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Musterbrecher. Dominik Hammer
Читать онлайн.Название Musterbrecher
Год выпуска 0
isbn 9783867742979
Автор произведения Dominik Hammer
Жанр Зарубежная прикладная и научно-популярная литература
Издательство Bookwire
Das Highlight unserer Curitiba-Reise ist der Vorabend der Abreise. Wir treffen den damals 73-jährigen Architekten Jaime Lerner. Der ehemalige Bürgermeister und Gouverneur gilt als Visionär. In seinen drei Amtszeiten (1971, 1979 und 1989) haben er und sein Team die Entwicklung von Curitiba maßgeblich beeinflusst. Wir sitzen in einem offenen einstöckigen Gebäude, das irgendwie nicht zwischen die Hochhäuser passt, von denen es »eingeklemmt« wird. Früher war es das Wohnhaus von Lerner. Heute befindet sich darin sein Architekturbüro. Wir sprechen mit einer seiner Mitarbeiterinnen über die Stadtentwicklung. Man merkt sofort, dass sie ihre Stadt liebt. Diesen besonderen Stolz auf Curitiba hatten wir immer wieder gespürt, ob beim Taxifahrer oder beim Verkäufer. Dann betritt Jaime Lerner den Raum. Er ist schwarz gekleidet, atmet schwer, geht langsam. Er wirkt kränklich. Das ändert sich schlagartig, als er zu erzählen beginnt. Immer wieder funkeln seine Augen, und er wirkt fast spitzbübisch. Lerner wurde unzählige Male ausgezeichnet, unter anderem von UNICEF und der OECD. Wir fragen ihn, wie er 1971 seine Veränderung startete: »Zuerst einmal hatte ich ein gutes Team mit tollen Leuten. Wir alle folgten einer Vision. Wir liebten unsere Stadt und wollten sie lebenswerter machen. Dann machten wir uns auf den Weg. Wir probierten Schritt für Schritt immer neue Dinge aus. Dabei war das Anfangen das Wichtigste. Entscheidend war, dass wir Raum für Korrekturen ließen.« So sei zum Beispiel das Bus Rapid Transit System entstanden, erzählt Lerner. »Damals sagte jeder Städte- und Verkehrsplaner, dass eine Stadt, die auf eine Million Einwohner wächst, eine U-Bahn brauche. Eine solche konnten wir uns aber nicht leisten. Also planten und bauten wir eine ›überirdische U-Bahn‹ mit den U-Bahn-spezifischen Charakteristika: Die Verbindung sollte schnell sein, es sollte nur wenige Haltestellen geben, und die Taktung musste eng sein – in Stoßzeiten jede Minute ein Bus. Es begann mit wenigen Linien, auf denen 25 000 Menschen am Tag befördert wurden. Heute transportieren wir 2,4 Millionen Bürger im Großraum Curitiba und in angrenzenden Städten. London, um ein Vielfaches größer, mit der ältesten U-Bahn der Welt, schafft gerade drei Millionen Passagiere am Tag. Wichtig ist, dass das gesamte öffentliche Verkehrssystem von Curitiba ohne Subventionen funktioniert. Dafür hatten wir nie Geld, das brauchten wir für Bildung und medizinische Versorgung.« Wir erfahren außerdem, dass der Bau eines Kilometers dieses Bussystems circa eine Million US-Dollar kostet, der Bau der gleichen Stecke für eine U-Bahn dagegen hundert Millionen.
Was mit einem Experiment vor etwa 40 Jahren begann, ist heute ein Exportschlager, geliefert in fast hundert Städte weltweit. Darunter Metropolen wie Seoul, Los Angeles oder Montreal.
Der Vater eines weiteren Experiments in Curitiba ist Nicolau Klüppel. Er hatte im Team um Lerner eine Idee, wie man die Favelas – Slums, die durch das schnelle Wachstum der Stadt entstanden sind – von ihrem Müll befreien konnte. Da diese Gebiete häufig schwer zugänglich sind, hatte er die geniale Idee, dass die Menschen ihren Müll doch einfach zu Sammelstellen bringen könnten. Als Anreiz bekamen sie Busfahrscheine, später dann Lebensmittel. Innerhalb von Monaten wurden die Gebiete sauber. Klüppel erkannte, dass es besser ist, den Müll gleich zu trennen, da er so effizienter recycelt werden kann. Daraus entstand eine Kampagne, die gemeinsam mit Schülern begann und die Stadt zum Ort mit der höchsten Recyclingquote der Welt (um die 70 Prozent) machte. Für diesen Erfolg hatte man im Vorfeld viel Häme einstecken müssen, da Mülltrennung in Brasilien für unmöglich gehalten wurde.
