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lächerlich erscheinen. Ich will aufrichtig mit Ihnen sprechen wie ein Mann, der weder das Gute noch das Schlechte seines Lebens rechtfertigen will, der Ihnen aber nichts verheimlichen wird, weil er heute der Welt fernsteht, dem Urteil der Menschen gegenüber gleichgültig und voller Hoffnung auf Gott ist.«

      Benassis hielt inne, dann stand er auf und sagte:

      »Ehe ich mit meiner Erzählung anfange, will ich Tee bestellen. Seit zwölf Jahren hat Jacquotte es nie versäumt, mich zu fragen, ob ich Tee haben will; sie würde uns sicherlich unterbrechen. Halten Sie mit, Hauptmann?«

      »Nein, ich danke Ihnen.«

      Benassis kam sofort wieder zurück.

      IV: Die Beichte des Landarztes

      »Ich bin«, begann der Arzt, »in einer kleinen Stadt des Languedoc geboren, wo mein Vater sich seit langem niedergelassen hatte, und wo meine erste Jugend verstrichen ist. Im Alter von acht Jahren wurde ich ins Gymnasium von Sorrèze gesteckt, das ich erst verließ, um meine Studien in Paris zu beendigen. Mein Vater hatte die tollste, verschwenderischste Jugend hinter sich; sein verschwendetes elterliches Erbteil wurde indes durch eine glückliche Heirat und durch die allmählichen Ersparnisse wiederhergestellt, die man in der Provinz macht, wo man sich auf Vermögen und nicht aber auf Aufwand etwas einbildet, und wo der dem Manne natürliche Ehrgeiz aus Mangel an edler Nahrung erlischt und sich in Geiz verwandelt. Als er reich geworden war und nur einen Sohn besaß, wollte er auf ihn die kühle Erfahrung übertragen, die er für seine verflüchtigten Illusionen eingetauscht hatte: letzte und edle Irrtümer der Greise, die vergebens ihre Tugenden und ihre klugen Rechnungen Kindern zu vermachen suchen, die begeistert vom Leben sind und es genießen wollen. Diese Vorsorge diktierte ihm einen Plan für meine Erziehung, dessen Opfer ich wurde. Mein Vater verbarg mir sorgfältig seinen Vermögensstand und verdammte mich, in meinem Interesse während meiner schönsten Jahre die Entbehrungen und Sorgen eines jungen Mannes zu ertragen, der darauf brennt, seine Unabhängigkeit zu erwerben. Er wünschte mir die Tugenden der Armut: Geduld, Wissensdurst und Arbeitsliebe einzuflößen. Indem er mich so den vollen Wert des Vermögens kennenlernen ließ, hoffte er, mich zu lehren, meine Erbschaft zusammenzuhalten; auch drängte er mich, sobald ich fähig war, seine Ratschläge zu verstehen, einen Beruf zu wählen und mich ihm zu widmen. Meine Neigungen wiesen mich auf das Medizinstudium. Von Sorrèze aus, wo ich zehn Jahre lang unter der halb klösterlichen Disziplin der Oratorianer gelebt hatte und in die Einsamkeit eines Provinzgymnasiums versenkt gewesen war, wurde ich ohne jeden Uebergang in die Hauptstadt versetzt. Mein Vater begleitete mich dorthin, um mich einem seiner Freunde anzuempfehlen. Ohne mein Wissen trafen die beiden alten Männer sorgsame Vorsichtsmaßregeln gegen die Aufwallungen meiner damals sehr unschuldigen Jugend. Mein Wechsel wurde streng nach den wirklichen Lebensbedürfnissen abgemessen, und ich durfte seine Vierteljahrsraten nur unter Beibringung der Quittungen über die an der Medizinschule belegten Vorlesungen erheben. Dies ziemlich beleidigende Mißtrauen wurde mit Ordnungs- und Verantwortlichkeitsgründen bemäntelt. Mein Vater zeigte sich übrigens in bezug auf alle für meine Erziehung und für die Vergnügungen des Pariser Lebens notwendigen Kosten freigebig. Sein alter Freund, der glücklich war, einen jungen Mann in das Labyrinth, das ich betreten sollte, einzuführen, gehörte zu jener Art von Menschen, die ihre Gefühle ebenso sorgfältig registrieren, wie sie ihre Papiere ordnen. Wenn er in seiner Agenda nachblätterte, konnte er immer sehen, was er zu der entsprechenden Stunde des verflossenen Jahres getan hatte. Das Leben bildete für ihn ein Unternehmen, über das er kaufmännisch genau Buch und Rechnung führte. Uebrigens war er ein zwar verdienstvoller, aber schlauer, ängstlicher und mißtrauischer Mann, dem es nie an scheinbar einleuchtenden Gründen fehlte, um die Vorsichtsmaßregeln, die er meinetwegen traf, zu beschönigen. Er kaufte meine Bücher und bezahlte meine Vorlesungen; wenn ich reiten lernen wollte, erkundigte sich der Biedermann selber genau nach dem besten Reitstall, führte mich dorthin und kam meinen Wünschen zuvor, indem er mir für die Feiertage ein Pferd zur Verfügung stellte. Trotz dieser Greisenlisten, die ich im Moment, wo mir daran lag, mich mit ihm zu messen, zu vereiteln wußte, war dieser ausgezeichnete Mann ein zweiter Vater für mich.

