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man nur bekifft-amüsiert überstehen konnte, darunter die bedeutendste Grundsatzfrage aller Zeiten: Was ist eigentlich unser Ziel?

      Im Athener Grill saßen wir beisammen, Karin, Rosi, Tommi, Richy und ich. Rolf musste noch im Steuerbüro an einer Schummelbilanz für seinen stramm CDU-treuen Bürochef arbeiten. Auch unsere guten Kumpels und Solidaritätsverband-Helfer Andy, Britta und Ingo waren dabei. Alle hatten vorm Essen einen Joint gezogen, außer Karin, Richy und ich.

      „Unsere Vision ist – ganz einfach gesagt – die freie Persönlichkeitsentfaltung, frei, das heißt ohne Fremdbestimmung“, sagte Karin nach dem zweiten Bier und schwadronierte weiter: „Ohne Manipulation durch die Presse der herrschenden Wirtschaftsmächtigen. Nicht der Profit, der Mensch muss im Mittelpunkt stehen!“

      Rosi schaute aus ihren etwas roten Augen, was dem Gras geschuldet war, und fragte in ihrer leidenschaftslosen Naivität: „Und wo bleibt die Natur?“

      Ihr Liebster streichelte ihr die Hand, die gerade nach dem Tsatsiki-Teller griff. „Die sorgt für sich selbst. Mach dir keine Sorgen, die regeneriert sich, ist doch intakt, was willst du mehr?“

      Ich sah, wie Richy nach Luft schnappte und Tommi ins Visier nahm. „Die Luft ist verpestet bis dorthinaus. Wie soll die sich von selbst regenerieren?“

      Rosi stocherte in ihrem Zaziki herum und fragte, ob da Knoblauch drin sei. Tommi meinte, er hätte gehört, drüben der Sozialismus könne noch nicht auf Industrie verzichten, während der Kapitalismus industriell und militärisch ununterbrochen aufrüste, das sei doch wohl logisch. Erst im Kommunismus sei die Industrie überflüssig – was natürlich nur seinem derzeit arg benebelten Kopf entsprang. Der sozialistische Braunkohlegeruch über Berlin habe ein besonderes Flair oder so. Und so verlief sich die Diskussion im griechischen Nirwana zwischen Feta aus dem Ofen, gebratenen Zucchini und leckerem Braunkohl-Düftchen; oder war es vielleicht doch das Düftchen des Kohlsüppchens? Auf dem kurzen Nachhauseweg sangen wir auf dem Kudamm in einheitlicher Geschlossenheit.

      „Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft, so mit ihrem holden Duft, Duft, Duft, wo nur selten was verpufft, pufft, pufft, in dem Duft, Duft, Duft, dieser Luft, Luft, Luft!“

      Weit vor uns an der Ecke Joachimstaler Straße – außer Konkurrenz von uns Neuberliner-Luftikussen –lieferten sich die Hare-Krishna-Jünger mit der Heilsarmee ihre eigene singende Präsenzschlacht: Wer war öfter präsent, wer sang lauter, wer konnte mehr Passanten zum Stehenbleiben und zum Nicht-schlecht-Staunen animieren?

      *

      Wir fühlten uns so schrecklich gut, so frei. Vorbei war es mit Mutters Sprüchen von wegen: „Was sollen denn die Nachbarn denken!“ Hier in der Millionenstadt kannte uns niemand; hier konnten wir alte Autoritäten lächerlich machen, ohne es unseren Alten umständlich erklären zu müssen. Wir waren unter uns und im Grundsatz einer Meinung, wenn es um die Modernisierung der Gesellschaft ging, sprich: um Demokratisierung.

      Die begann mit radikaler Systemkritik und Verhohnepipelung überholter oder überstrapazierter Symbole und Verhaltensweisen. Letzteres hatte am besten Teufels Kommune 1 auf dem Schirm. Als der angeklagte Fritz Teufel vom Richter aufgefordert worden war, sich zu erheben, hatte er geantwortet: „Nun denn, wenn es der Wahrheitsfindung dient!“ Im grauen Gerichtssaal herrschte schallendes Gelächter. Der Richter schaute betreten drein. Und heute befand sich die Kommune, wie man hörte, in einer Krise oder sogar in Auflösung. Da würde ich mich demnächst, wenn ich mehr Zeit hätte, mal erkundigen.

      Am Nachmittag rief Lollo an. „Wie geht es meinem Sohn? Wir haben lange nichts von dir gehört!“

      „Stimmt nicht, Mama, ich habe erst vor zwei Wochen angerufen.“

      „Ja schon. Aber du wolltest das darauf folgende Wochenende Bescheid sagen, wie es beruflich aussieht. Weil …“ Sie stockte.

