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Aus dem Dunkel. Friedrich Lotter
Читать онлайн.Название Aus dem Dunkel
Год выпуска 0
isbn 9783754179819
Автор произведения Friedrich Lotter
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Wir fuhren hinunter nach Rumänien und sollten von dort per Schiff in die Türkei weiterreisen. Da ich in Konstantinopel einen Verwandten hatte, wollte ich mich erkundigen, ob ich telefonieren könne. Plötzlich stand wieder der Kommissar vor mir. Er hatte das Schiff gar nicht verlassen, sondern war mit uns gefahren und hatte in der Kapitänskajüte übernachtet. Er gab mir etwas englisches Geld und meinte, es sei nicht ganz recht gewesen, dass er mir das Geld weggenommen habe. Schließlich würden wir noch viele Wochen unterwegs sein. Er gab mir auch eine Karte mit einer Briefmarke. Von Palästina aus sollte ich ihm schreiben. Er wollte überprüfen, ob der Dampfer angekommen ist. Es war ein sehr altes Schiff, ein früherer Pferdedampfer.
In Rumänien verließ uns der Kommissar also endgültig. Wir waren noch zwei Monate unterwegs, bis wir endlich in Palästina ankamen. In Frankfurt waren bei unserer Abreise noch etwa zwanzig jüdische Familien zurückgeblieben.
Rauch und splitterndes Glas. Curtis Cassell
Interview mit Rabbi Curtis Cassell am 21.6.1996 in London ; sowie C. Cassell , Die Liste : Erinnerungen an die Pogromnacht in Frankfurt .
Mein Abitur habe ich in Oppeln abgelegt, dann drei Semester in Breslau studiert und mein Studium in Berlin an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums fortgesetzt. Meine Lehrer waren hier Leo Baeck und Ismar Elbogen, dessen Tochter an seiner Vorlesung teilnahm. 1936 traf ich eines schönen Tages auf dem Weg zum Bahnhof Dr. Ignaz Maybaum. Der fragte mich, ob ich sein Nachfolger als Rabbiner in Frankfurt/Oder werden wollte. Maybaum war damals gerade zum ersten Gemeinderabbiner von Berlin berufen worden. Er war ein großer Wissenschaftler, aber auch ein Querkopf: Zunächst Zionist, dann entschiedener Antizionist, als der Zionismus modern wurde.
Das Angebot Maybaums nahm ich nach Rücksprache mit meinen Professoren an. Ich musste jedoch zunächst noch fast täglich von Frankfurt nach Berlin fahren, um das Studium abzu-schließen. Die jüdische Gemeinde in Frankfurt war sehr geschlossen. Vom Antisemitismus habe ich dort zunächst nicht allzu viel gespürt, doch hatte ich auch wenig Kontakt mit Nichtjuden. Allerdings gab es schon vor der Kristallnacht 1938 einige antisemitische Vorfälle. Darunter eine Vorladung zur Gestapo, als ich 1938 aus dem Urlaub von Prag zurückkehrte. Eingehend befragte man mich nach den Gründen meines Besuchs in Prag, und dann forderte mich der vernehmende Beamte auf, ihm eine Liste sämtlicher Juden des Regierungsbezirks auszuhändigen. Den Zweck dieser Liste fand ich erst später heraus, durch die Ereignisse der „Kristallnacht“.
Am 28. Oktober 1938 wurden 17000 Juden polnischer Herkunft in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus Deutschland deportiert, wobei sie all ihren Besitz verloren. Da Polen sie nicht hereinließ, irrten sie unter unsäglichen Bedingungen im deutsch-polnischen Grenzgebiet umher. Damals bat mich die Zentralstelle der Reichsvertretung deutscher Juden, nach Bentschen an die Grenze zu fahren, um Hilfe für die gestrandeten Juden zu organisieren. Doch als ich in Bentschen ankam, wurde ich sofort von der Gestapo verhaftet und mit dem nächsten Zug nach Frankfurt zurückgeschickt. Am 7. November erschoss Herschel Grünszpan, dessen Eltern zu den Ausgewiesenen gehörten, den Angestellten von Rath der Pariser Botschaft. Dies wurde zum Anlass der „Kristallnacht“ und der Ereignisse des 9. November 1938 genommen.
