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empört aus und sah ihre Freundin streng an. »Du hast einen Bruder – Deron! Und Sakine und ich sind praktisch deine Schwestern.«

       Levana strahlte glücklich ihr kindliches Lachen. »Danke, Rya! Du weißt ja, dass meine Mutter und ich alleine im großen Haus leben. Vater hat uns ein kleines Vermögen hinterlassen – es fehlt uns an nichts, doch manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn wir eine richtige Familie wären. Mit vielen Geschwistern, die mich manchmal nerven und die ich herumkommandieren kann«, scherzte Levana mit Wehmut in der Stimme.

       Rya spürte ihren Schmerz und legte tröstend einen Arm um Levanas Schulter.

       »Wir kommen eigentlich ganz gut alleine zu Recht, Mama und ich. Aber weißt du, manchmal wäre es schön, wenn Papa noch da wäre. Ich vermisse ihn.«

       »Levana, du weißt, du bist bei uns jederzeit willkommen. Unser Haus ist auch dein Haus und du weißt doch, dass du nicht fragen brauchst, wenn du etwas möchtest. Wir sind deine Familie. Es ist schön, wenn du mit uns isst, dann fühlt es sich komplett an.«

       »Vor allem, wenn es den berühmten Eintopf deiner Mutter gibt«, schwärmte Levana und leckte sich unterbewusst über die Lippen.

       »Meine Tante war vorgestern bei uns. Sie half meiner Mama bei Spendensammlungen und bei der Erstellung von Flugblättern für Kleidersammlungen. Da hat sie erwähnt, dass alles im Leben einen Sinn habe.«

       Levana schaute erstaunt. »Ist das wahr? Alles hat einen Sinn im Leben? Nichts passiert zufällig?«

       Rya nickte und bestätigte: »Nichts im Leben passiert zufällig!«

       Im nächsten Morgengrauen wachte Rya auf und konnte nicht mehr einschlafen. Sie hatte von einem Pfau geträumt.

       Am späten Nachmittag traf sie ihre beste Freundin Levana, der sie sofort von ihrem Traum erzählte. Levana hörte ihr gespannt zu und versuchte, sich den Pfau vorzustellen.

       So verging der Sommer und Herbst legte sich über das Land. Sanft raschelten die mehrfarbigen Blätter der Bäume im Wind, tanzten mit der kühlen Sturmbrise. Wolken türmten sich zu Schlössern im Himmel auf und etwas Geheimnisvolles lag in der Luft.

       An diesem Tag waren die Vögel verstummt. Sie saßen auf den kahler werdenden Ästen und blickten über die leergefegte Stadt. Die Menschen hatten sich, wie jeden Freitag, in den Moscheen versammelt. Einzig das Gebet des Imams hallte zwischen den Häusern, als Levana und Rya sich bei den Händen nahmen und sich ans Fenster stellten. Levana flüsterte: »Heute ist ein besonderer Tag.«

       Sie hatte den Mund nahe am Ohr ihrer Freundin. Dann drehte sie ihren Kopf mit den ungekämmten, zotteligen Haaren zum Fenster, während Rya sich am einfachen Baumwollhemd zupfte.

       Levana, die gerne kurze Hosen trug, lief am liebsten barfuß herum und hasste es, wenn ihre Mutter sie in Kleider zwängen wollte. Tauschten die Mädchen Geheimnisse aus, redete Levana viel, während Rya eher wortkarg war und es liebte, bunte Röckchen anzuziehen.

       Sie lauschten dem Gebet und genossen den Ruf des Imams, denn dieser war für Rya und Levana der Inbegriff ihrer Religion. Die Stimme gab ihnen Kraft und Vertrauen, sie einte alle Menschen und verbreitete Frieden. Die Gebete aus der Moschee, die ein heiliger Ort war, schienen aufzusteigen und sich in eine riesige, unsichtbare Kugel zu verwandeln. Eine Kugel, die aus den Energien der Gedanken, der Träume und der Wünsche bestand und auf ihrem Weg zu Gott war.

       Auch Mona betete zu Hause. Als sie fertig war kam sie in das Zimmer ihrer Tochter und setzte sich zu den beiden Freundinnen.

       »Mama, warum betest du?«, fragte Levana und dachte interessiert an den geheimnisvollen Teppich, den ihre Mutter dabei verwendete.

