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unter das Bett.

      Schwer atmend schleppt sich die alte Dame zum Bett hinüber und bückt sich mühevoll, um im Dunkeln nach der Perle zu tasten. Ihr Suchen währt nicht lange, da ertastet sie einen Gegenstand auf den morschen Holzdielen. Als sie ihn hervorzieht, hält sie eine eckige Schachtel aus braunem Eichenholz in den Händen, statt der gesuchten Perle.

      Neugierig richtet sie sich mit dem geborgenen Schatz in den Händen wieder auf und lässt sich auf dem Bett vor sich nieder. Sie erkennt diese Schachtel, hat sie schon einmal gesehen, und Wehmut ergreift sie, während sie vorsichtig mit den Fingern über den Deckel streicht.

      Auch der Pfau scheint dieses Gefühl zu teilen. Ein schmerzerfüllter Schrei durchbricht die gespenstische Stille über der ausgestorbenen Stadt, lässt die Dame überrascht zusammenzucken. Die Schachtel entgleitet ihren Händen und segelt schwer zu Boden, wo sie aufspringt und ihren Inhalt über den Boden verteilt.

      Erschrocken über ihr eigenes Ungeschick bückt sie sich nach einem Dutzend Briefen, einer aus Elfenbein geschnitzten Schachfigur und einer Pfauenfeder.

      Nachdenklich sammelt sie alles zusammen und füllt die Schachtel erneut. Lediglich die Pfauenfeder hält sie einen Moment länger in den Händen, um die Schönheit der grünblauen Farbreflexionen zu bestaunen. Sie wundert sich, ob die Legende des Pfaus tatsächlich der Wahrheit entspricht.

      Ein Gedanke fährt durch ihren Kopf und entsetzt klatscht sie sich die Hand vor den Mund. »Meine Güte, du hattest doch Recht«, entkommt es ihr wispernd, ihre Stimme nicht lauter als eines der Staubkörner, die durch die Luft wirbeln. Erschüttert schüttelt sie den Kopf über ihre Erkenntnis. »Es ist wirklich wahr. Wie konnten wir nur so stur sein und dir keinen Glauben schenken? Wir dachten, du seiest verrückt.«

      Sehnsucht und Schmerz brechen über sie hinein, scheinen die alte Dame in den Wogen ihrer Emotionen zu ertränken. Sie versucht, sich zu beruhigen und die Tränen ihrer Trauer zurückzuhalten – vergebens.

      Ihre Glieder werden von dem Gewicht ihrer Sorgen erschwert, als sie sich erhebt und zum Fenster schlurft. Mit einer hastigen Bewegung stößt sie beide Fensterflügel auf und atmet die feuchte Nachtluft mit langen, gierigen Zügen ein. Der Wind spielt mit den Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst haben, während sie ihren Kopf in den Nacken legt und die Sterne betrachtet. Schadenfreudig funkeln diese am Firmament, nicht minder schön, als am Tag zuvor.

      Schmerzerfüllt wendet sie sich ab, späht zum alten Brunnen, der Bilder aus der Vergangenheit in ihr heraufbeschwört. Greifbar nah, als wäre es erst gestern gewesen.

      »Was wäre gewesen, wenn die Zeit ein weiteres Mal still gestanden wäre? Hätten wir anders gehandelt?«, murmelt sie kraftlos in die Stille hinein.

      »Was wäre, wenn das Gestern nur einen einzigen Tag länger gedauert hätte, einen Atemzug nur – was wäre dann geschehen?« Der alten Dame kommt es vor, als teilte sie ihre Melancholie mit der gesamten Welt.

      Ihre Gedanken werden abrupt unterbrochen, von einem Klopfen an der Tür …

      Kapitel 1

      An einem heißen Sommertag, als die Sonne den Zenit beinahe erreicht hatte, stachen ihre grellen Strahlen auf die Dächer der ältesten und tiefstgelegenen Stadt der Welt ein. Die Palmenoase war an einer wasserreichen Quelle errichtet, an welcher eine uralte Karawanenstraße vorbei führte.

      Die unerträglich trockenen Mittagsstunden kündigten sich gerade an, als zwei junge Frauen hastig durch ihr Elternhaus polterten.

      »Rya, du faules Stück! Wenn du nicht in fünf Minuten unten bist, fahr ich ohne dich los.« Der ermahnende Schrei Sakines hallte durch die offene Eingangstür, die Treppe hinauf, in das Zimmer ihrer jüngeren Schwester. Diese tauschte gerade einige Kleidungsstücke aus ihrem Koffer wieder aus, von denen sie glaubte, sie seien unnötig.

      »Ich bin ja gleich fertig, warte noch einen Augenblick!«, rief Rya den hinaufstampfenden Schritten Sakines entgegen. Schnell schloss sie ihren Koffer und schnappte sich Reiseklamotten aus dem Schrank, sodass der verärgerte Kopf ihrer Schwester, der sich kurz darauf durch den offenen Türspalt schob, sie nicht beim Umpacken erwischen konnte.

