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Inmitten dieses Tumults, in dem ich vielleicht das Opfer wirklicher Raserei, die eine durch Schreie und die Erbitterung allgemein ausgedrückter Gefühle erregte Menge packte, geworden wäre, wurde ich durch den Kretinen gerettet! Das arme Wesen kam aus seiner Hütte hervor, ließ sein Glucksen hören und erschien als der oberste Anführer dieser Fanatiker. Bei seinem Auftauchen ließen die Schreie nach. Ich faßte den Gedanken, einen Vergleich vorzuschlagen, und konnte ihn dank der glücklicherweise eingetretenen Ruhe vorbringen. Die Leute, welche mein Tun guthießen, wagten es unter solchen Umständen zweifelsohne nicht, zu mir zu stehen, ihre Hilfe konnte lediglich passiv sein. Die abergläubischen Leute wachten mit der größten Lebhaftigkeit über der Erhaltung ihres letzten Götzenbildes; unmöglich schien es mir, es ihnen wegzunehmen. Ich versprach also, den Kretinen in Ruhe in seinem Hause zu lassen, unter der Bedingung, daß sich ihm niemand nähern dürfe, daß die Familien dieses Dorfes das Wasser verlassen und sich im Flecken ansiedeln würden, in neuen Häusern, die bauen zu lassen ich auf mich nähme, unter Zuteilung von Ländereien, deren Preis mir später von der Gemeinde zurückgezahlt werden sollte. Nun, mein lieber Herr, sechs Monate hatte ich nötig, um die Widerstände zu besiegen, denen die Ausführung dieses Handels, so vorteilhaft er auch für die Familien jenes Dorfes war, begegnete. Die Liebe der Landleute zu ihren baufälligen Häusern ist eine unerklärliche Tatsache. Wie ungesund seine Hütte auch sein mag, ein Bauer hängt noch mehr an ihr als ein Bankier an seinem eleganten Stadthause. Warum? Ich weiß es nicht. Vielleicht steht die Kraft der Gefühle im Verhältnis zu ihrer Seltenheit. Vielleicht lebt der Mensch, der wenig durch Gedanken lebt, viel durch Dinge, und je weniger er ihrer besitzt, desto mehr liebt er sie zweifelsohne. Vielleicht verhält es sich mit dem Bauern wie mit dem Gefangenen … er verzettelt die Kräfte seiner Seele nicht, er konzentriert sie auf einen einzigen Gedanken und gelangt dann zu einer starken Gefühlsenergie. Verzeihen Sie einem Manne, der selten seine Gedanken austauscht, diese Ueberlegungen. Glauben Sie übrigens nicht, mein Herr, daß ich mich viel mit eitlen Gedanken beschäftigt habe. Hier muß alles Praxis und Tat sein. Ach, je weniger Ideen die armen Leute hier haben, desto schwieriger ist's, sie ihren wirklichen Nutzen einsehen zu lehren. Auch hab' ich auf alle Kleinigkeiten meines Unternehmens verzichtet. Jeder von ihnen sagte mir das nämliche, machte einen jener Einwände voll gesunden Menschenverstands, die keine Antwort zulassen: ›Ach, Herr, Ihre Häuser sind ja noch nicht gebaut!‹ – ›Nun gut,‹ antwortete ich ihnen, ›versprecht mir, sie bewohnen zu wollen, sobald sie fertig sind!‹ Glücklicherweise, mein Herr, erlangte ich die Entscheidung, daß unser Flecken Eigentümer des ganzen Berges ist, an dessen Fuß das jetzt verlassene Dorf liegt. Der Wert der auf den Höhen stehenden Waldungen konnte genügen, um den Preis der Ländereien und der versprochenen und noch zu bauenden Häuser zu bezahlen. Als eine einzige meiner störrischen Haushaltungen dort untergebracht worden war, zögerten die anderen nicht, ihr zu folgen. Der Wohlstand, der sich aus diesem Wechsel ergab, sprang zu sehr ins Auge, um nicht von denen anerkannt zu werden, die am abergläubischsten an ihrem Dorfe ohne Sonne, was ebensoviel heißt wie ohne Seele, festhielten. Der Abschluß dieser Angelegenheit, die Eroberung der Gemeindegüter, deren Besitz uns durch den Staatsrat bestätigt wurde, ließen mich eine große Wichtigkeit im Bezirk erlangen. Wie viele Sorgen brachte das aber, mein Herr!« sagte der Arzt, indem er stehenblieb und eine Hand erhob, die er mit einer Bewegung voller Beredsamkeit wieder sinken ließ. »Ich allein kenne die Entfernung des Fleckens von der Präfektur, von wo nichts ausgeht, und von der Präfektur zum Staatsrat, wo nichts einläuft . . . Endlich,« fuhr er fort, »Frieden allen Mächten der Erde, sie haben meinen eindringlichen Gesuchen nachgegeben, und das ist sehr viel! Wenn Sie wüßten, wieviel Gutes durch eine sorglos gegebene Unterschrift hervorgerufen wird! . . . Zwei Jahre, nachdem ich so große kleine Dinge versucht und sie zu Ende gebracht hatte, mein Herr, besaßen alle armen Haushaltungen meiner Gemeinde mindestens zwei Kühe und schickten sie ins Gebirge auf die Weide, wo ich, ohne die Genehmigung des Staatsrats abzuwarten, ein Bewässerungssystem, ähnlich dem der Schweiz, der Auvergne und des Limousin, angelegt hatte. Zu ihrer großen Ueberraschung sahen die Leute des Fleckens dort ausgezeichnete Wiesen entstehen, und sie erhielten eine viel größere Menge Milch durch die größere Güte der Weideplätze. Die Ergebnisse dieser Eroberung waren unglaublich groß. Jeder ahmte meine Bewässerung nach. Die Wiesen, die Tiere, alle Erzeugnisse vervielfachten sich. Seit der Zeit konnte ich furchtlos die Verbesserung dieses noch unangebauten Erdenwinkels unternehmen und seine bis dato noch der Intelligenz entbehrenden Bewohner zivilisieren. Kurz, mein Herr, wir Einsiedler sind sehr geschwätzig: wenn man eine Frage an uns richtet, weiß man nie, wo die Antwort aufhören wird. Als ich ins Tal kam, betrug die Bevölkerung siebenhundert Seelen; jetzt zählt man ihrer zweitausend. Die Angelegenheit mit dem letzten Kretinen hat mir jedermanns Schätzung eingetragen. Nachdem ich den von mir Verwalteten beständig Milde und Festigkeit zugleich gezeigt hatte, wurde ich das Bezirksorakel. Ich tat alles, um das Vertrauen zu verdienen, ohne es weder herauszufordern, noch scheinbar zu wünschen; nur bemühte ich mich, allen den größten Respekt vor meiner Person durch die Gewissenhaftigkeit einzuflößen, mit der ich alle meine Verpflichtungen, selbst die unbedeutendsten, zu erfüllen wußte. Nachdem ich versprochen hatte, für das arme Wesen, das Sie eben sterben sahen, Sorge zu tragen, wachte ich besser über den Kretinen, als es seine früheren Beschützer getan hatten. Als Adoptivkind der Gemeinde wurde er genährt und gepflegt. Später haben die Bewohner schließlich den Dienst, welchen ich ihnen wider ihren Willen geleistet hatte, begriffen. Nichtsdestoweniger bewahren sie noch einen Rest ihres ehemaligen Aberglaubens. Ich bin weit davon entfernt, sie deswegen zu tadeln, hat mir ihr dem Kretinen geweihter Kult doch häufig als Mittel gedient, um die, welche Intelligenz besaßen, zur Hilfe für die Unglücklichen zu veranlassen. – Aber wir sind an Ort und Stelle,« fuhr Benassis nach einer Pause fort, als er sein Hausdach erblickte. Weit entfernt, von dem Zuhörer die geringste Lob- oder Dankphrase zu erwarten, als er diese Episode seines Verwaltungslebens erzählte, schien er nur jenem naiven Mitteilungsbedürfnis nachgegeben zu haben, dem von der Welt zurückgezogene Leute gehorchen.