Dieser Tag war auch mein Geburtstag. Meine Schwiegereltern aus Berlin waren zu Besuch gekommen, und ich begleitete sie abends zum Bahnhof. Dabei fielen mir schon zahlreiche Polizisten auf, die sich dort aufhielten. Später gingen wir schlafen, wurden jedoch bald vom Geräusch zerschlagenen Glases und Brandgeruch geweckt. Die Synagoge brannte. Fenster und Schaufenster der Geschäfte wurden eingeworfen. Noch heute leidet meine Frau unter dem Schock dieser schrecklichen Nacht, wenn sie das Geräusch splitternden Glases hört. Wir riefen den befreundeten Rechtsanwalt Leo Nehab an, der in der gleichen Straße wohnte. Wir fürchteten, dass man auch unser Haus nicht verschonen würde, da es ja der Synagoge angeschlossen war. Nehab forderte uns auf, sofort zu ihm zu kommen.
Die Synagoge hatte zwei Ausgänge, den Haupteingang in der Richtstraße, einen Nebenausgang in der Wollenweberstraße. Dass die Gestapo uns am Haupteingang erwartete, wussten wir nicht. Glücklicherweise verließen wir das Haus durch den Nebenausgang und entgingen so der Verhaftung. Ungefähr um elf Uhr abends waren wir sicher in der Wohnung unseres Freundes. Um vier Uhr früh klingelte es dort an der Tür. Es war die Gestapo, die Nehab verhaftete. Ich konnte mich mit meiner Frau unter dem Schreibtisch verstecken. Es war uns klar, dass wir Frankfurt schleunigst verlassen müssten. Da der Bahnhof, wie ich am Abend gesehen hatte, von Polizei bewacht wurde, gingen wir zu Fuß zur nächsten Bahnstation und bestiegen dort den Zug, der uns zu den Schwiegereltern nach Berlin führte. Am übernächsten Tag erschien die Gestapo auch hier und verhaftete meinen Schwiegervater. Ich stand neben ihm, doch mir passierte nichts, denn ich stand nicht auf ihrer Liste.
Die Beamten gingen mit preußischer Gründlichkeit vor, verhaftet wurde nur, wer auf der Liste stand. Erst später wurde mir bewusst, dass auch die Gestapo in Frankfurt die Verhaftungen nach einer solchen Liste vornahm, eben der Liste, die ich für sie im Sommer 1938 hatte anfertigen müssen. Tatsächlich sah ich meine Liste bei einem der Verhöre nach der Kristallnacht bei der Gestapo auf dem Schreibtisch liegen. Da wurde mir klar, dass die Aktion schon lange vorbereitet worden war und wenig mit von Raths Tod zu tun hatte, der nur als Vorwand diente.
Mein Schwiegervater, Werner Mosse, wurde mit vielen anderen in das Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht, wo er mehrere Wochen blieb. Als er entlassen wurde, war sein Gesundheitszustand äußerst schlecht. Er war im ersten Weltkrieg Stabsarzt gewesen und hatte immer geglaubt, dass die Berichte über deutsche Untaten in Belgien und anderswo Gräuelmärchen sein mussten. Nun war er eines anderen belehrt. Inzwischen war meine Frau nach Frankfurt zurückgefahren, um nach der Wohnung zu sehen. Sie fand sie versiegelt vor. Um die Siegel entfernen zu lassen, musste sie bei der Gestapo vorsprechen. Dort sagte man ihr, ich solle sofort nach Frankfurt zurückkehren. Als ich dort ankam, war die „Aktion“ vorüber. Ich wurde nicht verhaftet, doch unter Hausarrest gestellt. So aber konnte ich meine Gemeinde nicht betreuen, obwohl die Frauen besonderen Beistand benötigten, da ihre Männer verhaftet waren. Als ich mich darüber bei der Gestapo beschwerte, wurde der Hausarrest aufgehoben. Übrigens kam nach der „Kristallnacht“ ein protestantischer Geistlicher zu mir, um mir sein Mitgefühl auszudrücken.
Das Innere der Synagoge war zum großen Teil demoliert, die Orgel völlig zerstört. Die Orgelpfeifen waren beschlagnahmt worden, da sie aus Blei waren. Aus meiner Wohnung war eine neue Reiseschreibmaschine verschwunden. Bei einem weiteren Verhör bat ich die Gestapo um eine entsprechende Bescheinigung, da ich auswandern wollte und diese für die Behörden benötigte. Daraufhin erhielt ich die Schreibmaschine zurück, denn sie sei nicht rechtmäßig entfernt worden. Die Gestapo trug mir auf, weiterhin Gottesdienste abzuhalten, denn es sollte so aussehen, als ob weiter nichts geschehen sei.
Neben den Gottesdiensten begann ich für die wenigen jüdischen Schüler, die noch in Frankfurt verblieben und nun aus den allgemeinen Schulen herausgeworfen worden waren, Schulunterricht zu organisieren. Die Frauen der