      »Du bist langsamer als eine Schildkröte«, zischte Sakine der unschuldig dreinblickenden Rya zu, ehe sie sich wieder zurückzog und auf den Weg nach unten machte.

      »Das habe ich gehört, Schwesterherz!«, empörte sich Rya gespielt, während sie ihre gemütlichen Klamotten gegen die legere Kleidung tauschte. »Weißt du eigentlich, was eine Schildkröte sagt, wenn sie auf einem Kamel sitzt?«, schrie Rya durchs Haus, als sie vor dem Spiegel im Bad stand und sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte. Ihre Schwester, die wohl in der Küche und im Wohnzimmer alles auf seine Richtigkeit überprüfte, gellte wenige Sekunden später:

      »Nein, was sagt sie denn?«

      Rya musste grinsen, denn sie würde Sakine die Pointe des Witzes nicht verraten. »Tut mir leid, Schwesterherz, mein Kopf ist zu langsam, um sich daran zu erinnern. Ich bin wohl echt eine Schildkröte.«

      Ein Seufzen war die Antwort Sakines aus dem Erdgeschoss, die bereits mit fertig gepackten Koffern in der Eingangstür stand. »Dann eben nicht. Ich werde im Auto auf dich warten.« Ihre Worte begleitete ein dumpfes Poltern, mit dem sie ihren Koffer nach draußen schleppte.

      Rya und Sakine wollten zurück in die Stadt fahren, die auf der anderen Seite der Landesgrenze lag. Dort wohnten die Schwestern im Haus ihres verstorbenen Großvaters, denn Ryas Oma brachte es nicht übers Herz, es zu verkaufen, und so konnten Rya und Sakine es während ihrer Studienzeit nutzen.

      Sakine war 23 Jahre alt und somit zwei Jahre älter als ihre Schwester. Sie studierte Kunst, während Rya Politik vorzog, doch momentan hatten sie Semesterferien.

      Noch genau 41 Tage.

      Kritisch blickte Sakine in den Seitenspiegel ihres Autos und zupfte an ihrem länglichen Kinn. Sie war keineswegs eine Schönheit, dennoch hatte es über die vergangenen Jahre einige Avancen junger Männer gegeben, die um ihre Hand gebeten hatten, denn sie war intelligent und selbstbewusst. Sakine jedoch hatte jeden Bewerber abgewiesen. Sie bewunderte einen ihrer Kommilitonen, der jedoch nichts von seinem Glück ahnte.

      Bei diesem Gedanken beschlich ein Lächeln ihre Züge und musste sich eingestehen, dass sie tatsächlich für ihn schwärmte. Immer, wenn sie ihn in der Uni sah, betrachtete Sakine ihn mit rasendem Herzen und bewunderte seine Ausstrahlung, angezogen von seiner schüchternen und doch gleichzeitig maskulinen Art.

      Als sich ihre kleine Schwester schnaufend in den Kieshof schleppte, den schweren Koffer mit einem Arm vor sich hievend, kam Sakine nicht umhin, sie für ihr schönes Gesicht zu bewundern. Die kleine Stupsnase, die dunklen Mandelaugen, aus denen Diamanten ihre Lebensfreude hinausposaunten und ihre gütige, liebenswerte Mimik.

      Nachdem Rya ihr Gepäck im Kofferraum verstaut hatte, setzte sie sich auf den Beifahrersitz und Sakine drückte aufs Gaspedal. Sie entfernten sich gemächlich von ihrem Zuhause, fuhren durch enge Gassen und breite, überfüllte Straßen, auf denen Hupkonzerte stattfanden. Ihr Weg führte sie ins Stadtzentrum und anschließend wieder hinaus. Über baufälligen Asphalt, verunstaltet durch hitzebedingte Schlaglöcher.

      Vorbei an der berühmten Palastanlage ihrer Heimatstadt. Zinnen und Türme, Kuppeln, Pagoden und Spitzdächer ragten zu einem unvergleichlichen Gebilde hinauf, in der Mitte eine Moschee, umgeben von Gärten und Parks.

      Jedes Mal, wenn ihr Weg sie an diesem majestätischen Zeugnis menschlicher Kunst vorbeiführte, hielten die Schwestern für einen Moment die Luft an und bestaunten den Ausblick. Doch ein Atemzug nur, und Sakine musste sich wieder auf den Verkehr konzentrieren, der sie zum Stadtrand führte.

      Als sie die letzten Häuser der Stadt langsam hinter sich ließen, mehrten sich die Mandelbäume an den Straßenrändern, ebenso wie die Hütten der Viehtreiber, die ihre Ziegen und Schafherden über die Wiesen leiteten.

      Sakines Auto holperte über die immer baufälligeren Straßen und die Gegend wurde immer karger, bis

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