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leichter als anderen, auf Menschen zuzugehen. Im Gespräch merken wir dann gleich, dass er der geborene Experimentator ist. So hat er vor einigen Jahren ein Frühstück beim Chef eingeführt. Mitarbeitende aus unterschiedlichen Bereichen wurden auf eine Tasse Kaffee eingeladen, um offen mit ihm über Probleme und Anliegen zu reden. Leider folgte zunächst niemand seiner Einladung. Konsequenz? Er geht jetzt zu den Mitarbeitenden und nennt diese Treffen »SOB vor Ort«. Raus aus dem Verwaltungsgebäude, rein in die Bereiche! Und das wird an den unterschiedlichen Standorten von den jeweiligen Abteilungen sehr gut angenommen.

      Kraller arbeitet – seit er Sprecher der Geschäftsleitung wurde – immer wieder in einzelnen Bereichen mit. Er erklärt uns: »Da ist immer eine Pause drin, und in der höre ich natürlich am meisten. Und auch hier musste ich einiges lernen. Zu Beginn habe ich einmal spontan im Kartenverkauf mitgearbeitet. Ich setzte mich einen Tag hinter die Kollegin am Schalter. Am nächsten Tag rief sie mich an und sagte, dass es der absolute Horror für sie war. Sie kam sich beaufsichtigt und kontrolliert vor. Daraus habe ich mitgenommen, dass es wichtig ist, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu sagen, warum man etwas macht. Und es ist ebenso wichtig, dass der Chef wieder geht.« Was auch hier als Experiment begann, wurde zur Routine. So zum Beispiel während des Münchner Oktoberfests. Die Züge sind hier besonders voll, und gerade am Abend macht der Alkoholpegel der Reisenden die Arbeit als Zugbegleiter nicht gerade einfacher. Und genau in dieser Zeit, am mittleren sogenannten »Italiener-Wochenende«, ist Kraller am Samstagabend im Zug an der Seite der Zugbegleiter. Er weiß natürlich nach so einer Schicht aus eigener Erfahrung, wie hart die Aufgaben seiner Kolleginnen und Kollegen sind.

      Besonders beeindruckend war für uns, dass er mit seinem Führungsteam – noch bevor eine automatische Wagenreinigungshalle für über zwei Millionen Euro gebaut wurde – einmal jährlich Züge von Hand gereinigt hat. »Die Reiniger genießen leider kein hohes Ansehen. Sie machen aber einen extrem wichtigen Job. Wenn ein Zug nicht sauber ist, dann wirkt sich das schnell negativ auf die Zufriedenheit unserer Kunden aus. Sauberkeit ist neben Pünktlichkeit, Information und Freundlichkeit ganz entscheidend. Ich wollte zeigen, dass auch wir Führungskräfte uns nicht zu fein sind, eine Toilette zu reinigen. Wir merkten, was das für ein Knochenjob ist. Aber was noch viel wichtiger war: Durch dieses Experiment haben wir am eigenen Leib erfahren, unter welchen fast menschenunwürdigen Bedingungen sich die Reiniger umziehen mussten. Die hatten nur einen Gitterverschlag in der Ecke einer zugigen Werkhalle. Ich musste mich richtig schämen. Das haben wir sofort abgestellt und geeignete Umkleiden gebaut.« Wie Kraller uns weiter erzählt, spöttelten manche Kollegen, dass es wohl die teuerste Zugreinigung aller Zeiten gewesen sei. Er entgegnete nur, dass er sich das weiterhin leisten wolle und auch könne, da das Betriebsergebnis sowie die Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit überdurchschnittlich gut seien. »Denn nur wenn man etwas selbst mitgemacht und ausprobiert hat, kann man authentisch mitreden.«

      Der SOB-Chef hält aber nicht nur den Kontakt zu seinen Mitarbeitenden. Gemeinsam mit dem technischen Geschäftsleiter hat er mit der Initiative »SOB im Dialog« einen Versuch gestartet, der mit großem Erfolg alle Führungskräfte in Kontakt mit den Kunden brachte. So wird von jeder Führungskraft erwartet, dass sie einmal pro Jahr im Zug mitfährt und mit den Kunden spricht. Das ist eine Anforderung, die jede Führungskraft einhalten muss. Kraller selbst schließt sich hier nicht aus: »Ich gebe mich dann immer als Chef der SOB zu erkennen und frage den Kunden: ›Gibt es etwas, was Sie mir schon immer mal sagen wollten?‹ Und Sie glauben gar nicht, was man dann so alles erfährt und was der Fahrgast alles weiß – das sind Experten. Die meisten unserer Kunden sind Berufspendler. Die verbringen in zehn Arbeitsjahren fast ein Arbeitsjahr in unseren Zügen. Ein großes Problem, mit dem ich immer konfrontiert werde, ist die Klimatisierung der Wagen. Dem einen ist es zu kalt, dem anderen zu warm. Neulich hatte ich dann ein Gespräch mit einem Fahrgast, einem Klimatechniker. Als es in die Fachdiskussion mit ihm ging, musste ich leider sagen: ›Ich kann mit Ihnen darüber jetzt nicht weiter sprechen, ich kenne mich schlicht und einfach nicht so gut aus wie Sie.‹ Dann habe ich seine E-Mail-Adresse mitgenommen, und jetzt sind unsere Experten mit ihm im Austausch. Ich bin gespannt, ob wir Anregungen erhalten.«

