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Genestas ein Gefühl unfreiwilligen Abscheus vor einem Geschöpf empfunden, welches weder die Reize des Tieres noch die Vorzüge des Menschen aufwies, das niemals weder Vernunft noch Instinkt besessen, niemals eine Art von Sprache weder verstanden noch gesprochen hatte? Indem man dies arme Wesen am Ende einer Laufbahn, die kein Leben war, ankommen sah, schien es schwierig zu sein, ihm ein Bedauern entgegenzubringen. Die alte Frau indessen betrachtete es mit einer rührenden Unruhe und fuhr mit ihren Händen über den Teil der Beine, die das heiße Wasser nicht benetzt hatte, mit ebensoviel Zuneigung, wie wenn es ihr Ehemann gewesen wäre. Benassis selber nahm, nachdem er dies tote Antlitz und die lichtlosen Augen betrachtet hatte, sanft behutsam des Kretinen Hand und fühlte ihm den Puls.

      »Das Bad wirkt nicht,« sagte er, den Kopf schüttelnd, »legen wir ihn wieder ins Bett!«

      Er hob selber diese Fleischmasse empor und trug sie auf die elende Matratze, von wo er sie zweifelsohne hergeholt hatte, streckte sie dort sorgsam aus, indem er die fast kalten Beine geradebog und Hand und Kopf mit der Sorgfalt bettete, die eine Mutter ihrem Kinde angedeihen lassen mag.

      »Gewiß, er wird sterben,« fügte Benassis hinzu, der am Bettrande aufrecht stehenblieb.

      Die Hände in die Hüften gestützt, sah die alte Frau den Sterbenden an und ließ einige Tränen rinnen. Genestas selbst blieb schweigsam, ohne sich erklären zu können, warum der Tod eines so wenig anziehenden Wesens solch einen Eindruck auf ihn machte. Instinktiv teilte er schon das grenzenlose Mitleid, das diese unglücklichen Geschöpfe in den der Sonne beraubten Tälern, wohin die Natur sie geworfen hat, einflößen. Rührt dieses Gefühl, das bei den Familien, denen die Kretins angehören, in religiösen Aberglauben entartet ist, nicht von der schönsten der christlichen Tugenden, der Barmherzigkeit her, und von dem für die soziale Ordnung so überaus nützlichen Glauben, dem Gedanken an zukünftige Belohnungen, dem einzigen, der uns unsere Unglücksfälle ertragen läßt? Die Hoffnung, die ewige Glückseligkeit zu verdienen, hilft den Eltern dieser armen Wesen und denen, welche um sie herum leben, die Sorgen der Mütterlichkeit und ihres erhabenen Schutzes auszuüben, den man einer untätigen Kreatur, die ihn anfangs nicht begreift und ihn späterhin vergißt, fortgesetzt angedeihen läßt. Eine wunderbare Religion! Sie hat den Beistand einer blinden Wohltat neben ein blindes Unglück gestellt. Da, wo es Kretinen gibt, glaubt die Bevölkerung, daß die Gegenwart eines Wesens dieser Art glückbringend für die Familie sei. Dieser Glaube dient dazu, ein Leben angenehm zu machen, das inmitten der Städte zu den Härten einer falschen Philanthropie und einer Hospitaldisziplin verdammt sein würde. Im oberen Iseretale, wo sie sehr häufig sind, leben die Kretinen mit den Herden, die zu hüten man sie abgerichtet hat, im Freien. Wenigstens sind sie frei und werden respektiert, wie es das Unglück sein muß.

      Seit einem Augenblick läutete die ferne Dorfglocke in regelmäßigen Intervallen, um den Gläubigen den Tod eines von ihnen mitzuteilen. Den Raum durcheilend, gelangte dieser religiöse Gedanke abgeschwächt zu der Hütte, wo er eine sanfte Schwermut verbreitete. Zahlreiche Schritte ließen sich auf dem Wege vernehmen und kündigten das Nahen einer Menge, aber einer schweigenden Menge an. Dann fiel plötzlich detonierender Kirchengesang ein und erweckte jene wirren Gedanken, die sich der ungläubigsten Seelen bemächtigen und sie zwingen, sich den ergreifenden Harmonien der menschlichen Stimme zu überlassen. Die Kirche kam diesem Geschöpf, das sie nicht kannte, zu Hilfe. Der Pfarrer, dem ein von einem Chorknaben gehaltenes Kreuz vorangetragen wurde, erschien im Gefolge des den Weihwasserkessel haltenden Sakristans und von etwa fünfzig Frauen, Greisen und Kindern, die alle gekommen waren, um ihre Gebete mit denen der Kirche zu vereinigen. Der Arzt und der Militär blickten sich schweigend an und zogen sich in einen Winkel zurück, um der Menge Platz zu machen, die in und außerhalb der Hütte niederkniete. Während der trostreichen Zeremonie der letzten Wegzehrung, die für jenes Wesen begangen wurde, das niemals gesündigt hatte, dem aber die Christenwelt Lebewohl sagte, zeigten die meisten dieser groben Gesichter aufrichtige Rührung. Einige Tränen rannen über rauhe, durch die Sonne rissig gewordene und von den Arbeiten in freier Luft gebräunte Backen. Dieses Gefühl freiwilliger Verwandtschaft war ganz schlicht. Niemanden gab es in der Gemeinde, der dies arme Wesen nicht beklagt, der ihm nicht sein tägliches Brot gereicht hätte; war ihm nicht ein Vater in jedem kleinen Jungen, in dem lustigsten kleinen Mädchen nicht eine Mutter begegnet?