Wir fragen Jaime Lerner zum Abschluss nach den größten Herausforderungen Curitibas. Er denkt kurz nach. »Erstens galt es immer wieder, die eigene Unsicherheit zu überwinden, eine gute Idee einfach auszuprobieren, nicht nach dem Haken zu suchen. Zweitens mussten wir schneller sein als die eigene Bürokratie. Und drittens war es extrem wichtig, wenn der Entscheid gefallen war, auch wirklich schnell zu beginnen.« Was er damit meint, macht er an folgendem Beispiel deutlich: »Anfang der 1970er-Jahre hatten wir uns überlegt, dass es nicht richtig sein kann, die Stadt nur für den Autoverkehr zu optimieren. Wir wollten die erste Fußgängerzone in Südamerika bauen, die ein paar Straßenblöcke umfassen sollte. Wir rechneten damit, dass es gerichtliche Einsprüche geben würde, die den Bau um Monate oder gar Jahre verzögert hätten. Deshalb beschlossen wir, die Fußgängerzone in 48 Stunden zu bauen. Das war für den zuständigen städtischen Baubeauftragten unvorstellbar. Er sagte, dass der Bau mindestens sechs Monate dauern würde. Ich bestand auf 48 Stunden. Wir diskutierten und diskutierten. Irgendwann sagte er: ›Gut, wenn ich alles Material im Vorfeld bereitstellen kann, dann schaffen wir es in ein paar Wochen.‹ Ich blieb hart. Am Ende begannen wir freitagabends und eröffneten die Fußgängerzone am Montagabend – nach 72 Stunden Bauzeit. Danach kam der Sprecher der Geschäftsleute auf mich zu und übergab mir eine vorbereitete Petition, die den Bau stoppen sollte. Ich könne sie als Souvenir haben. Jetzt wollten er und die anderen Ladeninhaber, dass die gesamte Straße in eine Fußgängerzone umgewandelt werde.« Lerner verabschiedet uns mit den Worten, dass es einerseits wichtig sei, Menschen, wann immer möglich, einzubeziehen, andererseits aber nicht immer nach dem »Was wollt Ihr?« zu fragen. Man solle einfach Dinge ausprobieren, einfach den Mut haben, zu starten. Nicht nach Perfektion streben. Die gebe es nicht, so der Altbürgermeister. »Andere werden es dann irgendwann besser machen.«
Nach diesem Gespräch war uns klar, warum Jaime Lerner 2010 vom Time Magazine als einer der 25 einflussreichsten Denker der Welt ausgezeichnet wurde.
Mit Sicherheit ist Curitiba kein Paradies, das betont auch Jaime Lerner immer wieder. Auch wenn die Zufriedenheit der Bürger mit ihrer Stadt bei über 80 Prozent liegt, gibt es Probleme mit weiter ansteigendem Verkehr und dem Zuzug von immer mehr Menschen aus ländlichen Gebieten. Und natürlich war vieles, was Lerner und sein Team gestartet hatten, auch unbequem und wurde von den Bürgern oft nicht nur positiv bewertet. Das drückt sich auch darin aus, dass seine drei Amtszeiten nicht zusammenhängend waren, sondern dazwischen immer andere Bürgermeister gewählt wurden. Doch zum Glück waren Lerner und sein Team nicht bereit, sich nur als Erfüllungsgehilfen des vorhandenen städtischen Systems oder nur als Berufspolitiker zu begreifen, sondern als eine Gruppe, die das Bestehende immer wieder infrage stellte und ohne Anspruch auf Perfektion Experimente machte, die vor ihnen so noch keiner gewagt hatte.
Warum fehlt diese Experimentierfreude im Management, obwohl wir im Alltag dauernd experimentieren?
Ständig starten wir Versuche mit völlig unklarem Ende. Die Frage etwa, mit wem wir den Rest unseres Lebens verbringen möchten, bleibt ewig ein Versuch mit offenem Ausgang. Wir können nicht wissen, ob die Beziehung hält, auch wenn wir es uns noch so wünschen. Und der Versuch, die Partnerwahl durch Tools zur Risikovermeidung zu professionalisieren, erscheint uns mit Recht absurd. Oder kennen Sie jemanden, der seinen Partner oder seine Partnerin mithilfe einer Nutzwertanalyse ausgewählt hat? 12 Wir müssen uns hier auf ein Langzeitexperiment einlassen. Gleiches gilt für die Erziehung der Kinder, die Wahl einer weiterführenden Schule nach der vierten Klasse oder die Entscheidung für einen Ausbildungs- oder Studienplatz. Es hört nicht auf.
Letztlich ist unser Leben durch nie endende Episoden des Versuchens und Ausprobierens geprägt.
Wenn wir Unsicherheit oder Ungewissheit über den Ausgang einer in komplexem Umfeld zu treffenden Entscheidung als den Kern des Experimentierens ansehen, dann befinden wir uns eigentlich in einem permanenten Versuchsstadium. Auch in der Managementliteratur und in Sonntagsreden wird längst das Ende der stabilen und eindeutigen Welt betont.
Das Wissen, Komplexität im wirtschaftlichen, sozialen und politischen Umfeld 13 niemals eindeutig und absolut sicher handhaben zu können, ist vorhanden. Doch mit den in den Fokus des Managements rückenden neuen Formen der Zusammenarbeit – häufig im Kontext der agilen Bewegung oder im Rahmen von New Work – bekommt dieses Bewusstsein zeitgleich einen wirkmächtigen »Antagonisten«: die künstliche Intelligenz (KI).
Ihr Versprechen ist, mit der Komplexität der Welt – neuerdings auch mit dem Akronym VUCA für die englischen Begriffe volatility, uncertainty, complexity und ambiguity gekennzeichnet – umgehen, sie sogar reduzieren zu können. Gerade im ökonomischen Umfeld trifft dieses Versprechen auf einen äußerst fruchtbaren Boden. Denn Lager- und