      »Mein Herr,« sagte der Major zu ihm, »ich hab' mir die Freiheit genommen, mein Pferd in Ihren Stall zu stellen, und Sie werden so gütig sein, mich zu entschuldigen, wenn ich Ihnen meinen Reisezweck mitgeteilt habe.«

      »Ah! und der ist?« fragte Benassis ihn, der sich von einer Zerstreutheit freizumachen und sich zu erinnern schien, daß sein Gefährte ein Fremder war.

      Seinem offenen und mitteilsamen Charakter gemäß hatte er Genestas wie einen Bekannten aufgenommen.

      »Mein Herr,« entgegnete der Soldat, »ich habe von der beinahe wunderbaren Heilung Monsieur Graviers aus Grenoble, den Sie zu sich genommen hatten, reden hören. Ich komme in der Hoffnung, der gleichen Fürsorge teilhaftig zu werden, ohne die gleichen Ansprüche auf Ihre Gewogenheit zu besitzen: indessen verdiene ich sie vielleicht! Ich bin ein alter Soldat, dem alte Wunden keine Ruhe lassen. Sie werden wohl mindestens acht Tage nötig haben, um den Zustand, in welchem ich mich befinde, zu prüfen; denn meine Schmerzen hören nur zeitweilig auf, und …«

      »Nun gut, mein Herr,« sagte Benassis, ihn unterbrechend, »Monsieur Graviers Zimmer steht immer bereit; kommen Sie …«

      Sie traten ins Haus, dessen Türe vom Arzte mit einer Lebhaftigkeit aufgestoßen wurde, welche Genestas dem Vergnügen zuschrieb, einen Pensionär zu bekommen. »Jacquotte,« rief Benassis, »der Herr wird hier essen.«

      »Aber, mein Herr,« warf der Soldat ein, »würde es nicht angemessen sein, uns über den Preis einig zu werden?«

      »Den Preis wovon?« fragte der Arzt.

      »Der Pension. Sie können nicht mich und mein Pferd ernähren, ohne …«

      »Wenn Sie reich sind,« antwortete Benassis, »werden Sie wohl bezahlen, wenn nicht, will ich nichts haben.«

      »Nichts«, sagte Genestas, »dünkt mich zu teuer. Doch, reich oder arm, würden Ihnen zehn Franken täglich, abgesehen von den Kosten für Ihre Bemühungen, recht sein?«

      »Nichts ist mir weniger recht, als irgendwelche Bezahlung für das Vergnügen, Gastfreundschaft auszuüben, anzunehmen,« erwiderte, die Brauen runzelnd, der Arzt. »Was meine Bemühungen anlangt, so werd' ich Sie Ihnen nur widmen, wenn Sie mir gefallen. Reiche sollen meine Zeit nicht kaufen, sie gehört den Leuten des Tals hier. Ich will weder Ruhm noch Vermögen, ich verlange von meinen Kranken weder Lobsprüche noch Dankbarkeit. Das Geld, das Sie

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