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dafür keinen Respekt, Mehmet!«, sagt Hartmut. »Von der Welt, ja, aber nicht von denen.«

      Er zeigt quer über die Tische.

      »Denn wenn ihr euch verändert oder ganz offen zu der Person werdet, die ihr eigentlich schon längst seid, die ihr aber immer versteckt habt, werden eure Freunde diese Entwicklung mit Neid und Missgunst verfolgen. Die neuen Partner und Partnerinnen, die mit der Zeit in euer Leben treten, werden für alles verantwortlich gemacht, was euren alten Freunden an euch nicht mehr gefällt, da jeder neue Mensch eine Gruppe und ihre Gewohnheiten gefährdet.«

      Ich klappe meinen Hemdkragen hoch und bin mit der Nase bald auf Tischhöhe angekommen. Irgendwie fühle ich mich verantwortlich für Hartmut. Ich habe doch gesehen, wie er an der Rede geschrieben hat, auf und ab laufend wie ein Tiger im Käfig. Ich bin die Stimme der Vernunft in unserer Beziehung. Ich hätte ihn bremsen müssen. Der Direktor wirkt, als überlege er sich, ob er das Mikro abschalten lassen soll. Nur Hausmeister Höttgen steht relativ entspannt im Hintergrund an der Wand der Halle. Wahrscheinlich, weil er ahnt, dass er in dieser Rede nicht vorkommen wird. Trotz der verweigerten Biomilch.

      »Sehen wir uns in fünf, in zehn, in fünfzehn Jahren zum Stufentreffen, tragen wir erneut Westen und Anzüge, aber die meisten unter uns werden die Chance nutzen, um nur für einen Abend endlich wieder der Chef im Ring zu sein, der einen Matthes oder einen Mehmet aufzieht und mobbt, obwohl diese Männer längst die Welt verändern und als Kollateralnutzen zweistellige Millionenbeträge auf ihrem Konto haben.«

      Mehmet und Matthes werden rot.

      Nico, seine Anhänger und der Direktor werden weiß.

      Vor der Halle ertönt ein Motor. Jemand betätigt die alte Schiebetür eines Transporters und direkt danach die gigantischen Flügeltüren der Halle. Es ist Jens. Die Köpfe drehen sich wieder. Hausmeister Höttgen klappt den Mund auf. Das Maul der Halle steht nun offen, und direkt davor brummt Hartmuts Tigerente, bereit zum Sprung wie ein knurrendes Raubtier. Jens steigt in den Bus. Hartmuts Eltern schauen sich an. Meine Mutter sieht die Koniferen brennen.

      Hartmut startet den Schlussakkord. Er will den klassischen Machtmenschen-Mann vernichten, aber jetzt klingt er selbst fast so fanatisch wie damals ein gewisser Österreicher zu der Zeit, als der 1. FC Nürnberg ständig deutscher Fußballmeister wurde.

      »ALLE Vorurteile, ALLE Kindereien und ALLE Rollenspiele, mit denen wir uns in den letzten Jahren gequält haben, werden auf den Stufentreffen der Zukunft wiederholt werden, und die Einzigen, die fähig sind, sich auf Augenhöhe, mit Wertschätzung und Respekt zu begegnen, bleiben spätestens ab dem zweiten Treffen diesem Unsinn fern und schreiben sich gegenseitig Briefe, mit Feder und Tinte, bei Rotwein und guter Musik, und zwar auf Büttenpapier!!!«

      Mehmet und Matthes sehen sich gegenseitig an, als fragten sie sich, wo sie dieses Büttenpapier herkriegen sollen und ob in fünf, zehn oder fünfzehn Jahren nicht auch elektronische Post reichen wird. Hausmeister Höttgen sieht hilflos zu Direktor Knüfer, der aufsteht und auch nicht weiß, was er dagegen unternehmen soll, dass Jens nun auf ein Zeichen Hartmuts hin mit dem Tigerentenbus in die Halle fährt und bei offener Schiebetür seitlich zum Stehen kommt.

      Hartmut weiß, hätte er mir all das vorher verraten, ich hätte den Quatsch niemals mitgemacht. So aber stehe ich auf, verabschiede mich von meiner Mutter und seinen Eltern, als zöge ich in den Krieg, nicke meinen Mitschülern entschuldigend zu und gehe zum Bus. Hartmut sagt: »WIDERLEGT MICH, liebe Mitschülerinnen und Mitschüler, WIDERLEGT meine Prognose. DAS ist ALLES, was ich mir VON euch und vor allem FÜR euch wünschen kann!!!« Stille.

      Nur der brummende Motor der Ente.

      Und eine Runde Pestilence, die aus dem Kassettenrekorder erklingt, während Jens auf dem Sitz auf und ab hüpft wie ein Zwerg auf Koks.

