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Aus dem Dunkel. Friedrich Lotter
Читать онлайн.Название Aus dem Dunkel
Год выпуска 0
isbn 9783754179819
Автор произведения Friedrich Lotter
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Wir haben auch ein Zimmer an einen nichtjüdischen Geigenlehrer vermietet. Er war entschiedener Antinazi und hat bis zum Sommer 1938 in diesem Zimmer in unserer Wohnung Geigenstunden gegeben. Eines Tages kam er dann zu meinen Eltern und eröffnete ihnen, dass er nicht mehr bei ihnen unterrichten dürfe. Er bat sie um Verständnis, er sei ganz außer sich, aber er hätte große Schwierigkeiten, die Schüler durften nicht mehr kommen. Bis dahin konnte auch die Klavierlehrerin noch in unser Haus zum Unterricht kommen, auch das war nun nicht mehr möglich. Auch sie musste uns absagen, es tat ihr schrecklich leid.
Mein Vater gehörte dem Vorstand der jüdischen Gemeinde an. Daneben war er auch in der Hardenberg-Loge tätig. Dies war eine jüdische Loge, die nach dem Verbot der anderen Logen noch fortbestand. Sie befand sich in einem schönen Gartenhaus am Wilhelmsplatz. Wir hatten dort auch unsere Heimabende von den "Werkleuten". Wir haben dort einen Chor gehabt und viel Musik gemacht. Während der Versammlungen kam mitunter ein SA-Mann und kontrollierte. Wir waren jedoch informiert, worüber wir dann zu sprechen hatten, und was wir zu singen hatten. Das Thema wurde sofort gewechselt.
Wir sind schon als junge Mädchen zu den "Werkleuten" gegangen, die aus den "Kameraden" hervorgegangen waren. Mein Bruder, der drei Jahre älter war, gehörte schon lange dazu. Die "Kameraden" waren noch in keiner Weise zionistisch ausgerichtet, sie standen dem Wandervogel nahe, veranstalteten Heimabende, hatten Lager, sangen Landsknechtslieder wie die andern deutschen Bünde. Der Wandervogel wurde jedoch zunehmend antisemitisch. Daher waren rein jüdische Wanderbünde gegründet worden. Die "Werkleute" waren bereits zionistisch ausgerichtet, Martin Buber hat sie stark beeinflusst. Sie sorgten auf die bestmögliche Weise für die Stärkung unseres Selbstbewusstseins. Wir pilgerten sonntags hinaus zu einer Wiese im Eichwald, hielten Völkerballturniere ab, sangen Landsknechts- und hebräische Pionierlieder durcheinander, saßen im Kreise auf dem Gras, im Schneidersitz, diskutierten über die Weltprobleme, den Chassidismus und die Kibbuz-Bewegung. Wenn wir durch die Wälder radelten, immer auf der Hut, zu zweit oder zu dritt, um nicht Aufmerksamkeit zu erregen, träumten wir von der judäischen Wüste, den Bergen Galiläas und der wunderbaren Freiheit, die uns dort erwartete. Wir fühlten uns inzwischen als Fremde in dem Land unserer Geburt, das so sehr darauf aus war, uns loszuwerden.
Gleichzeitig mit den wachsenden Einschränkungen und Schikanen der Nazi-Zeit intensivierte sich das kulturelle Leben. Da zahllose jüdische Künstler entlassen waren und sozusagen auf der Straße lagen, konnten sie nur noch im eigenen Rahmen wirken. So erschienen jetzt in unserer Provinzstadt angesehene Musiker, Schauspieler und Schriftsteller, um im Saal der Hardenberg-Loge, und nach der Beschlagnahme dieses schönen Hauses in dem nüchternen Gemeindesaal über der Synagoge ihre Kunst darzubieten. Alle wurden in unserm Haus empfangen, dort wurde musiziert, rezitiert, diskutiert, und so konnte man immer etwas Neues hören und erleben. Meine Eltern führten ein offenes Haus, es gab viel Geselligkeit. Hausmusik wurde veranstaltet, meine Mutter hat gesungen. Ich wurde als unentbehrliche Notenumblätterin in diesen Kreis hineingezogen und hatte meinen Anteil an dem Applaus für die Klaviervirtuosen. Wesentlicher war allerdings der Beitrag meines Bruders, der sich als Begleiter, Solopianist und sogar als Komponist hervortat. Sein erster größerer Auftritt erfolgte bei den Kinderszenen von Schumann, diesen Tondichtungen von den Freuden und Leiden, Ängsten, Grübeleien und Träumen einer heilen Kindheit. Eben der, die unsere Eltern für uns geplant hatten, bevor ein böser, mächtigerer Wille eingriff.
