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2019, S. 142 ff.

      35 Vgl. Cain, S.: Still – Die Bedeutung von Introvertierten in einer lauten Welt, München 2011, S. 117 f.

      36 Vgl. Johnson, S.: Wo gute Ideen herkommen – eine kurze Geschichte der Innovation, 2. Aufl., Bad Vilbel 2013.

      37 Vgl. Simon, F. B.: Gemeinsam sind wir blöd? Die Intelligenz von Unternehmen, Managern und Märkten, 5. Aufl., Heidelberg 2019, S. 282 f.

      38 Ebd.

      Spielfeld 3

      UNGEHINDERT NEU

      Warum Organisationen nicht innovativ sind

      Während eines Elternstammtisches – wir überengagierten Eltern treffen uns alle zwei Monate, mal im Sportlerheim, mal im Chinarestaurant – echauffieren wir uns wahlweise über die Unfähigkeit der Schule oder das gesamte bayerische Schulsystem. Nebenbei werden wir vom Elternsprecher auf den neuesten Stand gebracht. Dieses Mal benötigt der Förderverein Geld. Ein engagierter Jugendsozialarbeiter will den Schulhof neu gestalten – und das kostet. Klasse Sache, denken wir uns, doch dann erfahren wir den Hintergrund. In der (viel zu kurzen) großen Pause werden Kinder von anderen manchmal angerempelt, dabei fällt das Pausenbrot schon mal herunter. Jetzt wurde festgestellt, dass einige Kinder in der Pause spielen, die anderen wild herumrennen und die übrigen einfach in Ruhe essen wollen.

      Wir fragen in die Runde, ob das nicht immer schon so war. Ja natürlich, bestätigen alle. Und die Kinder haben sich organisiert. Es gab Konflikte und Diskussionen, die Größeren haben auf die Kleineren Druck ausgeübt, und ab und zu musste auch die Pausenaufsicht einschreiten. Dennoch entstand eine Ordnung nach irgendwelchen – meist unbewussten – Entscheidungen und Abläufen. Aber genau darauf will der Jugendsozialarbeiter nicht mehr setzen. Er will ein formales System aufbauen und den Schulhof in drei Zonen einteilen: einen Spiel-, einen Bewegungs- und einen Ruhebereich. Vermutlich wäre dann alles organisiert. Und die Pausenaufsicht hätte ein klares und eindeutiges Instrumentarium an der Hand, um im Fall der »nicht zonengerechten Nutzung« angemessen zu verfahren. Das Beste daran: Diese Organisation hat man sich ohne den aufwendigen Prozess der Schülerbeteiligung ausgedacht – so ganz nach rationaler Erwachsenenlogik.

      Zwei Organisationsphänomene werden sichtbar. Das eine ist die sich selbst organisierende Interaktion zwischen Menschen, die auf dem »unorganisierten« Schulhof entsteht, spontan und irgendwie. Diese Art der Organisation – in der Literatur als Gestaltungsprozess beschrieben – gab es schon immer. Menschen tun sich irgendwie zusammen, um etwas zu erreichen. Das zweite Phänomen kennen wir erst seit relativ kurzer Zeit in der heute dominanten Form. Organisation wird als Gestaltungsergebnis begriffen, das zu einem Unternehmen beziehungsweise einer Institution wird.39 Der Begriff »Organisation« leitet sich vom griechischen »organon« her, was so viel bedeutet wie »Werkzeug«, »Instrument« oder »Organ«.40 Primär bezog man es auf biologische Prozesse, die dann auch auf den Staat als Körper übertragen wurden. Erst mit der Französischen Revolution im Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert, einhergehend mit der Industrialisierung, wurde Organisation im heutigen Sinne verstanden. Und genau dieser strukturgebende Rahmen beschäftigt uns im Folgenden.

      »Die Allgegenwart von Organisationen ist nicht der … Hauptgrund für ihre Bedeutung. … Vom Standpunkt des Sozialpsychologen aus interessieren wir uns für die Einflüsse, die aus seiner Umwelt auf das Individuum einwirken, und wie es auf diese Einflüsse reagiert. Für die meisten Menschen repräsentieren formale Organisationen einen Großteil ihrer Umwelt.« 41 Was die beiden »Urgesteine« der Organisationsforschung, James G. March und der Nobelpreisträger Herbert A. Simon, hier beschreiben, könnte mit anderen Worten so lauten: Der moderne Mensch – zumindest der industriell geprägte – wird bewusst oder unbewusst ständig mit Organisationen konfrontiert. Wir arbeiten, lernen und bilden uns in Organisationen. Ohne Organisationen, die unsere tägliche Versorgung sicherstellen, würden wir vermutlich nur sehr kurze Zeit überleben. Und selbst wenn wir in die Natur gehen oder unsere Freizeit gestalten – in Fitnessstudios, Vereinen, Vergnügungsparks oder Kulturzentren – ist alles organisiert! Nach und nach mischen sich Organisationen in Spiel, Freundschaft und sogar in Liebe ein. In virtuellen Formen der Kommunikation bestimmen Organisationen wie Ubisoft, Facebook oder LoveScout24, wie Menschen nach welchen Regeln zusammenfinden.

