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Verteidigung, einen Menschen getötet habe. Wir sind in der Schlachtlinie, wir greifen an; wenn wir die uns Gegenüberstehenden nicht zurückwerfen, fragen sie uns nicht um Erlaubnis, uns umzubringen; also muß man töten, um nicht vernichtet zu werden, und das Gewissen ist ruhig. Doch, mein lieber Herr, es ist mir einmal begegnet, daß ich einem Kameraden in einem besonderen Falle das Kreuz eingeschlagen habe. Wenn ich darüber nachdenke, bereitet die Sache mir Qual und das verzerrte Gesicht jenes Menschen steht mir manchmal vor Augen. Sie mögen darüber urteilen … Es war auf dem Rückzuge von Moskau. Wir glichen mehr einer abgetriebenen Rinderherde als einer großen Armee. Disziplin und Fahnen bedeuteten nichts mehr! Jeder war sein eigener Herr und der Kaiser hat damals, das kann man sagen, erfahren, wo seine Macht endigte. Als wir in Studzienka, einem kleinen Dorfe oberhalb der Beresina, anlangten, fanden wir dort Scheunen, Hütten, die wir als Brennmaterial verwenden konnten, eingegrabene Kartoffeln und Runkelrüben. Seit einiger Zeit waren wir weder Häusern noch Fraß begegnet: die Armee hat flott gelebt. Die zuerst Gekommenen haben, wie Sie sich denken können, alles aufgefressen. Ich bin als einer der letzten angekommen. Zu meinem Glücke hatte ich weder Hunger noch Schlaf. Ich erblicke eine Scheune, gehe hinein, sehe dort etwa zwanzig Generäle, höhere Offiziere, alles, ohne ihnen zu schmeicheln, Männer von großem Verdienst: Junot, Narbonne, des Kaisers Adjutant, kurz, die berühmten Häupter der Armee. Auch einfache Soldaten gab es dort, die ihr Strohlager keinem Marschall von Frankreich würden abgetreten haben. Die einen schliefen im Stehen, aus Platzmangel, gegen die Wand gelehnt, die anderen lagen auf dem Boden ausgestreckt, und alle hatten sich so fest aneinandergedrückt, um sich warmzuhalten, daß ich vergebens eine Ecke suchte, um mich dort unterzubringen. Als ich über diese Menschendiele ging, schimpften die einen, die anderen sagten nichts, doch niemand ließ sich stören. Man würde sich nicht haben stören lassen, um einer Kanonenkugel aus dem Wege zu gehen, war dort aber nicht genötigt, die Maximen der albern-honetten Höflichkeit zu befolgen. Endlich bemerkte ich im Hintergrunde der Scheune eine Art inneres Dach, auf das niemand den Gedanken oder vielleicht die Kraft gehabt hatte hinaufzuklettern. Ich steige hinauf, richte mich dort ein; auch als ich mich in meiner ganzen Länge ausgestreckt habe, sehe ich noch jene wie Kälber herumliegenden Menschen. Dies traurige Schauspiel machte mich fast lachen. Die einen kauten, eine Art tierischen Vergnügens bezeigend, erfrorene Mohrrüben, und in schlechte Schals eingemummte Generäle schnarchten, als wenn es donnerte. Ein angezündeter Fichtenast erhellte die Scheune; wenn er sie in Brand gesetzt hätte, würde sich kein Mensch erhoben haben, um ihn zu löschen. Ich lege mich auf den Rücken, und ehe ich einschlafe, richte ich natürlich die Augen nach oben, und da sehe ich den Hauptbalken, auf dem das Dach ruhte, und der die Deckenbalken trug, eine leichte Bewegung von Osten nach Westen machen. Der verfluchte Balken tanzte recht hübsch. ›Meine Herren,‹ sagte ich zu denen unter mir, ›draußen ist ein Kamerad, der sich auf unsere Kosten wärmen will.‹ Der Balken mußte bald herabfallen. ›Meine Herren, meine Herren, es wird bald aus sein mit uns; sehen Sie doch den Balken an!‹ rief ich noch einmal ziemlich laut, um meine Schlafgenossen aufzuwecken. Sie haben sich wohl den Balken angesehen, mein Herr, doch die, welche schliefen, haben sich wieder ans Schlafen gemacht, und die da aßen, haben mir gar nicht geantwortet. Als ich das sah, mußte ich meinen Platz, auf die Gefahr hin, ihn zu verlieren, verlassen; denn es handelte sich darum, diesen Haufen Ruhm zu retten. Ich gehe also hinaus, laufe um die Scheune herum und sehe da einen großen Teufelskerl von Württemberger, der mit einer gewissen Begeisterung an dem Balken zerrte. ›Hallo, hallo,‹ sage ich zu ihm, indem ich ihm begreiflich mache, daß er seine Arbeit aufgeben müsse. – ›Gehe mir aus dem Gesicht, oder ich schlag' dich tot!‹ schrie er auf deutsch. ›Ach gut ja! Qui mire aous dem Guesit,‹ antwortete ich ihm, ›darum handelt sich's nicht!‹ Nehme sein Gewehr, das er auf der Erde gelassen hatte, schlage ihm das Kreuz ein, gehe wieder hinein und schlafe. Das ist die Geschichte!«

      »Aber das war ein Fall berechtigter Verteidigung, die man gegen einen Menschen zugunsten vieler unternahm; Sie haben sich also nichts vorzuwerfen!« sagte Benassis.

