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Musterbrecher. Dominik Hammer
Читать онлайн.Название Musterbrecher
Год выпуска 0
isbn 9783867742979
Автор произведения Dominik Hammer
Жанр Зарубежная прикладная и научно-популярная литература
Издательство Bookwire
Damit wirklich neue, andersartige Lösungen entstehen können, wird im Kollektiv auch zwingend individuelle Intelligenz benötigt.
In gleicher Weise äußert sich der schon erwähnte Praktiker Jaime Lerner. Der mehrfach wiedergewählte Bürgermeister von Curitiba in Brasilien sagte uns im Interview: »Menschen im Kollektiv zu befragen, hat durchaus einen Sinn. Aber es bedarf einer Idee oder einer Vision, an der man dann gemeinsam arbeiten, über die man nachdenken kann. Einfach ein Kollektiv zusammenzurufen und zu sagen: ›Jetzt findet mal Ideen!‹, das gibt nichts Neues, meist entsteht sogar Chaos.«
Doch wieso wird in Kollektiven die Fantasie gehemmt? Hören wir nicht ständig von der Kreativität der Massen und der schwindenden Wertschätzung des im Stillen sinnierenden Genies? Wie kommt es, dass durch elektronische Vernetzung, wie es im Arabischen Frühling oder bei den Protesten in Hongkong in beeindruckender Weise der Fall war, Revolutionen in Gang gesetzt und bestehende Systeme gestürzt beziehungsweise zumindest erschüttert werden – auf die Mobilisierung jedoch keine Neugestaltung erfolgt? Und was bedeutet es für eine digital vernetzte Welt, wenn wir in diesem Kollektiv zwar gemeinsam wortmächtig »meckern und motzen«, aber andererseits keine wirkliche gemeinsame Kreativität entwickeln können?
Der beobachtete Effekt könnte damit zu tun haben, dass soziale Einflüsse die Intelligenz eines Kollektivs negativ beeinflussen. Genau diese Störgrößen hat ein Forscherteam an der ETH Zürich experimentell unter die Lupe genommen.28 In einem Versuch wurden Studenten gebeten, vier Fragen zu beantworten. Es ging um Fakten, die in gewisser Weise bekannt waren, aber nur selten exakt benannt werden konnten. So wurde etwa nach der Länge der Grenzlinie zwischen der Schweiz und Italien gefragt. Es gab insgesamt fünf Durchläufe, in denen die Fragen jeweils unverändert gestellt wurden. In einer ersten Gruppe erhielten die Studenten fortwährend die Mittelwerte der Ergebnisse mitgeteilt, in der zweiten zusätzlich die Einzelwerte ihrer Kollegen. Interessanterweise lag die erste Gruppe deutlich näher an den richtigen Ergebnissen als die zweite. Daraus zogen die Forscher den Schluss, dass die zweite Gruppe gerade wegen der Kenntnis der Einzelwerte unterlag. »Es zeigte sich, dass die Antworten von 145 Befragten im Durchschnitt die besten waren, wenn keiner die Antworten der anderen kannte. Erfuhren die Probanden von den Schätzungen der anderen Studienteilnehmer, verschwanden die Extremwerte nach und nach. Die Schätzwerte kamen zwar einander näher, nicht jedoch dem tatsächlichen Wert.« 29
Die fast schon paradoxe Einsicht lautet: Man muss den sozialen Austausch in einem Kollektiv begrenzen, damit der Schwarm im positiven Sinne wirksam werden kann.
Andernfalls wird die »Konsensmaschinerie« in Gang gesetzt. Wertvolle nonkonforme Einzeleinschätzungen unterliegen dem sozialen Druck. Die Kraft sozialer Einflüsse ebnet dabei nicht nur deutlich abweichende Meinungen ein, sondern führt sogar dazu, dass man nicht mehr zu »gewussten« Eigenschaften steht, wie das folgende Experiment zeigt:
»Kinder bekamen Bilderbücher und sollten sagen, was sie auf den Bildern sehen. Die Kinder dachten, dass sie alle das gleiche Buch in der Hand halten, sie konnten aber in die Bücher der anderen nicht hineinschauen. Eines der Kinder, nur eines, hatte ein anderes Buch bekommen. Auf einer Seite des Buches war ein Bild seiner Mama oder seines Papas zu sehen. Bei den anderen Kindern zeigte diese Seite ein Tier, vielleicht einen Goldhamster. In 18 von 24 Versuchen passten sich die Kinder, die es besser hätten wissen müssen, der Mehrheit an. Sie sahen ein Bild ihrer Mutter und sagten wie alle anderen: ›Ich sehe einen Goldhamster‹.« 30 Wie die Autoren der Studie feststellen, gelte das Ergebnis der hier mit Kindern durchgeführten Untersuchung im Wesentlichen auch für Erwachsene.31
Wenn man mit einem gewissen Abstand zur anfänglichen Euphorie von vor etwa 15 Jahren die Publikationen zur Schwarmintelligenz und deren Übertragbarkeit auf Organisationen betrachtet, zeigt sich die Begrenztheit dieses Konzepts heute deutlich. Die Pheromonstraße der Ameisen oder den Schwänzeltanz der Bienen gibt es deshalb, weil die Insekten dadurch Futter oder die optimale Lage für einen neuen Stock finden. Sie verfügen alle über denselben instinktgesteuerten Algorithmus, der ihr Überleben sichert – das einzelne Insekt jedoch ist dumm. Man könnte auch sagen, es ist wesentlich von angeborenen Mustern gesteuert im Gegensatz zum Menschen, dessen Hirnverschaltungen erst durch die Art ihrer Nutzung »geknüpft, gefestigt und gebahnt werden«32. Das Gehirn von Insekten dagegen ist genetisch programmiert und weitestgehend determiniert. Allein deshalb ist es unzulässig, das auf gemeinschaftliches Überleben programmierte Verhalten von Schwärmen auf menschliches Individualverhalten zu übertragen, das permanent situativ angepasst wird.