      „Weil ich vorhabe, als Berufsjournalist zu arbeiten, meinst du. Aber das geht nicht von heute auf morgen. Ich muss mich erstmal neben meinem durchaus gut auskömmlichen Solidaritätsverbands-Engagement als Honorarjournalist bewähren; das ist halt so. Es gibt ja keine überbetriebliche Vollzeit-Ausbildung zum Journalisten, so mit Berufsschule oder gar mit Studium, was ja momentan sowieso nicht in Frage kommt, weil …“ Jetzt kam ich ins Stocken.

      „Weil du kein Abitur hast“, ergänzte Lollo mehr traurig als vorwurfsvoll.

      „Wer weiß, wie sich das alles entwickelt, mein Muttchen. Lass mir einfach noch Zeit. Ich krieg das alles hin.“

      „Hauptsache du bist glücklich und verdienst dein eigenes Geld.“

      „Und es dient einem guten Zweck!“, fügte ich selbstbewusst hinzu.

      „Wer weiß!“, wandte sie ein. „Vielleicht verlängern eure Spenden an den Vietcong nur den Krieg.“

      „Also Mutter!“, rief ich entrüstet in die Sprechmuschel. „Ganz sicher nicht! Unsere deutsche Regierung hilft den Amis, den Krieg aufrechtzuerhalten: Mit der Zwischenstationierung von Waffen und Soldaten, mit der Finanzierung all der damit zusammenhängenden immensen Kosten und so weiter.“

      „Auch die Regierung von Willy Brandt?“, fragte Lollo ungläubig zurück.

      „Auch die. Da hat sich leider nichts geändert. Es scheint so, als existierten da Geheimverträge, die unserer Regierung in bestimmten Dingen die Hände fesseln.“

      Dann wurde mir plötzlich bewusst, dass es mitten am Tag war. „Lollo, weißt du, dass du zur teuersten Zeit anrufst. Jetzt kostet eine Minute 60 Pfennig, abends nur zwanzig. Ich rufe dich heute Abend zurück.“

      „Aber mach das auch. Ich wollte dir noch einiges berichten.“

      „Na klar. Ich rufe gegen 19:00 Uhr an.“

      „Lieber eine halbe Stunde später; du weißt doch – Papa sieht da die Nachrichten im Zweiten. Und er will dich ja auch mal wieder an der Strippe haben.“

      Was Otto wohl von mir wollte? Von seinen Sporterfolgen berichten? Oder dezent nachfragen, was ich sportlich so treibe? Oder ob ich es mir mit dem Abi nicht doch mal überlegen wolle?

      Wenn wir vom Großeinkauf für die Wohngemeinschaft zurück waren, wuschen wir uns jetzt immer als erstes gründlich die Hände. Aus der BRD war eine heftige Grippewelle nach Westberlin importiert worden. Dadurch waren im Westen bereits mehr als zweitausend Menschen gestorben. Die epidemische Infektionskrankheit hatte sich seit Anfang des Jahres in Nord-, West- und Mitteleuropa ausgebreitet.

      Was man so aus den USA hörte, da war immer wieder ein kleiner rassistischer Höhepunkt dabei. Denen da drüben sollte man die Köpfe und nicht nur die Hände waschen. Die Mormonen ließen keine Farbigen zum Dienst als Pfarrer zu. Um sich aber ja nicht eben jenem Verdacht des Rassismus auszusetzen, betonte ein Sprecher der 2,8 Millionen Mitglieder umfassenden Sekte, die Gründe der Farbigen-Ablehnung kenne allein Gott. Das liege leider nicht in ihrer Macht. „Es könnte jedoch sein“, mutmaßten die Mormonen, „dass Gott es später einmal zulässt, Neger in den Pfarrdienst zu berufen.“

      Puh, dass Gott gegen solche Gotteslästerer und Menschenverächter nicht angemessen vorging! Es musste ja nicht gleich ein Blitz sein, der diese Rassisten traf. Aber vielleicht ein schönes Strafverfahren wegen Verletzung der amerikanischen Verfassung. Doch sowas war im Land des Ku-Klux-Klan wohl nicht möglich, weil die feinen weißen Stehkragen-Rassisten noch in allen Justizpalästen residierten.

      Inzwischen gab es eine weitere Bereicherung des westdeutschen Zeitungsmarktes, denn in München ward ein unheiliges Blättchen geboren, Schwabing aktuell, eine frivol-glamouröse Sex-Zeitung. Ersten Ärger bekam das Blatt ausgerechnet mit den ansonsten gar nicht so prüden Brüdern aus der DDR. Am Kontrollpunkt Hirschberg wurde einem nach Westberlin fahrenden LKW nach siebenstündiger Wartezeit die Weiterfahrt durch die demokratische Republik von ihren Grenzbehörden verweigert, weil das Fahrzeug 20.000 Exemplare des Lustblattes geladen hatte. Motto der Ladung: „Nimm mich! Ich biete Dir alles: Liebe und Sex, Skandal und Affären einer jungen Weltstadt. Wir werden viel Spaß miteinander haben.“

      Der Fahrer des gestoppten Sex-Transporters kehrte

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