      ›Mein Freund,‹ sagte er zu mir in dem Augenblicke, wo er erriet, daß ich meinen Zügel zerreißen würde, wenn er ihn nicht verlängerte, ›junge Leute machen häufig dumme Streiche, zu denen sie die Hitze ihres Alters verleitet; und es könnte Ihnen in einem solchen Falle passieren, daß Sie Geld nötig haben; kommen Sie dann zu mir, Ihr Vater hat mich früher einmal in liebenswürdiger Weise sich verpflichtet, ich werde stets einige Taler zu Ihrer Verfügung haben; belügen Sie mich aber niemals, schämen Sie sich nicht, mir Ihre Fehltritte zu gestehen, ich bin auch jung gewesen, wir werden uns immer wie zwei gute Kameraden verstehen.‹

      Mein Vater brachte mich in einer bürgerlichen Pension im Quartier Latin bei ehrenwerten Leuten unter, wo ich ein recht hübsch eingerichtetes Zimmer hatte. Diese erste Unabhängigkeit, meines Vaters Güte und das Opfer, das er mir zu bringen schien, verursachten mir indessen wenig Freude. Vielleicht muß man die Freiheit genossen haben, um ihren Wert voll zu begreifen. Die Erinnerungen meiner freien Kindheit waren durch den Druck der Gymnasiumslangeweile, die mein Gemüt noch nicht abgeschüttelt hatte, fast vernichtet worden; ferner zeigten mir meines Vaters Empfehlungen neue Aufgaben, die ich zu erfüllen hatte, endlich war Paris ein Rätsel für mich, und man unterhielt sich dort nicht, ohne seine Vergnügungen studiert zu haben. Ich sah also keinen Wechsel in meiner Lage, außer daß mein neues Gymnasium größer war und sich Medizinschule nannte. Nichtsdestoweniger studierte ich anfangs mutig drauflos und besuchte die Kurse mit Ausdauer. Ich stürzte mich Hals über Kopf in die Arbeit, ohne mich zu zerstreuen, so sehr setzten die Schätze der Wissenschaft, an denen die Hauptstadt Ueberfluß besitzt, meine Einbildungskraft in Erstaunen. Bald aber ließen mich unkluge Beziehungen, deren Gefahren durch jene blind vertrauende Freundschaft, die alle jungen Leute verführt, verschleiert waren, unmerklich den Pariser Zerstreuungen verfallen. Die Theater, ihre Schauspieler, für die ich leidenschaftlich schwärmte, begannen das Werk meiner Demoralisation. Die Theater einer Hauptstadt sind sehr verhängnisvoll für junge Leute, diese verlassen sie niemals ohne lebhafte Erregungen, gegen die sie fast immer fruchtlos ankämpfen; auch scheinen mir die Gesellschaft und die Gesetze mit an den Ausschweifungen, die sie dann begehen, schuldig zu sein. Unsere Gesetzgebung hat den Leidenschaften gegenüber, die den jungen Mann zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren peinigen, sozusagen die Augen zugedrückt. In Paris stürmt alles auf ihn ein; seine Begierden werden unaufhörlich gereizt; die Religion predigt ihm das Gute, die Gesetze empfehlen es ihm, während Dinge und Sitten ihn zum Bösen einladen. Machen sich dort nicht der ehrenwerteste Mann und die frömmste Frau über die Enthaltsamkeit lustig? Kurz, die große Stadt scheint es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, nur die Laster zu ermutigen; denn die Hindernisse, welche sich dem Zugang zu Berufen entgegenstellen, in denen ein junger Mann in anständiger Weise sein Glück machen könnte, sind noch zahlreicher als die Schlingen, die überall für seine Leidenschaften ausgelegt sind, um ihm sein Geld wegzunehmen. Lange Zeit ging ich also allabendlich in irgendein Theater und gewöhnte mich nach und nach ans Nichtstun. Ich paktierte innerlich mit meinen Pflichten und verschob oft meine dringendsten Geschäfte auf den anderen Tag. Statt danach zu trachten, mich zu unterrichten, unterzog ich mich bald nur noch den Arbeiten, die zur Erreichung der für die Ausübung meines Berufes notwendigen Grade unumgänglich nötig waren. Oeffentliche Vorlesungen hörte ich bei keinem der Professoren mehr; denn meiner Meinung nach faselten sie. Ich zertrümmerte bereits meine Götter, ich wurde Pariser. Kurz, ich führte das unsichere Leben eines jungen Mannes aus der Provinz, der, in die Hauptstadt versetzt, noch einige echte Gefühle bewahrt, noch an gewisse Moralgesetze glaubt, sich aber durch schlechte Beispiele verdirbt, während er sich noch vor ihnen schützen will. Ich verteidigte mich schlecht, ich hatte Mitschuldige in mir selber. Ja, mein Herr, meine Physiognomie trügt nicht; ich bin all den Leidenschaften unterworfen gewesen, deren Spuren mir geblieben sind. Ich bewahrte indessen auf dem Grunde meines Herzens ein Gefühl moralischer Vollkommenheit, das mich inmitten meiner Ausschweifungen verfolgte, und das durch Ueberdruß und Gewissensbisse den Mann, der in den reinen Gewässern der Religion seinen Durst gelöscht hatte, zu Gott zurückführen mußte. Wird nicht, wer die Wollüste der Erde lebhaft fühlt, früher oder später von dem Geschmack der Früchte des Himmels angezogen? Anfangs empfand ich die tausend Glückseligkeiten und Hoffnungslosigkeiten, die mehr oder minder lebendig in allen jungen Menschen vorhanden sind; bald hielt

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