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diesen Quatsch aufziehen durften, darf Hartmut gleich nach Direktor Knüfer im Namen der Schüler die Abschlussrede halten. Das ist der besagte Deal. Und das wiederum hätte ich an Nicos Stelle niemals zugelassen!

      » … und daher wünsche ich nun allen Schülerinnen und Schülern des Jahrgangs alles Gute auf ihrem weiteren Lebensweg. Mögen alle Ihre Träume und Wünsche in Erfüllung gehen!«

      Direktor Knüfer packt seine Ledermappe zusammen und nimmt den höflichen Applaus der Menge entgegen. Es sind viele Menschen anwesend und die Tische wurden weitläufig verteilt, doch trotzdem verlieren sie sich in der Halle, die wie ein Hangar wirkt. Groß und ungemütlich. Die Toten Hosen haben hier schon gespielt, und die Flippers. Die Türen des Eingangs sind dermaßen gigantisch, dass man mit dem Laster bis vor die Bühne fahren könnte, wenn man wollte. Der Direktor nickt Hartmut zu. Jens wippt am Nebentisch mit den Füßen und hebt den Daumen. Er hat bereits sämtliche Programmblätter zu Kranichen und Dackeln gefaltet. Hartmut betritt langsam die Bühne und stellt sich ans Pult. Ich reibe mir die Schläfen.

      Hartmuts Mutter fragt: »Was hast du? Ist dir schlecht? Ich fand auch, dass die Shrimps am Büffet nicht gerade rosig aussahen.«

      Ich schüttele den Kopf.

      Vor meinem inneren Auge sehe ich die Verhandlung, die Nico mit Hartmut geführt hat, auf dem Schulhof vor der Milchbude. Ich höre Hartmuts Worte, wie er sagt: »Einverstanden, Nico. Aber wenn ich die Rede halte, dann sage ich die Wahrheit. Okay? Ich sage die Wahrheit.«

      Nico schlug ein und hatte ihn wieder drauf, seinen Blick. Überheblich. Gönnerhaft. Niemanden ernst nehmend. Keine »Perle« und auch keinen Typen, der seinen Bus wie ein Tier aus einem Kinderbuch anmalt.

      Nico, was hast du da getan?

      Hartmut rückt sich das Mikrofon zurecht.

      Es knackt.

      Alle gucken.

      Und Hartmut?

      Sagt nichts.

      Eine Sekunde.

      Zwei Sekunden.

      Drei Sekunden.

      Jemand hustet.

      Zwei Pilsgläser stoßen aneinander.

      Jens’ Fuß klackert auf den Boden wie Kolibri-Flügel.

      Vier Sekunden.

      Fünf Sekunden.

      Hartmut hebt den Kopf, die Koteletten durchleuchtet vom Scheinwerferlicht wie Dornenbüsche vom Vollmond in der Nacht.

      Er atmet … und sagt: »Das Leben kann nur rückwärts verstanden, muss aber vorwärts gelebt werden.«

      Dann schweigt er wieder.

      Hartmuts Vater lächelt dezent in sich hinein.

      Nico grinst überheblich an seinem Tisch. Sein Vater ist einen Kopf kleiner als er, aber einer der bedeutendsten Anwälte in ganz Nordrhein-Westfalen. Sagt man. Matthes‘ Eltern einen Tisch weiter betreiben den Trucker-Grill im Gewerbegebiet.

      Hartmut lässt erneut ein paar Sekunden verstreichen, bevor er schließlich loslegt.

      »Liebe Mitschülerinnen und Mitschüler,

      wenn wir uns in fünf, in zehn, in fünfzehn Jahren wieder treffen, wird viel in euer aller Leben passiert sein. Ihr habt eure Berufung zu eurem Beruf gemacht und folgt euren Talenten und eurem Herzen. Jeder geht seinen eigenen Weg, und sollte dies ein anderer sein als der, den eure Eltern euch vorgelebt haben, werden sie ihn trotzdem unterstützen und mit bedingungsloser Loyalität begleiten. Die Männer werden ihre Zeit beim Militär oder im Zivildienst nutzen, um menschlich zu wachsen. Die Frauen betreten derweil bereits die Universität und kommen in den Genuss echter, freiwilliger Bildung. Marschieren sie auf diesem Weg zum Magister oder Doktortitel durch, ernten sie ebenso viel Ansehen, wie wenn sie sich zwischendrin verlieben, eine Familie gründen und alle beruflichen Ambitionen zugunsten der ersten eigenen Kinder auf Eis legen. Alle werden sich verändern und ihre Freunde diese Entwicklung mit Neugier und Interesse verfolgen. Die neuen Partner und Partnerinnen, die mit der Zeit in euer Leben treten, werden sie mit offenen Armen empfangen, da jeder neue Mensch eine Gruppe bereichert. Sehen wir uns in fünf, in zehn, in fünfzehn Jahren wieder, tragen wir nicht nur Westen und Anzüge, wie wir es heute unserem Direktor und unseren Eltern zuliebe tun …« –dezentes Gelächter im Saal – » … sondern fühlen uns auch so erwachsen, wie diese Kleidungsstücke aussehen. Und das meine ich positiv. Alle Vorurteile, alle Kindereien und alle Rollenspiele, mit denen wir uns in den letzten Jahren gequält haben, sind dann zu Ende, und wir begegnen uns auf Augenhöhe. Mit Wertschätzung und Respekt.«

