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      Am Montag erscheint die große Reportage unter der Überschrift »Schüler nimmt die Schule ernst – und bekommt Ärger!« nicht bloß in der Schülerzeitung, sondern auch im Lokalteil der Rheinischen Post. Weil sie gut ist, die Geschichte. Und weil der Redakteur, Herr Albrecht, mit dem Direktor Knüfer noch ein privates Hühnchen zu rupfen hatte.

      Es ist eine kleine Stadt, in der wir leben.

      Hartmut und ich.

      Zwei Jahre vor Einzug in die WG

      Höhere Reife

      »Das ist ja ein süßer Fratz!«, ruft Nico und zeigt auf Hartmuts alten VW-Bus. »Hast du den adoptiert?« Nico lacht. Er hat eine Traube von Mitschülerinnen und Mitschülern im Schlepptau. Wie immer. Wie seit der Kindheit. Nico war die ganze Zeit der Held der Schule. Jungenheld. Frauenheld. Alphatier. Bester Sportler. Reichster Sohn. Sänger der Schulband. Mit vierzehn hatte er bereits fünf Freundinnen verbraucht, zwei davon allein auf der Siebener-Klassenfahrt.

      Hartmut sagt: »Die habe ich aus dem Tierheim. War schwierig. Es gab viele Bewerber dafür. Eine Tigerente findet man nicht oft.«

      Nico grinst und hebt seinen Daumen, als sei Hartmut ein Gegner beim Boxen und hätte den Schlag gut pariert. Es sieht arrogant aus. Gönnerhaft.

      Ich drehe mich zu Hartmut und sage: »Dein Bus ist eine sie?«

      »Natürlich«, antwortet er. »Eine Ente ist immer eine sie. Sonst wäre es ein Erpel.«

      Manchmal verstehe ich ihn nicht. Er hat den großen, zum Wohnmobil umgebauten VW-Bus extra so vor dem Eingang der Niederrheinhalle geparkt, dass alle Mitschüler und Eltern auf dem Weg zur abendlichen Abiturfeier uns damit sehen können. So wie die Halbstarken es früher in den Filmen aus den Fünfzigern mit ihren Cadillacs machten. Zum Angeben. Wir parken immer so, seit Hartmut das Ding besitzt. Auffällig vor Konzerthallen. Auf Festivals direkt am Weg statt tief in der Wohnwagenmenge. Am Rande von Trödelmärkten. Hartmut will gesehen werden. Nur eben nicht mit einem amerikanischen Muscle-Car, sondern mit einem Volkswagen LT, den er direkt nach dem Kauf zur Tigerente umgestaltet hat. Nicht sauber mit der Spritzpistole, sondern mit Pinsel und Händen. Es sieht aus, als hätte ein Kind ein Fahrzeug bemalt.

      »Alles was ist, ist Metapher«, sagt Hartmut. »In dieser Welt braucht es Männer, die freiwillig eine Tigerente fahren. Als Gegengewicht.« Beim Sprechen schaut er Nico und seinen Anhängern hinterher. Zu ihnen gehört auch Corinna. Ihr habe ich in der siebten Klasse hinterhergesehen. Einmal starrte ich eine halbe Ewigkeit auf ihre Hände, als sie Schwierigkeiten hatte, ihr Fahrradschloss aufzufummeln. Es war Winter. Weißer Reif lag auf jedem Blatt und den Pfosten des Zauns. Sie trug fingerlose schwarze Wollhandschuhe, und statt einfach zu ihr zu gehen und ihr zu helfen, stand ich da wie ein Idiot, stellte mir vor, wie diese Finger ganz woanders herumfummeln würden, und bekam ein schlechtes Gewissen. Ich habe Corinna nie gekriegt. Nico ging ein paar Wochen mit ihr. Für ihn war sie eine von vielen. Für mich gab es nach Corinna nur noch Bina. Oder eben auch nicht. Aber das ist eine andere Geschichte. Nico jedenfalls hat eine deutsche Mutter und einen griechischen Vater. Beide Nationalitäten haben ihre deutlichsten Spuren hinterlassen. Sein Körper ist von germanischer Größe und wikingergleicher Haltung, während seine Wangenknochen vom Gott Apollon selbst modelliert wurden. Und das Schlimme ist – er weiß das!

      BLUUUUUAAAAAARRRRRRGHHHHHHH!!!

      Ein blauer VW Käfer knattert um die Ecke. Death Metal quillt aus den Fenstern, als würde sich das Automobil zu allen Seiten hin übergeben. Jens. Er winkt aus dem offenen Fenster und guckt viel zu heiter für das eitrige Todesgebrüll. Mit schorfiger Vollbremsung parkt er die rollende Antiquität auf dem Schotterplatz gegenüber, schaltet den Krach aus, zieht seinen Seesack von der Rückbank und marschiert voller Vorfreude zu uns herüber.