      Am Ende des Vormittags, den wir mit dem Geschäftsleiter der Südostbayernbahn verbracht haben, verstehen wir, dass er es ernst meint mit dem Plakat, das in seinem Büro über dem Besprechungstisch hängt: »Der Kunde ist unser Gast.« Kraller nahm und nimmt viele Anregungen aus seinen persönlichen Kundenkontakten mit, zum Beispiel die Empfehlung, auch im Regionalverkehr probeweise flexible Ruhezonen einzuführen. Oder es begleiten ihn Fachleute, die den Kunden erklären, welche technischen Probleme die Klimatisierung der Abteile mit sich bringt. Er erfährt aber auch, dass Pendler ihren Urlaub nach den Bauvorhaben der Bahn richten, weil sie keine Lust haben, bei unterbrochenem Schienenverkehr auf den Bus umzusteigen.

      Ohne die Experimentierfreude von Christoph Kraller wäre die SOB mit Sicherheit nicht vom bundesweit tätigen Fahrgastverband PRO BAHN mit dem Fahrgastpreis 2011 für hohe Qualität und Fahrgastorientierung sowie den kontinuierlichen Ausbau und die Optimierung der Eisenbahninfrastruktur ausgezeichnet worden.

      Diese ersten zaghaften Experimente führten dazu, dass Kraller mutiger wurde. Seit fast acht Jahren beobachten wir die SOB. Auch an dieser Organisation gehen die Veränderungen durch Digitalisierung nicht spurlos vorbei, und man hat mit neuen Herausforderungen zu kämpfen. Unter anderem hat sich der Deutsche-Bahn-Konzern dazu entschieden, eine Workforce-Management-Software in der Instandhaltungsplanung einzuführen, die die Arbeit der Mechaniker und Techniker in der Leit- und Sicherungstechnik (LST) steuern soll. Als 100-prozentige Tochter der Deutschen Bahn muss die SOB diese Neuerung natürlich umsetzen. Die Betroffenen haben das System mit allen Daten gefüttert, von den Wartungsfristen bis hin zu den Aufgaben, die zu erledigen sind. Somit ist der gesamte Arbeitsvorrat der Instandhaltung für ein Jahr in diesem System erfasst. »An den meisten Experimenten, die wir sonst so starteten, waren Menschen beteiligt, die in Büros vor Computern sitzen. Also im Schalterdienst, im Personal und im Marketing. In der LST haben wir mit den Mitarbeitern einen Versuch gestartet, die bei Wind und Wetter draußen sind und die Strecke warten. Mitarbeitende aus dem sogenannten ›Blue Collar‹-Bereich. Das macht riesigen Spaß, und wir haben wahnsinnig viel gelernt. Aber das war bedeutend herausfordernder«, erzählt uns Kraller bei einem Telefonat. »Es dauert sieben Jahre, bis ein Signal- oder Weichenmechaniker alle Ausbildungen und Prüfungen hat. Dann ist er erst voll einsatzfähig. Also volle sieben Jahre! Und nun sagt man denen, eine Software gibt dir vor, was wann zu tun ist. Das führte zu erheblicher Unzufriedenheit bei diesen Spezialisten, und wir hatten einfach die Befürchtung, dass einige das Unternehmen verlassen könnten. Also haben wir gesagt, das kann nicht sein. Somit starteten wir ein Experiment, das auf den ersten Blick der Idee des Konzerns völlig widersprach: eigenverantwortliches Arbeiten in der LST.

      In einem Pilotteam wurde in überschaubaren Schritten und unter Wahrung der Wartungszeiten den Mitarbeitenden überlassen, wann sie welche Arbeiten erledigen. Die Software nutzen wir weiterhin zur Unterstützung. Gerade um den Überblick zu haben, was alles zu tun ist, und bei der Dokumentation hilft sie den Experten sehr«, so Kraller. Er hat auf diese Weise die digitale und die analoge Welt mit großem Erfolg verknüpft.

      Trotz vieler Aufs und Abs in dem seit einigen Jahren laufenden Experiment, in dem es zu Kommunikationsproblemen und Irritationen zwischen den selbst organisierten und den klassisch arbeitenden Teams kam, kann doch ein erheblicher Erfolg verzeichnet werden. Es wurde eine Mehrleistung von 15 Prozent im Vergleich zum Referenzteam erbracht – bei über 10 Prozent reduzierten Kilometern, die das Wartungsteam gefahren ist. Das Experiment wurde mittlerweile auf andere Teams übertragen und hat zu mehr Zufriedenheit bei den Mitarbeitenden geführt.

      Christoph Krallers Beispiel zeigt, wie man durch alltägliche Experimente die Organisationen lebenswerter und erfolgreicher machen kann. Und noch schließen sich – zumindest bei der SOB – selbst organisierende, agile Ansätze auf der einen und digitale Systeme auf der anderen Seite nicht aus.

      Wir lernten beispielsweise mit Best Buy einen Elektronikkonzern kennen, der von 2003 bis 2013 auf so gut wie alle Regelungen verzichtete und nur noch das erzielte Ergebnis

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