      »ICH«, beendet Hartmut seine Rede, »bin dann mal weg!«

      Mit einem lauten Rumms wirft er das Mikro auf den Boden, so dass es quietscht, wie wenn eine Band ihr Konzert mit eingeschalteter und vor die Box geworfener Gitarre beendet, und läuft zum Bus. Ich sitze bereits drin. Hartmut steigt ein, winkt in Richtung seiner Eltern sowie den Tischen von Matthes und Mehmet und zieht die Tür zu. Jens kurbelt am alten Lenkrad und fährt die Ente aus der Halle, durch die Tore, über den Vorplatz, auf die Straße und durch den Tunnel Richtung Bahnhof, Ring und Gleisbrücke, die auf die Ausfallstraße aus der Stadt führt.

      Hartmut schaltet Pestilence aus.

      Im Fenster ziehen am Horizont die Hochhäuser vorbei.

      Vor uns liegen Holland, Belgien, Frankreich, Spanien … so lange die Vorräte reichen.

      Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

      Jens lenkt mit rechts und kaut mit links am Fingernagel.

      Hartmut lehnt sich zurück, als habe er erst jetzt die Schule wirklich abgeschlossen, und sagt: »Sollen wir noch kurz am Trucker-Grill halten, bevor wir Europa erobern?«

      Ich schweige.

      Hartmut haut sich vor die Stirn: »Ach, ich Dummerchen. Der hat ja gerade geschlossen.«

      Jens schaltet Pestilence wieder ein.

      Zwei Jahre vor Einzug in die WG

      Lampe aufs Tau

      »Der Hunger! Der Hunger! Nichts ist für einen deutschen Mann schlimmer als der Hunger!«

      Jens springt aus dem Bus, kaum, dass wir auf dem Hafenparkplatz in Bordeaux angehalten haben. Er läuft um die Tigerente herum, reißt die Tür auf, schiebt mich zur Seite, hebt das Polster hoch und kramt unter der Bank nach den Dosen mit der Tomatensuppe. Derweil betont er das »r« in »Hunger«, als würde er ein Lied von Rammstein singen.

      »Hungerrrrr!!!«

      Jens findet die Dose, öffnet sie, stellt sich vor den Bus und trinkt die Suppe direkt aus der Konserve. Blutrot läuft ihm der Saft die Mundwinkel herunter. Die Touristen gucken. Ich muss grinsen. Hartmut, der mittlerweile auch seinen Fahrersitz verlassen hat, bekommt hektische Flecken im Gesicht.

      »Jens! Jetzt hör doch mal auf mit dem Scheiß!«

      Ein kleiner Junge zeigt aus der Schlange der Besucher, die gegenüber am Kai anstehen, zu uns herüber. Die Touristen warten darauf, einen riesigen Kriegskreuzer zu betreten, der hier als Museumsschiff vertäut ist.

      Jens setzt kurz die Dose ab und fletscht seine Zähne.

      Ich winke dem Jungen und rufe: »Vampire. German Vampire.«

      Hartmut funkelt mich an: »Aus! Schluss jetzt! Alle beide!«

      Besorgt schaut er zur Schlange am Schiff. Familien mit Kindern und alleinstehende Männer mit Kamera auf der Brust, welche die Colbert, so heißt das Schiff, womöglich schon alleine zu Hause als Modell gebaut haben. Es sieht jedenfalls alt aus.

      Jens stellt die Tomatensuppe ab und holt uns stattdessen drei Bierdosen aus dem Bus. Er und ich öffnen unsere sofort. Hartmut überlegt einen Augenblick, ob auch öffentliches Biertrinken zu schamlos wirkt, lässt dann aber ebenfalls sein Hansa Pils zischen. Wir sind im Urlaub, da gehört auch für ihn Bier zu den Grundnahrungsmitteln. Ansonsten aber überkommen ihn die Skrupel, seit wir die französische Grenze passiert haben.

      »Prost«, sagt Jens.

      »Skål«, sage ich.

      »Santé!«, sagt Hartmut.

      Der kleine Junge plaudert wieder mit seinem Vater, der auf die Flugabwehrkanonen des Schiffes zeigt. Blut trinkende Deutsche sind interessant. Bier trinkende Deutsche nicht.

      Hartmut schüttelt den Kopf wie eine vorwurfsvolle Mutter.

      Jens sagt: »Was?«

      Hartmut sagt: »Du kannst doch nicht im Hafen von Bordeaux einen deutschen Blutsauger darstellen.«

      »Meine Güte …«, mault Jens.

      Hartmut dreht sich um und zeigt über den Parkplatz und die angrenzende Stadt, die sich dahinter erstreckt.

      »Das

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