      »Nur noch ein paar Stunden!«, ruft er und wirft den Seesack an Hartmut vorbei in die Tigerente. Das Jackett zur guten Jeans sieht gar nicht übel an ihm aus. Jedenfalls besser als die T-Shirts, die er sonst trägt. Motive von Bands wie Autopsy oder Pestilence. Selbst Hartmut und ich tragen heute das anständigste, was wir gefunden haben. Hartmut eine Weste über einem schwarzen T-Shirt, ich meinen Konfirmationsanzug. In einer Stunde sitzen in der Halle sämtliche Eltern und Schüler beisammen und feiern das Ende von dreizehn Jahren Bildung. Und danach, heute Nacht, wenn alle auseinandergehen, steigen wir drei in die Tigerente und fahren Richtung Süden. Einfach so. Ein paar Wochen lang. Im Stauraum unter den Sitzbänken haben wir Dosen gehortet. Zehn Paletten Bier. Acht Paletten Ravioli. Vier Paletten Tomatensuppe. Und jede Menge Klopapier für Jens.

      »Ich muss pinkeln«, sagt er, sieht sich kurz um und läuft zum Grünstreifen am Rande des Geländes. Jens hat noch nie eine Toilette benutzt. Er muss sich stets unter freiem Himmel erleichtern. Das ist sein Gesetz. Vielleicht liegt es an seinem chronischen ADHS. Er kann keine Musik hören, deren Schlagzeug langsamer ist als ein Flakgeschütz. Wenn’s nicht Todesgewürge ist, ist es Skatepunk. Früher hat er statt Luftgitarre gerne Luftskateboard gespielt. Mit einem imaginierten Brett unter den Füßen ist er die Wände und Treppengeländer hochgesprungen. Er ist ein wenig älter als wir und erst in der zwölften Klasse auf unsere Schule gewechselt. Hartmut mag ihn, obwohl der kleine Hektiker das Gegenteil von mir ist. Oder vielleicht deswegen.

      »Ist Death Metal nicht auch viel zu männlich?«, frage ich ihn, während Jens den Rhododendron wässert.

      Hartmut antwortet mit einer Gegenfrage: »Lassen Pestilence in ihren Videos spärlich bekleidete Frauen mit String Tanga am Pool den Popo in die Kamera halten?«

      Ich antworte nicht, nehme einen Schluck Bier und ziehe die Augenbrauen hoch.

      »Oder lässt Nico jemals Obituary laufen, wenn er wieder eine neue Perle in seinen Wagen locken möchte?«

      Hartmut spricht das Wort »Perle« mit einer Mischung aus Spott und Bedauern aus. Nicht, weil er kein Respekt vor Mädchen hätte, sondern weil er es nicht mag, wie unser griechischer Frauenheld Nico sie betrachtet. Wie frische Hähnchen an der Grillstange. Schnell vernascht, schnell vergessen. Ich gebe zu, den Soundtrack für diese Methoden liefern dem Macho keine blass geschminkten Okkultisten, sondern afroamerikanische R’n’B-Sänger mit Diamant-Ohrringen. Die sind mir ebenfalls unsympathisch. Ich bin froh, zu den Männern zu gehören, die noch wissen, was Anstand ist.

      »Hey!«, ruft Jens und lehnt sich nach hinten aus der Rabatte, »noch ist was in der Blase! Will keiner die Chance nutzen und den Strahl kreuzen?«

      Eine Stunde später sitzen wir an den runden Tischen in der Halle und lauschen gemeinsam mit unseren Eltern der Rede von Direktor Knüfer. In meinem Fall bedeutet das: Meine Mutter sitzt schweigsam wie ein Spierstrauch neben Hartmuts plappernder Erzeugerin und seinem zurückhaltenden Papa. Der ist ähnlich sparsam mit Worten wie meine Mutter, aber aus anderen Gründen. Er war mal Studienrat und spricht nur, wenn es druckreif ist oder zitierfähig. Meine Mutter betreibt eine Baumschule außerhalb der Stadt und betreibt Konversation mit Menschen genauso wie mit Pflanzen: telepathisch. Ihr Weg zur Veranstaltungshalle war kurz. Das Hochhaus am Bahnhof, in dem wir leben, kann man vom Vorplatz der Halle aus sehen. Es ragt mit seinem Zwilling daneben über das ganze Viertel hinweg wie die unheimlichen dreibeinigen Herrscher. Meine Tante Judith und mein kleiner Cousin Dennis sind ebenfalls gekommen. Sie sind vor ein paar Jahren in den zwölften Stock über uns gezogen, als auch Judith von ihrem Mann im Stich gelassen wurde, so wie meine Mutter von meinem Vater, als ich klein war. Wahrscheinlich hat Hartmut Recht. Gegen den menschlichen Mann an sich, wie er mehrheitlich ist, muss etwas unternommen werden.

      »Und du?«, fragt mich Hartmuts Mutter. »Schon aufgeregt?«

      Ich nicke, aber aus anderen Gründen. Sie meint den Campingbus-Urlaub, in den wir heute Nacht starten. Ich meine den Deal, den Hartmut mit Nico gemacht hat. Oder besser gesagt, mit dem Komitee für die Abiturfeierlichkeiten, das von Nico geleitet wurde. Der Deal geht so: Nico und seine Leute durften die Party auf dem Schulhof und den Abiturscherz organisieren. Sie meinten, wenn Hartmut das mache, käme bestimmt eine Aktion dabei heraus, die kein Mensch ohne Kunststudium verstünde. Damit lagen sie sicher richtig. Also machten sie »albernen Kinderkram«, wie Hartmut es nannte, besorgten tonnenweise Heu vom Bauern und verbarrikadierten damit das Lehrerzimmer. Zum Abi-Motto erkoren

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