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sagt Hartmut.

      Hausmeister Höttgens Augen streifen über die Platte, die riesigen Tüten vom Bäcker, das Brotmesser und die fettigen Schalen mit Fisch.

      »Sie … äh … wie bitte?«

      »Gut, hier sind’s jetzt eher nur zweihundert, aber man muss die Bibel ja nicht päpstlicher auslegen als der Papst.«

      Hausmeister Höttgen schließt die Augen, wedelt mit den Armen in der Luft herum, als verscheuche er Moskitos, und gibt einen Laut von sich, wie man ihn aus alten Komödien kennt, wenn kleine Männer sich aufregen und ihnen gleich die Adern platzen. Er zeigt mit dem Finger auf Hartmut, fixiert ihn mit seinen Hausmeisteraugen, dreht sich um und schreitet ins Gebäude. Zwei Minuten später kommt er wieder heraus, den Direktor im Schlepptau.

      »Na super«, sage ich, »gleich der Direktor«, aber Hartmut bleibt ganz gelassen. Einzig seine Koteletten, die wie winzige Büsche von seinen Schläfen abstehen, trägt er ungewöhnlich lang. Sanft wiegen sie sich im Wind.

      »Herr Hartmann!«, ruft der Direktor, noch zehn Meter von der Fischplatte entfernt. Hartmut nickt ihm freundlich zu.

      »Direktor Knüfer«, sagt er, »möchten Sie auch Brot und Fisch?«

      »Was soll der Unsinn?«, entgegnet der Direktor undankbar. Hausmeister Höttgen schüttelt den Kopf und sagt: »Ich habe immer vor diesem Jungen gewarnt.«

      Hartmut sagt: »Unser Religionslehrer Herr Heuking hat gesagt, uns allen fehle heute der Respekt vor der Heiligen Schrift. Und wissen Sie was? Er hat Recht.«

      Direktor Knüfer versteht Hartmuts Anspielung. Er kennt die Lehrer, die für ihn arbeiten. Herr Heuking ist ein Traditionalist. Ein echter Kirchenmann. In seinen Augen lodert noch das Feuer des Gotteszorns. Direktor Knüfer war Chemielehrer, bevor er zum Chef der Schule wurde. Ich vermute sogar, er ist Atheist.

      »Sie können doch hier nicht einfach Fischbrötchen verschenken«, sagt Direktor Knüfer.

      »Sie mit Gewinn zu verkaufen, wäre schon sehr unchristlich«, sagt Hartmut. Ich lege weiter Heringe in die Backware.

      »Jetzt hören Sie auf damit! Alle beide! Was ist, wenn das Gesundheitsamt das sieht?«

      »Ich höre auf, sobald es an der Bude endlich Biomilch gibt«, sagt Hartmut. »Also, falls Ihnen die Gesundheit Ihrer Schüler wirklich wichtig ist. Die Trinkpäckchen sind von der Großindustrie. Da ist so viel Antibiotika aus der Massentierhaltung drin, wenn ich Kopfweh habe, spare ich das Aspirin und trinke ein Päckchen Schülermilch.«

      Es stimmt. Hartmut kämpft seit Jahren für bessere Milch. Es ist eine meine ersten Erinnerungen an ihn. Er war damals neu an der Schule und ging in die Parallelklasse. Mit Parallelklassen verhält es sich so wie mit anderen Abteilungen in großen Unternehmen. Man weiß zwar, wer dort arbeitet, aber man hat nichts miteinander zu tun. Man beobachtet sich und streut Gerüchte. In der fünften Klasse trifft man sich noch auf dem Stück Brachland hinter der Turnhalle, um ganz offen Schlachten gegeneinander zu führen, mit Stöcken, Ranzen und gut gefüllten Turnbeuteln, die man sich schmerzhaft in die Flanken drischt. Aber miteinander reden? Das gibt es nicht! Bis sich der Rest der Schüler, der über die Jahre übrig bleibt, in der Oberstufe mischt. In der Siebten jedenfalls, als zwischen uns noch der Klassenkampf herrschte, da fiel mir Hartmut schon auf. Zum Beispiel an der Bude, aus der heraus Hausmeister Höttgen Milch und Kakao verkauft. Ich sehe die Szene noch vor mir. Der Hausmeister ahnt nichts Böses, und der zwölfjährige Hartmut fragt: »Nehmen Sie Tabletten?«

      »Wie bitte?«

      »Pillen. Aspirin, Paracetamol, irgendwelche Antibiotika?«

      »Du kannst mich doch nicht fragen, ob ich Pillen nehme. Ich bin euer Hausmeister.«

      »Gerade drum. Wir jungen Menschen sind Ihre Schutzbefohlenen. Ob uns eine Neonleuchte auf den Kopf fällt oder ein Stuhl unter uns zusammenbricht, liegt in Ihren Händen. Da habe ich doch das Recht, zu wissen, ob der Mann, der dieses Gebäude wartet, Tabletten nimmt.«

      »Nein.«

      »Nein, Sie nehmen keine Pillen, oder nein, ich habe kein Recht, Sie zu fragen?