      »Er ist gestorben,« sagte der Pfarrer.

      Dies Wort erregte die aufrichtigste Bestürzung. Die Kerzen wurden angezündet. Mehrere Leute wollten die Nacht über bei dem Leichnam wachen. Benassis und der Soldat gingen fort. An der Türe hielten einige Bauern den Arzt an, um ihm zu sagen:

      »Ach, Herr Bürgermeister, wenn Sie ihn nicht gerettet haben, wollte Gott ihn zweifelsohne zu sich rufen!«

      »Ich hab' mein Bestes getan, liebe Kinder,« antwortete der Doktor. – »Sie können sich nicht vorstellen, mein Herr,« sagte er zu Genestas, als sie einige Schritte hinter dem verlassenen Dorfe standen, dessen letzter Bewohner eben gestorben war, »wieviel wirklichen Trost für mich das Wort dieser Bauern birgt. Vor etwa zehn Jahren wäre ich in diesem heute verlassenen, damals aber von dreißig Familien bewohnten Dorfe beinahe gesteinigt worden.«

      Genestas legte eine so sichtliche Frage in den Ausdruck seiner Züge und seiner Haltung, daß der Arzt ihm im Weiterschreiten die durch diese Andeutung angekündigte Geschichte erzählte.

      »Als ich mich hier niederließ, mein Herr, fand ich in diesem Teile des Bezirks ein Dutzend Kretinen vor,« sagte der Arzt sich umwendend, um dem Offizier die zerstörten Häuser zu zeigen. »Die Lage dieses Weilers in einem Talgrunde ohne Luftzug, an einem Wildbach, dessen Gewässer aus geschmolzenen Schneemengen herrühren, unzugänglich für die Sonne, die nur die Gebirgsgipfel bestrahlt, begünstigt die Verbreitung dieser gräßlichen Krankheit. Die Gesetze verbieten die Paarung dieser Unglücklichen nicht, die hier durch einen Aberglauben begünstigt werden, dessen Macht mir unbekannt war und den ich anfangs verdammt, später aber bewundert habe. Der Kretinismus würde sich also von dieser Stelle aus bis ins Tal verbreitet haben. Hieß es nicht dem Lande einen großen Dienst erweisen, wenn man dieser physischen und intellektuellen Seuche Einhalt gebot? Trotz seiner Dringlichkeit konnte diese Wohltat dem, der ihre Verwirklichung auf sich nahm, das Leben kosten. Hier mußte man, wie in den anderen sozialen Sphären, zur Vollbringung des Guten keine Interessen, sondern, was viel gefährlicher ist, in Aberglauben verwandelte religiöse Gedanken, die unzerstörbarste Form menschlicher Vorstellungen verletzen. Vor nichts schreckte ich zurück. Zuerst bewarb ich mich um den Bürgermeisterposten und erhielt ihn; dann, nachdem ich die mündliche Billigung des Präfekten erlangt hatte, ließ ich nächtlicherweile einige dieser unglücklichen Kreaturen für Geld und gute Worte nach Aiguebelle in Savoyen schaffen, wo es ihrer sehr viele gibt und wo sie sehr gut behandelt werden sollten. Sobald dieser Humanitätsakt bekannt geworden war, ward ich der ganzen Bevölkerung zum Abscheu. Der Pfarrer predigte gegen mich. Obwohl ich mir alle Mühe gab, den klügsten Köpfen des Fleckens auseinanderzusetzen, wie wichtig die Austreibung dieser Kretinen sei, obwohl ich die Kranken des Landes umsonst behandelte, schoß man in einem Waldwinkel mit der Büchse auf mich. Ich suchte den Bischof von Grenoble auf und bat ihn um einen Pfarrerwechsel. Monseigneur besaß die große Güte, mir die Wahl eines Priesters einzuräumen, der meinem Vorhaben Hilfe angedeihen lassen möchte, und ich hatte das Glück, einem jener Wesen zu begegnen, die vom Himmel herabgefallen zu sein scheinen. Ich setzte mein Unternehmen fort. Nachdem ich die Gemüter bearbeitet hatte, deportierte ich nächtlicherweile sechs andere Kretinen. Bei diesem zweiten Versuch hatte ich einige mir verpflichtete Leute und die Ratsglieder der Gemeinde zu Verteidigern, deren Habgier ich interessierte, indem ich ihnen bewies, wie kostspielig der Unterhalt dieser armen Wesen sei, und wie vorteilhaft es für den Flecken sein werde, die von jenen ohne Rechtstitel besessenen Grundstücke in Gemeindeländereien zu verwandeln, woran es dem Flecken fehlte. Die Reichen hatte ich für mich; die Armen, die alten Frauen, die Kinder und einige Starrköpfe aber blieben mir feindlich gesinnt. Unglücklicherweise konnte meine letzte Entführung nicht ganz vollzogen werden. Der Kretine, den Sie eben gesehen haben, war nicht nach Hause zurückgekehrt, hatte nicht ausgehoben werden können und fand sich andern Morgens als einziger seiner Art im Dorfe ein, wo noch einige Familien wohnten, deren beinahe schwachsinnige Individuen wenigstens frei von Kretinismus waren. Ich wollte mein Werk zu Ende führen und kam bei Tage in Amtstracht, um den Unglücklichen aus seinem Hause zu holen. Sobald ich meine Wohnung nur verließ, wurde

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