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Der Madeira sei ihm zu süß.

      „Willst du etwas Richtiges?“

      „Etwas mehr Wässriges. Im Ernst, Frey: ich rede zuviel, bin ich gar nicht mehr gewöhnt.“

      Nicht zuviel! rief sie über die Schulter, sie brauche das, seine Stimme, sein Sprechen. Als sie zurückkam, hatte sie mehrere Flaschen, Gebäcktütchen im Arm. „Nachher essen wir noch richtig!“

      Helmut drehte an der Mineralwasserflasche, bis sie sich schließlich zischend öffnete, goss ihr zwei Finger hoch ins Glas, dann sich. Sie schwenkten das Wasser, um die Süße des Madeira zu tilgen, tranken. Er füllte die Gläser wieder.

      „Willst du verdünnen?“ fragte sie, hatte Gin in der Hand.

      „Mein Lieblingstropfen: Gin ... aber früher. - Verdammt: ein ganz Kleinbisschen!“

      Sie gab einen winzigen Schuss ins Glas, sich selbst einen größeren. Müsse man wenigstens schmecken können … die Kräuter, Gewürze - all das Gesunde.

      „Pass mal auf, Frey -“, sagte er, nahm einen Schluck, der eine Spur anders als Wasser schmeckte, „was ich vorhin mit dem Ganzen sagen wollte. - Übrigens toll, wie schnell ich wieder bei meinem Problem gelandet bin!“ Er lachte, schüttete sich mehr Gin ins Glas. Die Gefühle -: sein Thema! Seit Jahrzehnten! Er habe immer behauptet, Menschen würden in ihrem Leben - in ihrem Handeln, Sein, etcetera - fast allein durch Gefühle gesteuert - und nicht über Vernunft, Verstand und so weiter, wie das die bürgerlichen Gesellschaften vor sich behaupteten. In ihren Tempeln der reinen Lehre. Vernunft, Verstand trete fast nicht auf, höchstens minimal, in Spuren, und wenn - als Steuerung - dann beide zusammen, wahrscheinlich auch nur in Form von Gefühlserregung. „Über das Empfinden von Gefühlssignalen! Du verstehst? - Soweit bin ich aber noch nicht ... in meinen Überlegungen. Bei Vernunft, Verstand.“

      Er sah sie an, ohne sie zu sehen, sah in sich hinein.

      Das sei mit Sicherheit so, erwiderte sie, dass alle im Leben hauptsächlich über Gefühle gesteuert würden. „Wir: du und ich auch, alle! Und das wird seit ewig gewusst, Helmut, seit tausenden von Jahren. Genau das ist wohl immer der Kern in all den Erziehungen, Bildungen, Schulen, der Pädagogik: die überschießenden Gefühlsreaktionen der Kinder unter Kontrolle zu kriegen. Wenigstens etwas, unter ihre Eigenkontrolle.“ Sie dachte nach, fuhr dann langsam fort: „Und vielleicht ist an dieser Stelle genau der Punkt, wo die Gesellschaften, Staaten beginnen: - erst wenn es geschafft worden ist, die wilden Gefühlsreaktionen ein wenig zu steuern, kann so etwas wie Gesellschaft entstehen. Die staatliche Gesellschaft natürlich - der Beginn ihrer Entstehung liegt hier.“

      Helmut nickte.

      „Es geht immer um Kultivierung der Gefühle durch Denken! Oder wie man es nennen will.“

      „Und durch Wissen. Durch Lernen von Wissen!“

      „Meinetwegen auch das ... kultivieren durch Denken und Wissen.“ Freya dachte nach, lachte plötzlich los. „Übrigens sind wir auf diesem Weg weitaus weiter gekommen als ihr -!“

      Sie konnte vor Lachen nicht weitersprechen, wischte sich Tränen ab, trank. Helmut lachte mit.

      „Und ... und deshalb wahrscheinlich kaputtgegangen -. Genau daran kaputtgegangen!“

      Sie lachten.

      Vielleicht ... könne sein -, meinte Helmut. Sie hier hätten immer versucht, den Leuten ihre Gefühle auszutreiben, besonders die althergebrachten: die mit Besitz, Geld, Gier, Rivalisieren, Übertrumpfen, Besser-als einhergekommen seien. Während sie drüben vor allem nur die Gefühle bedienten. Fast allein die Gefühle. - Das vielleicht das Wesen von Kapitalismus, streng auf Gefühlsebene betrachtet: schluckenschlucken, kaufenkaufen, besserbesser - gleich: schmeckenschmecken. Auf Zunge! Und so etwas sei auf verkürzten Wegen zu erreichen, also materiellen. Was dann wohl heiße: gefühligen Wegen. Von Gefühlen gesteuerten.

