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»Unser Mensch sieht zumindest im Urlaub so aus – Er ist tolerant. Unter Menschen verschiedenster Religionen, Nationalitäten, Alters- und sozialen Schichten.

       Er ist von Statussymbolen unabhängig. Hat seinen Kontostand vergessen, seinen Wagen, seinen Titel, das Lederköfferchen, den Maßanzug und sogar seinen Nachnamen.

       Er ist fähig, dem Luxus die kalte Schulter zu zeigen. Er lebt in einer Strohhütte oder in einem einfachen Bungalow. Macht sein Bett selbst. Bedient sich beim Essen eigenhändig.

       Er ist geistig aktiv. Hört klassische Konzerte ebenso wie Pop, beteiligt sich an Diskussionen, frischt sein Französisch auf bzw. lernt es.

       Er ist körperlich aktiv. Spielt Tennis, segelt, taucht, fährt Wasserski, spielt Volleyball, Petanque, Ping-Pong, treibt Gymnastik, Judo und Yoga. Und einiges andere …

       Er ist den „leiblichen“ Genüssen nicht abgeneigt. Isst nach Herzenslust. Hors d’oeuvres schmeicheln Auge und Magen. Der Wein schmeckt ihm.

       Er ist vernünftig beim Geldausgeben. Hat kein Geld bei sich. Nur eine Perlenkette für die Drinks an der Bar. Essen, Wein, Sport (sogar mit Trainer) genießt er, ohne einen Pfennig extra zu bezahlen.«

      „Chérie!“, rief ich mit übertriebener revolutionärer Freude, „das genau ist unser neuer sozialistischer Menschentyp, angekommen im Arbeiterparadies, entbunden von Entfremdung, frei von Fremdbestimmung und monotoner stumpfer Arbeit. So muss der perfekte, kreative, friedliche, nichtgeiernde, unkapitalistische, nichtdeformierte Mensch aussehen! Der Homo méditerranée!“

      Sie sah mich skeptisch an. Ich sah, wie es in ihrem schönen Oberstübchen rasselte und rumpelte. Ihr Gesicht verzog sich ins leicht Ärgerliche. Ich wartete auf irgendwelche blumigen Worte ihres Großen Vorsitzenden. Aber sie schnappte mich nur, um mich zu lieben. Was umgekehrt dann auch der Fall war. In der Liebe waren wir uns immer einig, eine innige Einheit.

      Um Einheit ging es auch im Republikanischen Club bei einem Vortrag von E.A. Rauter. Ich kannte ihn noch aus meiner Schulzeit, als er revolutionärer Weise von unserem Deutschlehrer eingeladen worden war. Das Thema damals, ich glaube es war 1966, hieß: »Wie eine Meinung in einem Kopf entsteht«. Das war inzwischen als Büchlein erschienen und schrieb Geschichte, denn es wurde zu einem Kassenschlager der APO, beschrieb es doch in wunderschöner klarer Sprache, wie und durch wen wir jungen Bundesbürger der täglichen Manipulation ausgesetzt waren.

      Nun also lautete das Thema „Einheit, die ich meine“. Uns interessierte das, weil uns so was wie Einheit irgendwie am Herzen lag. Zum Beispiel die Einheit der Hippie- und Kommune-Bewegung. Die Einheit innerhalb unserer rebellierenden Jugendbewegung; die Einheit von Mann und Frau, von Alt und Jung.

      Anderen, insbesondere vielen Älteren und so manchen Deutsche-Reichs-Träumern, war die Einheit von hüben und drüben das Allerwichtigste, auch dem Damenkränzchen meiner Mutter, deren Freundinnen steif und fest behaupteten, sie seien total unpolitisch. Ihre Unternehmergatten hingegen waren durchwachsene „Alle-sitzen-in-einem-Boot“-Ideologen, und ihnen lag naturgemäß die Einheit von Fabrikherren und Arbeitern am Herzen.

      Rauters Vortrag lag ein Meinungsartikel eines Klaus Blume von BILD zugrunde. Dieser Text trug die Überschrift: „Wollen wir denn nun Herrn Ulbricht zuliebe auch uns spalten?“ Ulbricht war der „Zonen“-Staats­chef, bevor die BILD die „DDR“ in Gänsefüßchen setzte und er sprachlich zum „DDR“-Boss aufstieg. Die fette Unterzeile in BILD lautete: „Teilungsfachmann Ulbricht will uns noch einmal teilen. In die Krupps und in die Krauses. Obwohl es den Krauses bei uns nur gutgeht, weil es all die Krupps, Nordhoffs und Grundigs gibt.“

      Die Namen Krupp und Krause bezogen sich auf eine vom DDR-Fernsehen ausgestrahlte Spielfilm-Serie, die wir in der WG mit großem Interesse verfolgt hatten. Zum Ärger der Wirtschaftsbosse wurde die Serie dann auch noch im Westen populär. Der Name Krupp stand für eines der größten deutschen Industrie- und Rüstungsunternehmen der Vor- und Nachkriegszeit.