Gehen wir also von der naheliegenden Annahme aus, dass menschliche Individuen klüger oder zumindest anders sind als Ameisen oder Bienen. Und nehmen wir ferner an, dass ein beträchtlicher Teil dieser klugen Menschen ganz vielfältige und unterschiedliche Vorstellungen und Ideen hat. Berücksichtigen wir außerdem, dass nach seriösen Schätzungen etwa 30 Prozent der Bevölkerung nicht zum Verkäufertypus zählen, den Susan Cain kritisch als extrovertiertes Ideal der westlichen Welt beschrieben hat, dann müssten wir also Wege finden, wie auch die Intelligenz der Stillen zum Tragen gebracht werden kann. Dabei muss jedoch bedacht werden: Man erachtet Einstufungen in Typen – wie etwa extrovertiert vs. introvertiert, agil vs. flexibel oder dynamisch vs. veränderungsresistent – oftmals als hilfreich, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass es realiter kein Schwarz-Weiß gibt. Menschen sind – da Individuen – unterschiedlich und können dennoch gleichartige Verhaltensmuster zeigen. So sind es beispielsweise die eher ruhigen Menschen, die sich weder bei Teamarbeit noch in Gruppendiskussionen wohlfühlen und eine offene Arbeitsumgebung in Großraumbüros als Belastung empfinden. Sie wollen Sachverhalte für sich alleine durchdringen und nicht genötigt werden, ihre Ideen gemeinsam mit anderen am Flipchart zu entwickeln und der Geschäftsleitung zu präsentieren.
Ebensowenig wie jeder »Stille« ein großartiger Denker ist, muss jeder »Laute« Bedeutsames zu bieten haben.
Da wir wissen, dass es stille Menschen gibt und – wie oben erläutert – ein großes Kollektiv für die Entwicklung mutiger Ideen ohnehin kaum geeignet ist, sind Methoden wie Brainstorming oder andere gruppenbasierte Ansätze durchaus kritisch zu betrachten. Zumindest ist das Dogma: »Alles muss in der Gemeinschaft entwickelt werden« in Zweifel zu ziehen. Interessanterweise ist das Brainstorming, eine von einem Werbefachmann im Jahr 1939 entwickelte Methode zur Ideenentwicklung, bereits in den späten 1950er-Jahren wissenschaftlich untersucht und bezüglich des Neuigkeitsgehalts der auf diese Weise hervorgebrachten Ideen auch negativ bewertet worden. Wolfgang Stroebe, Professor für Sozialpsychologie an den Universitäten Utrecht und Groningen, weist darauf hin, dass das Teilen von Ideen mit anderen regelrecht zu einer »kognitiven Verengung« führen könne, ganz einfach weil man sich auf diejenigen Kategorien konzentriere, die man mit den anderen Gruppenmitgliedern gemeinsam habe.33 Doch dürfen wir hier nicht den Fehler machen, Menschen und deren Verhalten im Team generell mit dem in der Großgruppe gleichzusetzen.
Beginnen wir mit der von Fritz B. Simon als das »Schweizer Offiziersmesser der Managementtheorie« beschriebenen Teamarbeit,34 genauer gesagt mit der falsch verstandenen Teamarbeit. Es wird gemeinhin erwartet, dass die Beschäftigten im Team gute Ergebnisse erzielen, da viele komplizierte, ja komplexe Probleme in einer Gruppe von acht bis zwölf Mitgliedern – mit der darin üblichen Face-to-face-Kommunikation – schneller einer besseren Lösung zugeführt werden können als in der Arbeit Einzelner, deren Lösungen am Ende zusammengeführt werden müssten. Häufig werden jedoch ganze Belegschaften von Konzernlenkern mit dem Ausruf »Wir sind ein Team!« auf Zusammenhalt eingeschworen, nicht selten unter dem Verweis auf den Mannschaftsgedanken aus dem Sport. Hiermit schießt man eindeutig übers Ziel hinaus.
Der Teamgedanke wird zum Dogma und auf das Kollektiv übertragen.
Wenn man weiß, dass durch erzwungene Teamarbeit die Beteiligung introvertierter Menschen erschwert wird, muss einem auch bewusst sein, dass die Genies unter den Stillen ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten und Ideen nicht im möglichen Umfang zur Verfügung stellen werden. Vielleicht wäre ohne Steve Wozniak, den weniger bekannten Apple-Gründer, die Apple Story ganz anders verlaufen. Von ihm sagt man, er habe – ganz im Gegensatz zu seinem Partner