      „Und die Kunst des Marketings ist, auf die von den Produkten losgelösten Gefühle zu zielen! Den frei vagabundierenden -.“ Sie lachte. „Merkst du was? Wir reden schon wieder wie früher, an unseren langen Winterabenden, vor dem Ofen. Auf deinem Bett.“

      „Mit gleicher Begeisterung. Nur dass wir damals dabei nochTee getrunken haben.“

      „Ja“, schrie sie, „Mate!“

      „Am Rio de la Plata!“

      Mate-Tee, den Vater habe schicken müssen -, sagte sie versonnen. Karl May gelesen und danach unbedingt diesen Tee gebraucht.

      „Solchen Tee trinken ... aus Kalebassen.“ Er leckte sich albern die Lippen. „Kalebasse -: dieses Wort!“

      „Hast du mal wieder Mate getrunken?“

      Nie wieder. Er sei Schwarztee-Trinker geworden, völlig extremer, literweise.

      „Ich schon. Mate ist im Moment sehr in, in bestimmten Kreisen. Bei Umweltschützern, Buddhisten, Yoga-Leuten.“

      „Und mit welcher Begeisterung wir damals diskutiert haben -!“ sagte Helmut. „Darauf wollte ich hinaus: die Begeisterung! Und das meint wohl auch Gefühle ...den Gefühlsdruck im Hintergrund. - Ich vermute inzwischen, dass jedes Wissen mit Gefühlen verbunden ist. Nicht unbedingt offenen, aber irgendwie stets im Hintergrund. Im Untergrund.“

      Manches ja - aber jedes?, zweifelte sie. Er mache, glaube sie, den Fehler, solche Zusammenhänge absolut zu setzen. - Sie dache nach. Das meiste Wissen werde heute weitgehend abstrakt in den Schulen, Universitäten, übers Fernsehn, Radio und so weiter gelernt, gelehrt. Bei diesen rationalen Erkenntnissen zur Anwendung im täglichen Leben, gehe es aber gerade darum, die Gefühle als mögliche Fehlerquellen zurückzudrängen! - Könne sie als Ingenieurin übers Gefühl gute Brücken bauen -? Oder leistungsfähigen Stahl schmelzen? - um mal bei ihrem Job zu bleiben. Dem früheren. „Was haben mathematische Erkenntnisse mit Gefühlen zu tun -?!“

      „Viel“, sagte er, nahm einen Schluck. „Pass mal auf, Frey -. Zwei plus zwei ist vier - okay?“

      In Ordnung … ja.

      „Wenn ich dir jetzt gegenüber behaupte, zwei und zwei ist fünf!, zuckst du zusammen, sagst entschieden: Nein! - Du spürst, dass meine Aussage falsch ist. Etwas zuckt in dir durch deinen Körper - nicht so sehr durchs Gehirn wie durch deinen Körper -, dass meine Behauptung nicht stimmt! Irgendein winziger Reflex.“

      Ja -, sagte sie langsam.

      Wenn er fortfahre mit seinen Behauptungen, zwei plus zwei sei fünf, reagiere sie belustigt, amüsiert. Im Stillen denke sie vielleicht: was ist das denn für ein Trottel -? Belustigt, amüsiert zu sein, seien jedoch Gefühlsreaktionen: bei ihr ... in ihr!

      Sie dachte nach, schloss die Augen.

      Und wenn er noch weiter fortfahre mit seinen Behauptungen, immer so weitermache, werde sie schließlich zornig, einen Wutanfall bekommen, vielleicht schreien: Mensch, bist du ein Idiot! - Wut und Zorn seien jedoch massive Gefühlsreaktionen. Wieder: in ihr!

      „Darüber muss ich erst einmal in Ruhe nachdenken können“, sagte sie langsam. „Jetzt nicht!“

      „Oder was ist mit deinem Marx, Frey?!“ sagte er schnell. Er erinnere sich an die vielen begeisterten Briefe, die sie ihm damals geschrieben habe, wenn ihr wieder neue Erkenntnisse gekommen seien. Alles, was er über Marx wisse, durch sie gelernt! Durch ihre begeisterten Briefe und ihre Promotion. „Was ist mit deinem Marx?!“

      Freya strich sich fest über die Stirn, schloss die Augen. Er sah, dass die Lider nass wurden. „Was soll damit sein -? Weg … vorbei -. Ausradiert.“

      „Schlimm“, sagte er, „schlimme Gefühle.“

      „Das hat mich richtig krank gemacht. Alles plötzlich weg.“

      „Ist jedoch auch unglaublich komisch, Frey ... lach drüber -.“

      „Zum Lachen war mir nicht zu Mute, Helmut. Damals nicht, heute schon eher. Wenn

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