      Der Direktor dreht sich zu uns um, als wolle er sagen: Alle Achtung, euer Freund, der Verrückte, also … alle Achtung. Selbst meine Mutter offenbart ihren seltenen seligen Blick, den sie sonst nur hat, wenn die Koniferen in der Baumschule wie an der Schnur gezogen in die Höhe schießen. Aber ich ahne, dass das noch nicht alles war.

      »Aber leider«, fährt Hartmut fort, »wird es so nicht kommen.«

      Der Direktor wirbelt wieder herum.

      Meine Mutter findet braune Stellen an der Konifere.

      Hartmut holt Luft und setzt neu an, als würde die Rede erst jetzt beginnen:

      »Liebe Mitschülerinnen und Mitschüler,

      wenn wir uns in fünf, in zehn, in fünfzehn Jahren wieder treffen, wird viel in euer aller Leben passiert sein. Nur einer von zehn hat seine Berufung zum Beruf gemacht und folgt seinem Talent und seinem Herzen. Der Rest folgt den Erwartungen seiner Eltern, denn er weiß: Tut er das nicht, werden sie ihn mit wortlosen Vorwürfen und schweigsamer Bitterkeit strafen.«

      Hartmut schaut bei diesen Sätzen zu Nico und seinem griechischen Vater, als sei der Mann der jähzornige Zeus.

      Ich sinke etwas tiefer in den Stuhl.

      Hartmut sagt: »Die Männer werden ihre Zeit beim Militär oder im Zivildienst damit verbringen, sich auf der Stube oder in der Umkleide heimlich zu betrinken, um die Sinnlosigkeit des Wehrdienstes und die herzlose Effizienz des modernen Krankenhausbetriebs auch nur halbwegs zu ertragen. Die Frauen studieren ‚Reli‘ und ‚SoWi‘ auf Lehramt und trauen sich nicht einmal, die eigenen Fächer mit vollem Namen auszusprechen, während sie sich heimlich wünschen, sie hätten den Mut gehabt, sich für Maschinenbau oder Chemie einzuschreiben und den Platzhirschen bei Bayer und BASF zu zeigen, wo der Hammer hängt. Sollten sie sich zwischendurch verlieben, Kinder bekommen und mit ganzem Herzen fürs Erste oder für immer nur Mutter werden wollen, werden vor allem alle anderen Frauen um sie herum sie dieses nur spüren lassen, als sei es ernsthaft einfacher, die Pädagogik jeden Tag am plärrenden Praxisteil auszuprobieren, als sich irgendwelche Seminararbeiten über die Erziehungstheorien von Jean Piaget aus den Fingernägeln zu saugen.«

      Oh Gott, oh Gott, oh Gott.

      Hartmut wird lauter und lauter. Jens hört auf, mit dem Fuß zu wippen, fährt sich mit der Hand übers Kinn, sieht sich um, steht auf und verlässt die Halle. Was soll das? Muss er pinkeln und deswegen schnell ins Freie? Hartmut sieht es, scheint aber nicht überrascht.

      »Nur ganz wenige«, macht er am Rednerpult weiter, »werden sich verändern. Du, Matthes, du schon!«

      Matthes legt die Hände flach auf seine Brust, als wolle er sagen: »Wer, ich?« Seine Eltern gucken entsetzt, als sei Hartmuts Wort das Gesetz der Zukunft, das bedeutet: Nach ihnen ist der Trucker-Grill Geschichte.

      »Auch du, Mehmet, gehst deinen Weg.«

      Die ganze Halle dreht sich um zu einem der hinteren Tische, an dem Mehmet mit seiner Familie Platz genommen hat. Sein Vater runzelt die Stirn und weiß nicht, ob das nun ein Kompliment war. Seine Mutter versteht kein Wort, weil sie kaum Deutsch spricht. Mehmet hat einen der besten Notenschnitte und sich fest vorgenommen, Umwelttechniker zu werden und eines Tages die ganze Welt mit sauberer Energie zu versorgen, falls das CIA ihn nicht in dem Moment, wo er die ultimative Methode gefunden hat, im Auftrag der Ölkonzerne erschießt. Dennoch hat er in der

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