      »Die anderen,« fuhr Genestas fort, »haben geglaubt, es sei eine Grille von mir gewesen; doch, Grille oder nicht, viele dieser Leute leben heute gemächlich in schönen Häusern, ohne daß ihr Herz von Dankbarkeit beschwert wird!«

      »Würden Sie diese schöne Tat denn nur getan haben, um jenes übermäßige Interesse, das man Dankbarkeit nennt, dafür zu erlangen?« fragte Benassis lachend. »Das hieße Wucher treiben.«

      »Ach, ich weiß wohl,« antwortete Genestas, »daß das Verdienst einer guten Handlung beim geringsten Vorteil, den man daraus zieht, flötengeht; sie erzählen, heißt, sich eine Rente von Eigenliebe zu verschaffen, die mehr wert ist als Dankbarkeit. Wenn der anständige Mensch indes immer still wäre, würde der Verpflichtete kaum mehr von der Wohltat reden. In Ihrem System hat das Volk Beispiele nötig; wo würde es die bei einem solchen allgemeinen Schweigen finden? Noch etwas anderes: Wenn Ihr armer Pontonier, der die französische Armee gerettet und sich nie in der Lage gefunden hat, mit Nutzen davon zu schwatzen, sich den Gebrauch seiner Arme nicht erhalten hätte, würde ihm sein Gewissen Brot geben? . . . Antworten Sie darauf, Philosoph?«

      »Vielleicht gibt es nichts Absolutes in der Moral,« antwortete Benassis; »doch dieser Gedanke ist gefährlich; er läßt den Egoismus die Gewissensfälle zugunsten des persönlichen Interesses deuten. Hören Sie, Rittmeister: ist der Mann, der den Prinzipien der Moral strikt gehorcht, nicht viel größer als der, welcher von ihnen abweicht – selbst notgedrungen? Würde unser Pontonier, der ganz und gar gliederlahm ist und Hungers stirbt, nicht in gleichem Maße erhaben sein, wie es Homer ist? Zweifelsohne ist das Menschenleben eine letzte Probe für die Tugend wie für das Genie, welche, die eine wie das andere, von einer besseren Welt gefordert werden. Tugend und Genie scheinen mir die beiden schönsten Formen jener vollkommenen und beständigen Aufopferung zu sein, welche die Menschen zu lehren Jesus Christus gekommen ist. Das Genie bleibt arm, indem es die Welt erleuchtet; die Tugend wahrt Schweigen, indem sie sich dem Allgemeinwohl opfert.«

      »Gut, meinetwegen,« entgegnete Genestas, »doch ist die Erde von Menschen und nicht von Engeln bewohnt; wir sind nicht vollkommen.«

      »Sie haben recht,« antwortete Benassis. »Ich für meine Person habe die Fähigkeit, Fehler zu begehen, tüchtig mißbraucht… Müssen wir aber nicht nach Vollendung streben? Ist nicht Tugend für die Seele ein schönes Ideal, das man unaufhörlich wie ein himmlisches Vorbild betrachten muß?«

      »Amen,« sagte der Offizier. »Man gibt Ihnen zu, der tugendhafte Mensch ist etwas Schönes; räumen Sie aber auch ein, daß die Tugend eine Gottheit ist, die sich in allen Ehren ein klein bißchen Konversation gestatten darf.«

      »Ah, mein Herr,« sagte der Arzt mit einer Art bitterer Melancholie lächelnd, »Sie besitzen die Nachsicht derer, die in Frieden mit sich leben, während ich streng wie ein Mensch bin, der die Flecke, die aus seinem Leben zu entfernen sind, deutlich sieht …«

      Die beiden Reiter waren bei einer am Rande des Wildbachs gelegenen Hütte angelangt. Der Arzt ging hinein. Genestas blieb an der Türschwelle und betrachtete nacheinander das Schauspiel, das die frische Landschaft bot, und das Innere der Hütte, in der sich ein Mann im Bette befand. Nachdem er seinen Kranken untersucht hatte, rief Benassis plötzlich:

      »Ich habe nicht nötig, hierherzukommen, meine gute Frau, wenn Ihr nicht tut, was ich sage. Ihr habt Eurem Manne Brot gegeben. Wollt Ihr ihn denn töten? Himmel Schimmel! Wenn Ihr ihn jetzt etwas anderes als sein Queckenwasser zu sich nehmen laßt, setze ich keinen Fuß mehr über Eure Schwelle, und Ihr könnt einen Arzt suchen, wo Ihr wollt.«

      »Aber, mein lieber Monsieur Benassis, der arme Alte schrie vor Hunger, und wenn ein Mensch seit vierzehn Tagen nichts in den Leib gekriegt hat …«

      »Ei was! Wollt Ihr auf mich hören? Wenn Ihr Euren Mann einen einzigen Mund voll Brot essen laßt, ehe ich ihm das Essen erlaube, werdet Ihr ihn töten. Hört Ihr?«

      »Man wird ihm alles entziehen, mein lieber Monsieur… Geht's besser?« fragte sie, dem Arzte folgend.

      »Aber nein; Ihr habt seinen Zustand dadurch, daß Ihr ihm zu essen gabt, verschlimmert. Kann ich Euch denn nicht überzeugen, Halsstarrige, die Ihr seid, daß man Leute, die Diät halten müssen, nichts essen lassen darf? – Die Bauern sind unverbesserlich!« fügte Benassis, sich an den Offizier wendend, hinzu. »Wenn ein Kranker einige Tage

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