimmt, wann das Schiff wieder anlegt. »Alles klar. Die Themenwochen sind dann hiermit vorbei.«
Direktor Knüfer sagt, dass er das nur hoffen könne und verabschiedet uns mit der Warnung, dass er kein Problem damit habe, auch offensichtlich