      Noch nie war das Leben so »organisiert« wie heute.

      Organisationen sind die prägendsten Systeme der Neuzeit, zumindest seit dem Beginn der Industrialisierung.42 Sie müssen einer Reihe von Aufgaben gerecht werden, bieten beispielsweise einen Arbeitsplatz, sind ein Stück Lebenswelt, oft aber auch Orte der Angst.43 Sie sollen Handlungen koordinieren, um Stabilität und Routine zu erzeugen.44 Organisationen sind ein nicht homogener, vielfältiger und von unterschiedlicher Viskosität geprägter Fluss von Materialien, Leuten, Geld, Zeit, Lösungen, Problemen und Entscheidungen.45 Menschen treten ihre Ressourcen an die Organisation ab und erwarten von dieser deren Koordination.46 Organisation ist somit mehr als nur Institution und Prozess. Sie ist »die Maschine, die umsetzt«.47 Organisationen vernetzen sich weltweit und zeigen eine Eigendynamik, mit der sie die Funktionssysteme der Gesellschaft durchsetzen.48

      Eines muss uns klar sein: Ohne Organisation wäre heute vieles nicht möglich, was zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist.

      Sie bringt uns zweifelsohne viel Fortschritt und erleichtert das Leben. Ihre Bedeutung erkennen wir oft erst dann, wenn sie nicht funktioniert. Allerdings muss uns in unserer durchorganisierten Welt auch bewusst sein, dass Organisation einiges, vieles, manchmal auch Entscheidendes verhindern kann.

      Wir machen anlässlich der Vorbereitung eines Strategie-Workshops einen Firmenrundgang. In dem Werk werden Strukturen und Komponenten für den zivilen und militärischen Flugzeugbau gefertigt. Stolz zeigt man uns eine Halle, in der mit Verbundwerkstoffen Druckkalotten und Frachttore gefertigt werden. Nur wenige Hersteller sind in der Lage, mit dieser Technik wichtige Bauteile zu produzieren. Dass man hier diese Herstellungsmethode beherrscht, ist keine Selbstverständlichkeit. Durch die Verarbeitung von Verbundwerkstoffen können erhebliche Gewichtseinsparungen erzielt werden. Doch eigentlich hätte diese Kompetenz im Werk nicht vorhanden sein dürfen. Aufgrund der strategischen Ausrichtung von vor einigen Jahren – das Werk gehörte noch zu einem anderen Konzern – gab es die Weisung von ganz oben, sich nicht mit der CFK-Leichtbauweise (Kohlenstofffaserverbundstoffe) zu befassen. Wenn Innovation, dann sollte sie nicht an einem Produktionsstandort entstehen, sondern in den dafür vorgesehenen Abteilungen.

      Einige mutige Ingenieure vor Ort widersetzten sich und taten das Verbotene. Sie und die Werksleitung sahen es als überlebenswichtig für die Firma und den Standort an, in Zukunft mehr als nur Aluminium und Titan im Flugzeugbau zu verarbeiten. Das Heikle daran: Von diesem Versuch durften die Manager des Mutterkonzerns lange Zeit nichts wissen. Es wurde deshalb viel Energie in die Geheimhaltung gesteckt. Keine leichte Aufgabe, da der Platz am Standort sehr begrenzt war. Und so mussten Besuchergruppen geschickt um die »verbotene« Halle herumgeführt, Ausreden gefunden werden. Erst viel später, als man das innovative Produktionsverfahren beherrschte und sich zutraute, an diversen Ausschreibungen teilzunehmen, wurde das neue Können im Konzern publik gemacht.

      Heute ist man sehr stolz darauf, dass unterschiedlichste Flugzeugstrukturen aus CFK im Werk gefertigt werden können. Gerade diese Technologie präsentiert die Konzernleitung gerne bei Politikerbesuchen. Ohne Zweifel ist für das Unternehmen daraus ein echter Wettbewerbsvorteil entstanden.

      Vor etwa 100 Jahren übertrug Joseph Schumpeter, der bekannte österreichische Ökonom, den lateinischen Begriff »innovare« in den wirtschaftlichen Kontext. Er meinte mit Erneuerung anfänglich »schöpferisches Gestalten«, später »kreative Zerstörung«.49 Zum damaligen Zeitpunkt wurde darunter das Hervorbringen neuer Kombinationen von Produktionsfaktoren verstanden.50 Im Fokus standen zunächst die Prozess- und nicht

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