       Mona erklärte lächelnd: »Durch das Beten fühle ich mich frei. Das geht anderen Menschen auch so. Egal welchen Gott sie haben, oder welcher Religionsgruppe sie angehören. Die Gebete sind an sich immer gleich. Sie unterscheiden sich nur in der Form des Gebetsrituals.«

       »Also betest du nur, weil du dich dann hinterher frei fühlst, Mama?«

       »Nein, nicht nur! Vor allem bete ich, um Gott nahe zu sein und mich ihm mit Leib und Seele zu unterwerfen. Ich erweise ihm dadurch Respekt. Man sollte im Gebet Allah für alles danken. Es geht nicht darum, dass er jedes Mal unsere Bitten erhört. Im Kern unterscheiden sich die Gebete nicht. Die Religionen haben fast alle einen gemeinsamen Nenner. Nämlich seinen Nächsten zu lieben und dem Anderen keinen Schmerz zuzufügen.«

       Rya und Levana hörten aufmerksam zu. »Doch es gibt Menschen, die böse sind und andere verletzen!«, stellte Rya fragend fest.

       Monas Gesicht wurde traurig, dann seufzte sie und erklärte: »Manche Menschen sind eben intolerant. Es gibt Gebote, die nicht missachtet werden dürfen. Man sollte andere Religionen akzeptieren, respektieren und versuchen, sie zu verstehen.

       Die Zeiten haben sich jedoch geändert, die heiligen Bücher werden missbraucht und als Vorwand benutzt, um Kriege zu führen. Ein guter Moslem, der den Koran wahrhaftig verstanden und verinnerlicht hat, weiß, dass keiner von uns einen anderen verletzen darf. Man darf nur in Notwehr handeln. Es fließt Blut allein schon, weil Menschen nicht dieselbe Glaubensrichtung haben. Kriege werden auf Kosten der Gläubigen geführt, der Moslems. Wisst ihr was? Die perfekte Welt gibt es nicht, weil Menschen nicht perfekt sind.«

       Rya kramte in ihrer lilafarbenen Tasche herum. Dann blickte sie Mona ernst an und fragte: »Und warum hat Allah uns denn nicht perfekt geschaffen?«

       »Eine gute Frage! Vielleicht möchte Allah, dass wir Fehler begehen und daraus lernen«, meinte Mona nachdenklich.

       Rya sah die Erwachsene kritisch an und protestierte: »Ich versteh das nicht! Das macht doch keinen Sinn. Gott hat uns nicht perfekt erschaffen, damit wir Fehler machen? Und dann schickt er uns in die Hölle, um uns für unsere Fehler zu bestrafen? Hätte Gott nicht viel weniger Arbeit, wenn er uns perfekt machen würde?«

       Mona wusste keine Antwort darauf und zuckte ratlos mit den Schultern. »Ich weiß das leider nicht.«

       Die Kinder sahen Mona weiterhin neugierig an. Diese schien einige Sekunden in ihren eigenen Gedanken versunken, ehe sich ihr Blick wieder klärte und sie den Beiden ein schwaches Lächeln schenkte.

       »Nun ist es Zeit für mich, zu gehen, ich habe noch einiges zu tun, meine Lieben.«

       Die beiden Mädchen schwiegen, als Mona das Zimmer verließ. Dann zogen sie sich die Schuhe an und gingen nach draußen, um wieder auf eines der Dächer zu klettern.

       »Levana, sieh dort drüben, der Berg der Versuchung, heute sieht er besonders atemberaubend aus!«, strahlte Rya.

       In der Felswand des Berges war eine Kapelle und auf dem Berggipfel stand ein Kloster.

       »Ich habe gehört, dass der Blick auf die Wüste von dort oben beeindruckend sein soll«, schwärmte Levana zustimmend.

       Vertieft in den Anblick des Berges merkten sie gar nicht, wie ein Junge auf einem Fahrrad unter ihnen auf der Straße hielt und überrascht zu ihnen hochblickte. »Was macht ihr denn da oben? Kommt sofort runter, wenn mein Papa euch sieht, bekommt ihr richtig Ärger«, schrie er ihnen mit voller Stimme zu. Überrascht zuckten die Mädchen zusammen und betrachteten dann den Neuen.

       Der kleine Junge hatte eine zerlöcherte, blaue Stoffhose an und ein blauweiß-kariertes knappes Hemd, das ihm aus der Hose rausgerutscht war. Zwei dichte Brauen zogen sich über seine großen Augen und seine kleine Nase, die gut zu seinem Gesicht passte. Über dem rechten Wangenknochen stach ein kleines Muttermal hervor.

      

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