Aus dem Sprechzimmer meines Vaters hörte man immer seltener Babygeschrei, manchmal verstummte es für ganze Stunden, besonders, wenn der SA-Mann auf der Straße patrouillierte und jeden, der mit einem Kind ins Haus trat, nach Namen und Anliegen fragte. Die wenigen, die der ruhigen Autorität meines Vaters zuletzt noch die Treue hielten, kamen oft erst nach Anbruch der Dunkelheit oder baten ihn telefonisch um einen abendlichen und nächtlichen Besuch. Meine Mutter, von Jugend auf zionistisch orientiert, drängte auf Auswanderung nach Palästina. Mein Vater pflegte auf schlimme Geschichten stets mit dem Ausspruch zu reagieren: "Das glaube ich nicht!"- In der Emigration - und die Alijah, der "Aufstieg" ins Land Israel war für ihn nichts anderes - sah er nichts als ein Kapitulieren, ein fatales Akzeptieren des Sieges des Bösen über das Gute. Seine Gäste führte er nach wie vor in die alten Frankfurter Messehäuser, zum Geburtshaus von Heinrich von Kleist, zeigte ihnen das Kunersdorfer Schlachtfeld oder den exotischen Baum, Gingko biloba, den er in den Anlagen entdeckt hatte, und deklamierte dazu das Gedicht, das Goethe einst bei der Betrachtung eines Baumes dieser Art in Heidelberger Schlosshof niedergeschrieben hatte.
Doch war meine Kindheit keine glückliche. Nicht wegen des sich immer mehr verfinsternden Himmels, denn was wusste ich schon von dem Grauen, das in der Zukunft wartete, sondern weil über ihr die große, schwarze Wolke des Abschieds lag. Mein Vater hatte beschlossen, nicht auszuwandern. Andere, viele nahe Verwandte und Freunde, entschieden sich anders. Häuser, in die wir gewohnt waren einzutreten, wurden zu abweisenden Fassaden. Um den Weggezogenen in ihre neuen Wohnorte zu folgen, mussten wir, neben der Palästina-Karte, Knaurs großen Weltatlas zu Rate ziehen. Oft bedurfte es der Wanderung über mehrere Länder, um die verstreuten Mitglieder einer bis vor kurzem noch glücklich vereinten Familie aufzufinden.
Hirschbergs waren die ersten, die weggingen, schon 1933, ohne zu zögern. Onkel Josef und Tante Else, wie wir sie nannten, waren die besten Freunde unserer Eltern gewesen. Onkel Josef besaß ein Riesengrundstück mit Garten, Wiese und Wald am Rande der Stadt, ein Paradies unserer Kindheit, bald ein verlorenes Paradies. Damals war Traudchen Lapidas noch da, die unzertrennliche Gefährtin meiner frühen Kindheit, die Tochter des Kultusbeamten der jüdischen Gemeinde. Unter seinen verschiedenen Ämtern und Pflichten fiel ihm auch die Aufgabe zu, an den hohen Feiertagen den Schofar, das uralte Widderhorn, zu blasen. In den letzten Monaten vor ihrer Abreise waren wir sehr aktiv. Ich schrieb Geschichten, sie illustrierte sie und band sie ein, und dann verkauften wir sie für teures Geld an wohlmeinende Bekannte, eine Mark oder 1,50 pro Buch. Dann ging sie mit ihren Eltern nach Palästina, und ich schloss mich für eine Woche in mein Zimmer ein und war für niemanden zu sprechen.
In den ersten Jahren predigte unser Rabbiner, Ignaz Maybaum, der angesehene und autoritäre Seelsorger unserer Gemeinde, noch gegen die Kleingläubigen, die nicht standhalten wollten. Eines Tages verschwand aber auch er, zunächst nur ins Gefängnis, und wir mussten uns für seinen kleinen Sohn Mischa alle möglichen Ablenkungen ausdenken, damit er nicht zu oft nach seinem Vater fragte. Irgendwann packte auch er seine Siebensachen, nahm seine Frau, den krausköpfigen Mischa und das Baby, und suchte das Weite.
Im Laufe der Zeit wurde es eine Gewohnheit, auf den Bahnhof zu gehen, wenn jemand abfuhr. Wir winkten, bis der Zug außer Sicht war, dann gingen wir nach Hause und brüteten. In den letzten zwei Frankfurter Jahren, 1937/38, hatten alle unsere großen Brüder und Schwestern von den "Werkleuten" die Stadt verlassen. Wir elf- bis dreizehnjährigen Jungen und Mädchen versuchten, unsere Verwaistheit mit gesteigerter Aktivität zu verdrängen. Führerlos zurückgeblieben mussten wir uns nun selbst führen, auch nach außen hin. In bestimmten Abständen musste ich mich als kleines Mädchen mit Pony und Stupsnase, doch "Ortsgruppenleiterin der Werkleute", bei der Kriminalpolizei melden. Das war immer ein allgemeines Gaudium, und keiner von den jovialen Beamten sprach anders mit mir als mit amüsiertem Augenzwinkern.
Anders war es bei der Gestapo, wohin ich einmal, mitten aus der Geschichtsstunde heraus, abgeholt wurde - zum Entsetzen meiner Mitschülerinnen. Man brachte mich in einen großen kahlen Raum. Dort traf ich eine Reihe