      »Nein, du hast kein Recht, mich danach zu fragen!«

      »Also nehmen Sie welche!«

      »Natürlich nehme ich keine Pillen, Herrgott nochmal!«

      »Und warum verabreichen Sie dann uns, Ihren Schutzbefohlenen, jeden Tag härteste Medizin?«

      »Was???«

      Und so begann Hartmut dem Hausmeister zu erklären, dass Hunderte von Pillen in der Milch verteilt seien. Antibiotika. Doping für die Leistungskuh, die pro Tag fünfzig Liter Milch geben muss. Da könne Herr Höttgen genauso gut die Pillen mit dem Mörser vor Ort zerreiben und in die Milch mischen. Hartmut forderte den Einkauf von Biomilch für den Schulkiosk und erzählte allen von den Pillen, vor allem den Kleinen, die auch glaubten, die Tischtennisplatte hätte schon Jahrhunderte vor der Schule hier gestanden. Die Einnahmen von Herrn Höttgens Bude haben sich seither nicht wieder erholt.

      »Sie verschenken hier keinen Fisch!«, bleibt der Direktor hart. »Runter von der Platte!«

      »Gut«, sagt Hartmut und steigt hinab. Ich packe Brötchen und Matjes ein. »Dann nehme ich Sie mal beim Wort. Ich verschenke hier keinen Fisch.« Schwungvoll schnappt er sich die Kühltasche, drückt sie mir in die Hand und ruft Richtung Lehrerzimmer, dem riesigen Glaskasten über dem Eingang: »Herr Heuking? Hören Sie mich? Dies ist ein unchristlich geführtes Haus! Die Händler werden hier nicht vom Hof gejagt, obwohl sie Pillenmilch verkaufen. Aber diejenigen, die Brot und Fisch verteilen, vertreibt man!«

      Ich schaue zum Glaskasten hinauf. Eine Menge Lehrer haben sich dort versammelt, um den Tumult auf dem Schulhof zu beobachten. Köpfe über Köpfe. Ich schaffe nicht, sie alle zu identifizieren, denn Hartmut zieht mich bereits hinter sich her zum Ausgang.

      »Mein Jünger und ich verteilen die Gaben dann eben in der Stadt!«, ruft er, obwohl wir eigentlich gleich Mathe haben.

      »Ich bin nicht dein Jünger«, zische ich und folge ihm.

      Die Fischverteilung in der Stadt war kein großer Erfolg. Die Obdachlosen vor dem Kaufhof bedachten uns mit lauten Flüchen, und eine Dame, die ihnen eben noch einen Euro in den Hut gelegt hatte, schüttelte den Kopf und meinte, das sei ja wohl unfassbar, diese armen Menschen auch noch zu verhöhnen, indem man ihnen alten Fisch aus der Mülltonne anbiete. Die Punks am Bahnhof fanden die Aktion eher lustig. Einer interpretierte sie als Satire und rief irgendwas von »Tod den Pfaffen!«, bevor er sich wegen des Geruchs des Matjes und zu viel Wodka in seinem Schädel an die Mauer erbrach. Gut, dass die Religionswoche bald vorbei ist. Ab dem kommenden Montag steht für Hartmut die Englischwoche an. Das könnte glimpflicher ablaufen. Vielleicht.

      »Wovon handelt The Great Gatsby denn eigentlich?«, fragt Herr Breuer am Montagmorgen in die Runde des Englisch-Leistungskurses. Auf den Tischen vor uns liegt das kleine Reclam-Heft. Ich mag diese Teile. Da weiß man, was man hat. Deutsche Literatur ist gelb, Interpretationen sind grün und englische Texte orange. Hartmuts Ausgabe ist an jeder Stelle mit Bleistift vollgeschrieben und dermaßen abgegriffen, als hätte er den Text schon fünfmal gelesen. Hat er wahrscheinlich auch.

      Ich zeige auf: »Das Buch handelt von Jay Gatsby. Millionär. Liebt Daisy Buchanan, kann sie aber nicht haben.«

      »Das ist die Handlung«, sagt Herr Breuer, »aber was ich meine ist: Worum geht es? Was sind die Themen?«

      Er wendet sich an Hartmut. Der hat meistens die besten Antworten. Meine Leistungskurse sind Englisch und Bio. Seine Leistungskurse Englisch und Philosophie.

      »Hartmut? Was denken Sie?«

      Herr Breuer geht mit der Siezpflicht in der Oberstufe anders um. Er würde nie »Herr Hartmann« sagen. Er siezt uns, benutzt aber den Vornamen. So, wie die Kassiererinnen untereinander im Supermarkt. Hartmut kennt die Antwort, aber er schweigt.

      Ich weiß auch, warum.

      Englischwoche.

      »Hartmut?«,

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