      Konzernchef Krupp musste sich 1945 bis 1946 vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg verantworten. Zum Leidwesen von uns Nachgeborenen bekam er lediglich eine kurzjährige Gefängnisstrafe – was nix war im Verhältnis zu den Verbrechen, an denen sein Monopolunternehmen verdient hatte. Aber zur Enteignung hatte sich die amerikanische Schutzmacht nicht entschließen können. Sie hielt bei der Urteilsfindung als maßgebliche Besatzungsmacht ihre gnädige Hand über den Herrn und blockierte eine angemessene Bestrafung.

      Und die Krauses in der Serie, das waren wir, das Fußvolk.

      Gegen Springers verdummendes Skandalblatt BILD („Wenn man sie schräg hält, läuft Blut raus“) richtete sich unser politischer Zorn – spätestens seit dem Mord an Benno Ohnesorg 1967 und dem andauernden Rufmord an Rudi Dutschke, der prompt in einen rechtsradikalen Mordversuch 1968 gemündet hatte. Diesen Meinungsmanipulations-Konzern hatten wir als erstes Umgestaltungsobjekt im Auge – „Enteignet Springer!“.

      BILD als eines der wichtigsten Blätter der westdeutschen Gesellschaft forderte in dem Artikel des Herrn Blume Millionen von Arbeitern auf, darüber nachzudenken, ob sie sich durch Ulbricht von Krupp abspalten lassen wollten. Rauter stellte die Frage: „Welche Einheit von Krupp und den Arbeitern gibt es, die zu erhalten wäre?“

      Während wir seinen Ausführungen lauschten, um sie anschließend – heiß wie immer – zu diskutieren, planten Quiny und Wolle an diesem Abend ihren Hippie-Trail nach Torremolinos. Sie mussten in den verbleibenden Wochen ihre Pässe in Ordnung bringen, die Autobahnen und Landstraßen auf Falk-Plänen studieren und günstige Zwischenstopps einrechnen.

      Sie mussten ihre voraussichtlichen Kosten kalkulieren und erkunden, ob es und wie und wo es Chancen für Zuverdienste vor Ort gab, falls ihnen das Ersparte ausging. Währenddessen legte Wolle eine Platte von The Box Tops auf, aus dem Jahr ihrer ersten flüchtigen Liebelei. Damals, 1967, hatte sich ihre Liebe nicht erfüllt. Aber jetzt mussten sie an diese Rosa-Wolken-Zeit denken, als sie The Letter abspielten: „Give me a ticket for an aeroplane“.

      Gerd war ein Freund von Wolle. Er hatte ihnen in den vergangenen Wochen immer wieder von Torremolinos und der dortigen Hippie-Community vorgeschwärmt. Er war auch in Marokko gewesen. „Ein heißes Pflaster“, hatte er gemeint. „Manch einer brennt dort an und kommt nicht mehr zurück. Aber Torremolinos ist dufte. Da solltet ihr unbedingt hin!“ Gerd war dreiundzwanzig Jahre alt, ein Jahr älter als Wolle und gelegentlich hatte Wolle das Gefühl, dass sein Freund ihm die neue Schönheit an seiner Seite neidete. Aber sie sprachen nicht darüber.

      Quiny war nun die unstrittige Queen an Wolles Seite. Rolf hatte sich inzwischen damit abgefunden. Er hatte erst einmal „die Schnauze voll von den Weibern“, wie er sich auf wenig emanzipierte Weise auszudrücken pflegte.

      Gerd war ein typisches Berliner Kind und schon weit gereist. Als er vor zwei Jahren nach Südspanien trampte, war er hinter der französischen Grenze, nahe des Ortes, wo Salvador Dali lebte, bei einer schwedischen Dreier-Gruppe gelandet, zwei jungen Studenten und einer etwas älteren Frau, Stella, auf die beide einen Anspruch erhoben, dem sie sich auch nicht entzog. Die Drei waren als Hippies unterwegs und sprachen leidlich Deutsch, und wenn das nicht ausreichte, dann Englisch. Als sie das beschauliche Figueres, dieses berühmte Künstler-Städtchen, und Dalis außergewöhnlich bizarres Anwesen bestaunt hatten, fuhren sie weiter über die öden Ebenen von La Mancha.

      In den Bergen war es kalt und als sie Cordoba erreicht hatten, war die Kälte strahlendem Sonnenschein gewichen. Die drei Schweden hielten an, um die Moschee zu besichtigen. Inmitten des beeindruckenden Säulenwaldes sagte Stella zu Gerd: „Das ist mehr vom Islam als du in den islamischen Ländern wie Tunesien, Marokko oder Algerien sehen kannst. Ich war vor einem Jahr in Marrakesch; wunderschön, inspirierend und aufregend, aber nirgends eine Moschee wie diese hier.“

      Dann waren sie weitergefahren, bis sie zu einem Plateau kamen, von wo aus sie bereits das Mittelmeer sehen würden. Als sie ganz weit vorne am Klippenrand standen, erblickten sie die Stadt Malaga, und die Frau rief: „Die hohen Gebäude hinter Malaga, das ist unser Torremolinos.“

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